Erkrankungsrisiken und Behandlung: Welche Warnsignale gibt es und wie sehen Therapie und Nachsorge aus?
Wer an einer Essstörung erkrankt, führt einen Kampf gegen den eigenen Körper, der schleichend beginnt und anfangs häufig unbemerkt bleibt. Gibt es frühe Anzeichen und wie deutet man sie richtig? Wer ist besonders gefährdet zu erkrankten? Wie sieht die Behandlung aus? Und wie können sich die Betroffenen langfristig stabilisieren? – Das erfahren Sie in diesem Beitrag.
Es beginnt zumeist schleichend. Manchmal fängt es mit einer körperlichen Erkrankung an, einem Magen-Darm-Virus zum Beispiel. Oder mit der bewussten Entscheidung, mit einer Diät ein paar Kilogramm abzunehmen. Der Gewichtsverlust wird von den Betroffenen als positiv erlebt, auch weil sie aus ihrem Umfeld Bestätigung erhalten. Sie versuchen dann, noch schlanker zu werden. Bis die Gewichtsabnahme außer Kontrolle gerät, die Gedanken nur noch ums Essen kreisen – und darum, wie man es vermeiden kann.
So oder ähnlich kann der Beginn einer Magersucht (Anorexia nervosa) aussehen. Sie gehört zu den Essstörungen, genau wie die Bulimie (Ess-Brech-Sucht) oder die Binge-Eating-Störung, bei der die Betroffenen unter exzessiven, wiederkehrenden Essanfällen leiden. Essstörungen sind recht weit verbreitet. Laut Robert-Koch-Institut liegen bei rund einem Fünftel der Kinder und Jugendlichen zwischen 11 und 17 Jahren Hinweise auf ein gestörtes Essverhalten vor1. In den Vitos Kliniken sind im vergangenen Jahr rund 440 Kinder, Jugendliche und Erwachsene behandelt worden, die an einer Essstörung erkrankt waren.
Warum entwickeln junge Menschen eine Essstörung?
Auf Instagram und anderen Social-Media-Kanälen wird das Ideal eines schlanken Körpers vermittelt, dem junge Menschen nacheifern. Aber: „Zu behaupten, dass soziale Medien ursächlich verantwortlich sind für die Zunahme von Essstörungen, wäre viel zu einfach“, sagt Dr. Dietmar Eglinsky, Klinikdirektor der Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Kassel. Es seien zahlreiche Faktoren, die die Erkrankungen begünstigten. Der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie spricht vom „bio-psycho-sozialen Krankheitsmodell“. Demnach spielen genetische Faktoren ebenso eine Rolle wie die Persönlichkeit, das soziale Umfeld und psychologische Aspekte wie der Umgang mit Stressoren.
Kinder und Jugendliche, die an Anorexie erkranken, seien oft sehr leistungsorientiert, zielstrebig und intelligent, sagt der Klinikchef. Bei der Entstehung einer Essstörung spielt auch eine Rolle, wie in der Familie mit dem Thema Essen umgegangen wird: Welche Bedeutung haben Lebensmittel generell in der Familie? Zählen Mutter oder Vater Kalorien? Essen sie zu viel?
Mädchen und Frauen seien zudem massiv mit den Themen Essen und Körperlichkeit konfrontiert, so Dr. Eglinsky. Aber auch Jungs und Männer seien zunehmend mit idealisierten Körperbildern konfrontiert. Der Einfluss von Social Media oder Fernsehen könne verstärkend wirken.
Welche Rolle spielt die Familie?
Für den Klinikdirektor ist klar: „Eine Essstörung ist keine Erkrankung des Individuums, sondern der gesamten Familie. Und sie hat auch den Schlüssel in der Hand, um aus der Erkrankung raus zu kommen.“ Zunächst müssten die Eltern die Essstörung als solche erst einmal wahrnehmen. Während das Umfeld eines betroffenen jungen Menschen bereits in größter Sorge ist, seien Eltern bisweilen völlig ahnungslos. Dr. Eglinsky rät: Wenn Freunde, Verwandte, Lehrer/-innen oder Trainer/-innen den Verdacht haben, dass ein Kind möglicherweise eine Essstörung entwickelt, sollten sie die Eltern unbedingt ansprechen. „Und sie sollten dranbleiben, auch wenn die betroffenen Kinder ihren Eltern zu vermitteln versuchen, dass alles gar nicht so schlimm ist.“ Das erste Gespräch bei einem erfahrenen Therapeuten werde den Eltern dann schnell die Augen öffnen und sie mit den Tricks des „Anorexie-Monsters“, wie Eglinsky es nennt, vertraut machen: Die Kinder und Jugendlichen essen gern allein, sie kochen für andere, lassen Essen verschwinden, gerne auch im Bauch des Familienhundes. Wenn dann schließlich Eltern und Therapeut/-in ein stabiles Bündnis herstellen können, sind die gefürchteten Zwangsmaßnahmen, wie beispielsweise die Ernährung über eine Sonde (Sondierung) nur selten erforderlich.
Gemeinsam gegen das Anorexie-Monster
Wenn die Patientinnen und Patienten stationär aufgenommen werden, sind sie manchmal so ausgezehrt und untergewichtig, dass der Kreislauf nur noch eingeschränkt arbeitet. Zunächst gilt es deshalb, die Patient/-innen körperlich zu stabilisieren. Und wie geht das? – „Die Energiezufuhr muss immer höher sein als der Verbrauch“, so Dr. Eglinsky. Hier zahlt sich die Qualifizierung und Erfahrung eines guten Behandlungsteams aus. „Es sind nicht die angedrohten Konsequenzen, die zur Heilung beitragen, sondern die Eindeutigkeit in der therapeutischen Haltung und der gegebenen Struktur.“ Den Patient/-innen werde von Anfang an deutlich gemacht, dass man nicht gegen sie arbeite, sondern sich mit ihnen verbünde gegen das „Anorexie-Monster“. Ziel der Behandlung sei eine Normalisierung des Essverhaltens. Eine Zunahme von 500 bis 1000 Gramm pro Woche wird in der Klinik angestrebt, die Mahlzeiten werden eng begleitet. Im weiteren Verlauf werden individuelle Schwerpunkte für die Therapie festgelegt, je nachdem ob familiäre Faktoren überwiegen, Persönlichkeitseigenschaften oder soziale Komponenten.
Nah dran: Pflegekräfte spielen in der Therapie eine wichtige Rolle
Eva-Maria Marburger hat täglich mit jungen Menschen zu tun, die an Anorexie erkrankt sind. Sie ist seit rund 20 Jahren als Krankenschwester auf der Jugendstation 15C der Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Marburg tätig. Die Pflegekräfte spielen in der Therapie eine wichtige Rolle, denn sie begleiten die Jugendlichen rund um die Uhr im stationären Setting.
Begleitung rund um die Mahlzeiten
Regelmäßiges Wiegen, die tägliche Kontrolle der Vitalzeichen, bei Bedarf die Medikamentengabe nach ärztlicher Anordnung und die engmaschige Betreuung gehören zu ihren Aufgaben. „Ganz wichtig ist darüber hinaus die Begleitung bei den Mahlzeiten oder die Sondierung, wenn sie ärztlich angeordnet wurde“, sagt Eva-Maria Marburger. Ein Kriterium für die Ernährung via Magensonde ist auf Station 15C ein Body-Mass-Index unter 12. Bei einem solch niedrigen Gewicht drohen Organschäden, Herz-Kreislauf-Beschwerden und andere kritische Symptome.
35 Kilogramm bei einer Körpergröße von 1,65 Meter – mit solchen Werten geht das Team auf Station tagtäglich um. In einem derart ausgeprägten Hungerzustand sind oft die kognitiven Fähigkeiten eingeschränkt. Bevor weitere Therapieangebote gemacht werden können, geht es also zunächst einmal um die Gewichtszunahme.
Das Pflegeteam ist – ob mit oder ohne Sondierung – bei allen Mahlzeiten dabei, überwacht das Essverhalten und reflektiert es im Anschluss wertfrei mit den Patientinnen und Patienten. Manchmal werden nach den Mahlzeiten feste Liegezeiten vereinbart. „Anorexiepatient/-innen haben meist einen sehr hohen Bewegungsdrang“, berichtet die Krankenschwester. Heimliche Sporteinheiten wie Situps, Kniebeugen oder dauerhaftes Stehen beim Fernsehen oder in anderen unpassenden Situationen kommen häufig vor – mit dem Ziel, mehr Kalorien zu verbrauchen.
Auch kleine Tricks wie das Trinken größerer Mengen Wasser vor dem Wiegen oder heimliches Erbrechen gehören zum Krankheitsbild. „Es ist dann unsere Aufgabe, den Jugendlichen Unterstützungsangebote und andere Strategien zur Regulierung ihres Bewegungsdrangs oder ihrer Anspannung aufzuzeigen.“
Zwischen Vertrauen und Kontrolle
Die Rolle der Pflegekräfte ist keine einfache. Einerseits geht es viel um Kontrolle. Andererseits ist es für den Behandlungserfolg wichtig, eine stabile, vertrauensvolle Beziehung aufzubauen. „Das ist eine Gradwanderung, an die man sehr professionell herangehen muss“, sagt Eva-Maria Marburger. Deshalb führen die Pflegekräfte mit den Patient/-innen immer wieder Reflexions- und Bezugspflegegespräche oder machen Angebote in Kleingruppen.
Ganz individuell legen sie zudem mit den Jugendlichen Wochenziele fest. Das können ganz kleine Dinge sein: Etwa, dass sie mit Gleichaltrigen in Kontakt treten oder an Gruppenangeboten teilnehmen ohne ständig in Bewegung zu sein. Zwischendurch sei es wichtig, den Fokus auch mal auf andere Themen zu legen als Essen, Gewicht und die eigenen Probleme: Etwa auf Dinge, die Spaß machen und den Jugendlichen guttun.
Wie sieht die psychotherapeutische Arbeit aus?
Essstörungen wie die Anorexie sind besonders komplexe Störungsbilder, die häufig von Symptomen anderer Erkrankungen begleitet werden. Ein ritualisiertes Essverhalten etwa kann sich zu einer Zwangsstörung entwickeln, das Streben nach immer weniger Körpergewicht kann Charakteristika einer Suchterkrankung aufweisen, massives Untergewicht mitunter körperliche Langzeitfolgen haben. Auch Komponenten von Angststörungen und Depressionen, bis hin zu Suizidalität, treten häufig im Zusammenhang mit Essstörungen auf. „All diese Aspekte müssen in der psychotherapeutischen Arbeit berücksichtigt werden“, erklärt Vanessa Jakobs. Die Psychologin beendet in diesem Herbst ihre Ausbildung zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Drei Jahre lang hat sie auf der Schwerpunktstation für Essstörungen der Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit in Eltville gearbeitet. Seit diesem Jahr ist sie in der Vitos Kinder- und Jugendambulanz in Wiesbaden tätig.
„Die Schwierigkeit in der Behandlung besteht darin, dass die Patientinnen und Patienten häufig keine Krankheitseinsicht haben“, erklärt Vanessa Jakobs. „Sie kommen oft nicht aus eigenem Antrieb zu uns in die Klinik, sondern fremdmotiviert, zum Beispiel durch die Eltern. Das primäre Ziel in der psychotherapeutischen Arbeit ist deshalb zunächst, eine Krankheitseinsicht herzustellen.“
Abgesehen davon stehen die Gewichtszunahme und die Entwicklung eines gesunden Essverhaltens im Fokus des Klinikaufenthaltes, aber auch Aspekte wie Emotionsregulierung, also der Umgang mit den eigenen Gefühlen. In der psychotherapeutischen Arbeit geht es letzten Endes darum, die Identifikation mit der Essstörung aufzulösen und den Patientinnen und Patienten wieder ein realistisches Bild auf sich selbst und ihren Körper zu ermöglichen. Im Gegensatz zu anderen psychischen Erkrankungen ist die stationäre Aufenthaltsdauer bei Essstörungen meist sehr lang – schon allein, um das Gewicht auf einem gesunden Level zu stabilisieren.
Teamwork in der Familie und auf Station
Bei vielen Betroffenen tritt die Erkrankung mit dem Eintritt in die Pubertät auf. Vanessa Jakobs berichtet, dass die Eltern sich häufig sehr hilflos fühlen, wenn sie Kontakt zur Klinik aufnehmen: „Die Eltern müssen dabei zusehen, wie es ihrem Kind immer schlechter und schlechter geht, und sie können nichts dagegen machen. Sie können das Kind ja nicht zum Essen zwingen. Die Essstörung übt eine massive Kontrolle sowohl auf die Patientinnen und Patienten, als auch auf die ganze Familie aus. Diese Belastung und Ratlosigkeit merkt man den Familien an, wenn sie bei uns ankommen. Deshalb ist es wichtig, dass die Eltern in die Therapie der Kinder und Jugendlichen einbezogen werden.“
Auch bei den Mitarbeitenden auf Station ist Teamarbeit unerlässlich für den Erfolg der Behandlung. Gute Kommunikation und Absprachen zwischen den verschiedenen Berufsgruppen spielen eine wichtige Rolle im Klinikalltag. Trotz der Schwere des Störungsbildes ist die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, die an einer Essstörung erkrankt sind, sehr gewinnbringend, betont Vanessa Jakobs: „Wenn die Jugendlichen erkennen, dass sie krank sind, wird deutlich, dass das Nicht-Essen häufig nur ein Symptom ist und die Motivation, an den eigentlichen Ursachen zu arbeiten, steigt. Viele verfügen über sehr große kognitive und kreative Ressourcen – das gemeinsam mit den Patientinnen und Patienten zu entdecken und gemeinsam mit ihnen herauszufinden, wer sie jenseits ihrer Erkrankung sind, macht die Arbeit sehr spannend.“
Und was kommt nach dem Klinikaufenthalt?
In einer Klinik gibt es feste Strukturen, die den Betroffenen Halt geben. Therapeut/-innen und Pflegekräfte begleiten die Mahlzeiten und unterstützen dabei, Ablenkung zu finden, damit die Gedanken nicht ständig ums Essen oder das anschließende Erbrechen kreisen. Therapeutische Einheiten strukturieren den Tagesverlauf und der eigene Alltag mit seinen Anforderungen ist weit weg. „Vieles von dem, was in der Klinik sehr hilfreich war, fällt natürlich erstmal weg, wenn die Patientinnen und Patienten nach Hause kommen“, sagt Fenja Schneider. Die Psychologische Psychotherapeutin arbeitet in der Vitos Praxis für psychische Gesundheit Darmstadt. Dort bietet sie eine ambulante Gruppentherapie an, die sich an Erwachsene richtet, die an einer Essstörung leiden. Für Fenja Schneider ist diese ambulante Gruppe eine echte Herzensangelegenheit seit sie in einer Klinik mit Betroffenen gearbeitet hat. „Manchen Patientinnen und Patienten fällt es schwer, die Strategien, die sie in der Klinik erlernt haben, im Alltag umzusetzen. Vor allem, wenn ihnen etwas Unvorhergesehenes passiert“, sagt Schneider. Mit dem gruppentherapeutischen Angebot möchte sie dabei unterstützen, den Alltag nach einer stationären Therapie gut meistern zu können.
Die Gruppentherapie ist nicht nur für Patientinnen und Patienten geeignet, die gerade eine stationäre Behandlung absolviert haben. Auch wer erstmals Hilfe sucht oder sich einfach langfristig stabilisieren und einem Rückfall vorbeugen möchte, kann teilnehmen. Es gibt ein paar Voraussetzungen: Die Teilnehmenden müssen stabil sein. Dazu gehört, dass der BMI nicht unter 15 liegen darf und keine anderen schweren psychischen Erkrankungen wie beispielsweise Traumata im Vordergrund stehen. Auch die Bereitschaft, an der eigenen Genesung arbeiten zu wollen, muss da sein. Klare Absprachen, regelmäßiges Wiegen und das Führen eines digitalen Essprotokolls gehören dazu. Darin halten die Teilnehmenden unter anderem fest, was und wie viel sie zu welchem Zeitpunkt gegessen und getrunken haben und wie es ihnen dabei ging.
Warum kann eine Gruppentherapie sinnvoll sein?
Sich in einer Gruppe zu öffnen und über die eigene Erkrankung und die damit zusammenhängenden Probleme zu sprechen, ist mit Scham verbunden. Doch die gehe schnell verloren, ist die Erfahrung von Fenja Schneider. Denn: „In der Gruppe kommen die Betroffenen mit Menschen in Kontakt, die genau dieselben Probleme haben. Da ist sofort Verständnis für die Situation der anderen da.“ Wo das eigene Umfeld vielleicht mit Unverständnis reagiert, können sich die Teilnehmenden gegenseitig stützen und Hilfestellungen geben. Wie gehe ich im Alltag mit den Gedanken um, die meine Essstörung betreffen? Wer bin ich, wenn ich nicht dünn bin? Wie kann ich akzeptieren, dass ich viel versäumt habe, weil ich so stark mit meiner Essstörung beschäftigt war? Wie gehe ich mit der Gewichtszunahme um? Wie sage ich es meinem neuen Partner, meiner neuen Partnerin? – Das sind Fragen, für die es in der Gruppe Raum gibt. Außerdem gehört Psychoedukation zur Therapie. Dabei lernen die Teilnehmenden ihre Erkrankung besser zu verstehen.
Sich gegenseitig Halt geben – darum geht es in der Gruppe.
Autorinnen:
Julia Janzen, Unternehmenskommunikation Vitos Kurhessen
Katharina Huhn, Unternehmenskommunikation Vitos Rheingau
Susanne Richter-Polig, Unternehmenskommunikation Vitos Gießen-Marburg
Carmen Hofeditz, Vitos Konzernkommunikation und Marketing
Bildnachweise: iStock (Header-Bild), Vitos
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