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Wir setzen uns für minderjährige Flüchtlinge ein

In Medienberichten und auch im allgemeinen Wortschatz wird immer von „den Flüchtlingen“ geredet. Doch mit dieser Formulierung macht man sich vieles zu einfach, denn dahinter stehen Menschen. Menschen, die ihre Heimat nicht freiwillig verlassen wollten und meist monatelang ein Martyrium miterleben mussten. Darunter sind auch Kinder und Jugendliche. Wir kümmern uns speziell um diese jungen Mädchen. Wir geben ihnen ein Zuhause, helfen ihnen, sich im deutschen Alltag zurechtzufinden, bei ihrem Schulabschluss und dem Aufbau einer eigenen Zukunft.

Der Weg der jungen Menschen in Deutschland

Alle eingereisten, unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlinge werden irgendwo in Deutschland vorstellig. Die Kinder und Jugendlichen werden in Ersteinrichtungen untergebracht, wo sie das Clearingverfahren (Aufnahme, Erstinterview, Altersfeststellung) durchlaufen. Durch das Bundesamt werden sie einem Kreis zugewiesen, in dem sie leben müssen bis das Asylverfahren abgeschlossen ist bzw. die Wohnsitznahme in dem zugewiesenen Kreis aufgehoben wird.

Die Mädchen haben auf der Flucht Schreckliches erlebt

Die Jugendlichen müssen mit dem Verlust der Familie und ihrer Kultur leben. Auf der Flucht können ihnen verschiedene Dinge zustoßen: sexueller Missbrauch, Prostitution, körperliche Gewalt, Verletzungen, Mangelernährung, andere körperliche Erkrankungen und Traumatisierungen.

Vertrauen aufbauen ist ein langwieriger und manchmal leider auch scheiternder Prozess

Keines der Mädchen spricht anfangs deutsch und auch nur selten englisch oder französisch. Sie sind häufig sehr verängstigt und misstrauisch. Es braucht Zeit, um Vertrauen und Sicherheit aufzubauen. Über ihre Fluchterlebnisse können sie oft lange Zeit nicht sprechen. Je nach Persönlichkeit und Aufenthaltsdauer bei uns, bauen einige Vertrauen zu uns auf, sodass wir auf ihre Probleme eingehen können.

Andere brechen die Jugendhilfemaßnahme aber auch mit Erreichen der Volljährigkeit ab oder wollen keine psychiatrische Behandlung. Das liegt oft am kulturellen Hintergrund. Denn psychische Erkrankungen werden von den Mädchen mit „verrückt sein“ gleichgesetzt und eine Therapie daher abgelehnt. In Einzelfällen konnten wir einige Mädchen jedoch nach dem Erwerb eines gewissen Grundwortschatzes in eine Therapie bei ortsansässigen Therapeuten vermitteln.

Der Weg zu uns

Alle unsere Mädchen kommen aus den Clearinggruppen in Gießen und Frankfurt. Nach zwei bis fünf Monaten in diesen Gruppen kommen sie in Jugendhilfeeinrichtungen wie unsere. Dazu melden wir freie Plätze an das örtliche Jugendamt und an die Heimplatzbörse der Clearingstelle. Dort wird dann entschieden, welche Mädchen zur Verlegung anstehen und in welche Gruppe sie gut integriert werden können. Hier wird darauf geachtet, dass die Mädchen auch zueinander passen. Es wird auf das Alter, das Herkunftsland und die Bedürfnisse Rücksicht genommen.

Unsere Wohngruppe

Wir bieten zehn Plätze für unbegleitete, weibliche, minderjährige Flüchtlinge im Alter von 12 bis 19 Jah_C1A0356-umf-spielen-4-klein [1]ren an. Nach ihrem 18. Geburtstag können sie eine Verlängerung beantragen, um in der Gruppe oder im betreuten Wohnen von uns weiter betreut zu werden.

Zurzeit leben bei uns Jugendliche aus Somalia, Eritrea und Äthiopien im Alter von 16 bis 19 Jahren. Sie werden Tag und Nacht von fünf pädagogischen Fachkräften und einer eritreischen Muttersprachlerin betreut. Eine Hauswirtschaftskraft steht ebenfalls zur Verfügung.

Die jungen Frauen wohnen in einem angemieteten frei stehenden Wohnhaus. Zu den Wohnbereichen gehören 12 Einzelzimmer, teilweise mit eigenem Badezimmer, zwei Küchen, Wohnzimmer, Esszimmer und drei Sanitärbereiche. Die Gruppe verfügt außerdem über einen eigenen Gruppenbus.

Eine reine Mädchengruppe

Wir haben die Gruppe bewusst von Anfang an als reine Mädchengruppe geplant. Viele der Mädchen brauchen aufgrund ihrer Erlebnisse einen geschützten Raum. Sei es wegen Verschleppung, Prostitution, sexueller Gewalterfahrung oder Zwangsheirat. Außerdem betreuen wir auch Muslima, die sich in diesem Raum frei bewegen können. Eine Jungengruppe haben wir nicht, wohl aber zwei eritreische Jungen, die in einer Nachbargruppe untergebracht sind. Kontakte und gegenseitige Besuche sind jederzeit möglich.

Rund-um-die-Uhr-Betreuung

Aufgrund der mangelnden Sprachkenntnisse müssen wir die Mädchen auf allen Wegen begleiten. Die Rund-um-die-Uhr-Betreuung ist notwendig und hat sich bewährt. Sie gibt den Mädchen Sicherheit im Alltag. Viele Dinge erlernen sie ganz neu. Vieles müssen wir ihnen erklären, aufmalen und vormachen, weil die Sprachbarriere lange Zeit vorhanden ist. Das kostet natürlich Zeit und Energie.

Ein fast normaler Alltag

Die Mädchen besuchen die ortsansässigen Schulen. Nach dem Erlernen der deutschen Sprache versuchen wir sie so weit zu unterstützen, dass sie einen Schulabschluss machen und eine Ausbildungsstelle erhalten. Am Nachmittag ist Hausaufgabenzeit. Dann gibt es Arzttermine, zu denen wir sie begleiten, Termine mit Rechtsbeiständen bezüglich ihrer Asylverfahren, Nachhilfe und natürlich Freizeit. Am Wochenende bieten wir verschiedene Freizeitaktivitäten an. Dann geht es ins _C1A0375-umf-spielen-2-klein [2]Kino, zum Bowling oder zum Schwimmen. Wir organisieren Schwimmkurse und unsere Geburtstags- und „House-“partys sind unübertroffen. Wir essen zusammen und am Wochenende kochen wir gemeinsam. Einmal jährlich gibt es außerdem noch eine Gruppenfreizeit. Wir zeigen den Mädchen die deutsche Kultur, bieten Sprachförderung an und arbeiten mit ihnen ihre Fluchttrauma, Gewalterfahrung und Trennung auf. Ziel unserer Arbeit ist die Verselbstständigung und der Umzug in eine eigene Wohnung mit einer Nachbetreuung bis zur endgültigen Entlassung.

Schulpflicht, natürlich auch für unsere Mädchen

Die Integration in der Schule ist für die jüngeren Mädchen bis 16 Jahren meist unproblematisch, da sie, wie deutsche Kinder auch, ein Recht auf Bildung haben. Schwieriger ist es mit den 17-jährigen oder Älteren und Mädchen, die keine Schulbildung haben. Bisher konnten wir diese in einem Ausbildungsverbund angliedern oder in eine der Eibe-Klassen (Eingliederung in die Berufs- und Arbeitswelt) beschulen lassen. Diese werden aber mit Beginn des neuen Schuljahres abgeschafft.

Das Eibe-Programm, das Schülern den Einstieg in die Berufs- und Arbeitswelt erleichtern soll, wird durch die Bildungsgänge PuSch (Praktikum und Schule) und InteA (Integration und Abschluss) ersetzt. Während PuSch für Jugendliche ohne Hauptschulabschluss gedacht ist, richtet sich InteA an Flüchtlinge, Spätaussiedler und Zuwanderer, bei denen die Sprachförderung eine große Rolle spielt. Schon jetzt zeichnen sich in einigen Städten große Probleme ab, allen Jugendlichen einen solchen Schulplatz zu ermöglichen. Zum einen gibt es nicht genügend Plätze und zum anderen fehlen die Fachlehrer.

Ein intensives Zusammenleben mit viel Herzlichkeit und Nähe

Es macht viel Freude zu sehen und zu erleben, wie unsere Mädchen lernen, sich frei zu fühlen. Zu sehen, wie sie die Sprache lernen und ihre Erfolge mitzuerleben, zum Beispiel, dass einige den Schulabschluss in so kurzer Zeit erlangen können, Ausbildungsplätze erhalten und sogar studieren können. Es ist eine abwechslungsreiche Arbeit und wir können täglich Fortschritte beobachten. Die Arbeit mit den Mädchen ist ein intensives Zusammenleben mit viel Herzlichkeit und Nähe.

Sehr positiv in dieser Arbeit sehe ich auch die hessenweite Vernetzung aller hessischen Einrichtungen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in unserem Arbeitskreis. Ich bin unserem Sprecher Henning Wienefeld sehr dankbar für sein Engagement. Hier können wir uns austauschen, werden ständig über Neuigkeiten und Fortbildungen informiert, lernen voneinander und miteinander.

Stark machen gegen rechtsradikale Tendenzen

Traurig macht mich die politische Lage in Deutschland und die rechtsradikalen Tendenzen in all ihren Auswüchsen. Auch darauf müssen wir unsere Mädels vorbereiten und sie stark machen. Sie werden viel extremer angeschaut und abgeschätzt als ihre Schulkameraden oder ihre Freunde ohne Migrationshintergrund. Ganz aktuell mussten wir in unserer letzten Gruppenfreizeit einen Angriff gegen uns Betreuerinnen und die Mädchen erfahren, der ihnen viel Angst einflößte und unsere Freizeit ein wenig überschattete. Nichtsdestotrotz hatten wir einen sehr schönen Urlaub, viel Spaß, super Wetter und sind gesund und erholt wieder zu Hause angekommen.

Jeden Tag wieder eine positive Herausforderung

 In unserer Arbeit brauchen wir sehr viel Geduld. Allein durch die sprachliche Barriere und die unterschiedliche Herkunft müssen wir vieles wiederholt erklären, manchmal auch mit Händen und Füßen. Zudem müssen wir uns neben dem Alltag auch immer wieder mit Gesetzesänderungen befassen und Kontakt zu Schulen, Rechtsanwälten, Sozialarbeitern und Vormündern halten.

Da wir in einer reinen Mädchengruppe arbeiten, entstehen natürlich auch mal Neid und Missgunst zwischen den Mädels. Sie vergleichen sich mit den anderen, können oftmals die unterschiedlichen Bescheide des Bundesamtes nicht verstehen und haben dann das Gefühl, zu kurz zu kommen. Es gibt hin und wieder auch mal Streitereien, Missverständnisse und die ganz normalen pubertären Vorfälle, die der Alltag so mit sich bringt.

Auch einige unserer Ehemaligen brauchen uns ab und an noch, wenn sie keine Angehörigen haben. Es entstehen manchmal über Jahre hinweg enge Beziehungen zu den jungen Menschen. Sie lassen uns an ihren Fortschritten und Entwicklungen und auch an ihrer eigenen Familie, an ihrem neuen Leben teilhaben.