
17 Juli 50 Jahre Vitos Kinder- und Jugendkliniken für psychische Gesundheit
Wo kommen wir her und wo geht die Reise hin? Prof. Dr. Matthias Wildermuth gibt einen Überblick
Vor 50 Jahren entstanden die ersten Vitos Kinder- und Jugendkliniken für psychische Gesundheit. Seither ist viel passiert. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie hat sich enorm weiterentwickelt, neue Behandlungskonzepte und Settings wurden geschaffen. Auch die Herausforderungen und Krankheitsbilder sind heute andere als früher.
Professor Dr. Matthias Wildermuth ist Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie und Psychosomatische Medizin, war langjähriger Ärztlicher Direktor von Vitos Herborn und hat die Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie in den vergangenen Jahrzehnten maßgeblich mitgestaltet. Hier gibt er einen Überblick.
1974 und 1975 gründete der Landeswohlfahrtsverband Hessen die Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit, zu diesem Zeitpunkt noch unter anderem Namen. Die Psychiatrie Enquete hat die psychiatrische Versorgung damals auf ein neues Niveau gehoben und der LWV hat schnell reagiert. Zuvor war 1969 in Folge der Studentenproteste eine erste Klinik in Idstein eröffnet worden, deren Trägerschaft der Landeswohlfahrtsverband Hessen übernahm.
Vor der Psychiatrie Enquete waren es teils unerträgliche Zustände der Hospitalisierung. Unterwerfungspädagogik, Grenzüberschreitungen, physische und psychische Gewalt bis hin zu sexuellem Missbrauch.
Die ersten jungen Patient/-innen, waren diejenigen, die bereits vorher auf bestimmten Stationen für Kinder- und Jugendliche innerhalb der Kliniken für Erwachsenenpsychiatrie behandelt wurden. Zeitgleich gab es die ersten Lehrstuhlinhaber/-innen, die sich der Kinder- und Jugendpsychiatrie widmeten. Damals waren es fast nur Männer, das ist heute umgekehrt. Die meisten von ihnen kamen aus dem Fachbereich der Erwachsenenpsychiatrie, hatten sich aber zumindest früh mit dem Thema Adoleszenz beschäftigt.
Behandlungskonzepte für psychisch erkrankte Kinder- und Jugendliche zu entwickeln, war ein sehr großer Aufwand. Schon allein, wegen der räumlichen Gegebenheiten. Am Anfang waren da überall Gitter. Geschlafen, haben die Kinder in großen Sälen. Die Gebäude waren in den Anfangsjahren so ausgelegt, dass 120 bis 140 Patient/-innen aufgenommen werden konnten. Später waren es dann höchstens noch 70. Wir mussten die Gebäude umstrukturieren. Es mussten Zimmer für Patient/-innen geschaffen werden, die nicht den Wachsälen von früher entsprachen. Die Psychiatrie musste von den jungen Patient/-innen erst lernen, dass jedes Individuum Schutz und eine Intimsphäre braucht und nicht jeder eine öffentlich zu pflegende Person ist. Dazu gehörte auch, dass die Patient/-innen sich selbst um ihre Körperhygiene kümmerten und nicht, wie früher, von Pflegenden gewaschen wurden. Das hat lange gedauert, denn die erste Generation der Pflegenden kannte nur das „alte System“.
Berufsgruppe der Erzieher/-innen brachte pädagogische Kompetenz ein
Relativ früh kam dann die zweite Berufsgruppe der Erziehenden dazu. Sie brachte pädagogische Kompetenz ein. Ob das immer heilende Erziehung oder doch in manchen Fällen eher Dressur war, darüber kann man streiten. Die gesamte Pädagogik hat sich in dieser Zeit stark entwickeln müssen, um aus einem autoritären System heraus und in ein kundenorientiertes System hinein zu wachsen. Dieser Prozess lief in den unterschiedlichen Klinken unterschiedlich schnell. Bis heute haben wir in den Vitos Klinken, aber auch in den Kinder- und Jugendpsychiatrien deutschlandweit sehr unterschiedliche Entwicklungswege. Raumkonzepte kann man standardisieren, Menschen nicht. Sie tragen immer unterschiedliche Formen ihrer eigenen Biografie mit. Und Leitungskräfte wiederum suchen sich immer Mitarbeitende aus, die ihnen selbst ähnlich sind.
Nach den Erziehenden kam relativ schnell die Berufsgruppe der Psychologinnen und Psychologen hinzu. Sie stellten den Entwicklungsaspekt und den Lernleistungsaspekt in den Mittelpunkt. Zu einem guten Standard gehörte eine erst ausschließlich kognitive, später auch emotionale Entwicklungsdiagnostik der Kinder und Jugendlichen. Heute ist das Element der Beziehungsdiagnostik, also der emotionalen Co-Regulierung, das Zentrum unserer Arbeit.
Neue Räume, neue Settings
Die 80er und 90er Jahre war das Zeitalter der Familien. Nun mussten sich die Psychiatrien fragen, ob die baulichen Voraussetzungen zur Therapie überhaupt gegeben waren. Etwa, wenn die ganze Familie zur Therapiesitzung mitkommen wollte und sollte und die Therapieräume dafür einfach zu klein waren. Wir brauchten also Familientherapieräume. Anfang der 2000er Jahre wurden die Raumkonzepte überarbeitet und sukzessive immer mehr angepasst.

Raumkonzepte und Settings entwickelten sich stetig weiter
Nach und nach änderten sich nicht nur die Räumlichkeiten, sondern auch die Settings. Wir fingen in den 80er und 90er Jahren an, Tagesklinken zu eröffnen. Für nicht so schwer Kranke oder all jene die oder deren Familien das vollstationäre Setting nicht annehmen wollten oder konnten. Gründe dafür waren zum Beispiel Trennungsängsten der Kinder oder der Eltern. Die Schaffung von Tagesklinken war ein sehr großer Fortschritt. Ab den 90er Jahren entwickelten wir Spezialambulanzen, zum Beispiel für die Behandlung von Autismus oder ADHS. Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten die Kooperation mit der Jugendhilfe weiterentwickelt.
Seit den 90er Jahren rückte die Bedeutung der frühen Kindheit immer mehr in den Fokus der Expert/-innen. Wir haben erkannt, dass frühe Interventionen entscheidend sind. In Herborn haben wir dazu sehr eng mit den Kinderärzt/-innen zusammengearbeitet. Wir haben erste Säuglings-Eltern-Kind-Sprechstunden eingeführt. Aktuell sind wir dabei, auch die erste Eltern-Kind-Säuglingseinheit zu schaffen. In anderen Klinken haben wir Familienaufnahmen ermöglicht.
Darauf, dass es große Überlappungen zwischen Erwachsenen- und Kinder- und Jugendpsychiatrie gibt, haben wir mit der Einführung sogenannter Trasitionsstationen reagiert. Also Stationen, die sich auf Adoleszente im Übergang von der Jugend ins Erwachsenenalter und deren ganz spezifische Bedürfnisse spezialisiert haben.
Ganz neu ist das Angebot der stationsäquivalenten Behandlung. Kinder und Jugendliche werden dabei aufsuchend im eigenen Zuhause behandelt. So haben wir die Chance, all jenen Patient/-innen zu helfen, die wir aktuell noch nicht so gut erreichen. Wie etwa hochaggressive Kinder und Jugendliche, die sich nicht in ein stationäres Setting integrieren lassen. Oder Psychotiker und Autisten, die mit den Eindrücken einer Station völlig überfordert wären. Genauso Zwangspatienten, die sich so eingemauert haben, dass sie das Zuhause nicht mehr verlassen. Eine große Herausforderung war und ist, dass all diese Systeme Personal brauchen, was dann wieder an anderer Stelle fehlt. Hier bekommen wir den aktuellen Fachkräftemangel besonders schmerzlich zu spüren.
Beziehung muss über Bindung stabilisiert werden

Alles lebt von der Beziehungsqualität
Die Strukturqualität hat sich verbessert, letztendlich lebt jedoch alles von der Beziehungsqualität. Als die autoritären Strukturen in Deutschland, auch auf der Elternebene, weniger wurden, sind keine anderen Strukturen entstanden. Gebraucht, hätte es sogenannte Beziehungsregulierungsaspekte. Die hat man häufig ausgelagert und zum Beispiel an die Jugendhilfe oder die Schulen weitergegeben. Plötzlich sollten die alles richten. Der Lehrermangel, den wir heute haben, hängt meines Erachtens nach eng damit zusammen.
Im Jahr 1989 wurde ein Thema gesellschaftlich virulent und ist im Zuge dessen auch in die Psychiatrie eingezogen: Sexuelle Traumata hervorgerufen durch sexuelle Gewalt und Missbrauch. Mittlerweile wissen wir, dass viele Erkrankungen, selbst schizophrene Psychosen nicht einfach nur biologischen Ursprungs sind, sondern durch überwältigende Ereignissen für die Seele und Gehirn keine Bewältigungsmöglichkeiten haben, hervorgerufen werden können. Da sie nicht in die Persönlichkeit integriert werden können, führen sie zu Dissoziationen, also Abspaltungen. Darunter fallen zum Beispiel auch Borderline Störungen. Ende der achtziger Jahre kamen dann die Traumakonzepte hinzu.
Neue Klassifikationskonzepte in der Psychiatrie
Zwischen den 70er und den 90er Jahren gab es neue Klassifikationskonzepte in der Psychiatrie. Sie spielen eine große Rolle in Hinblick darauf, was wir denken. Auch in unseren Klinken wenden wir diese Klassifikationen systematisch an. Andernfalls würden uns die Krankenkassen die Leistung auch gar nicht als Leistung bewerten. Das ICD9 war ein theoriebezogenes Modell und mit psychoanalytischen Annahmen konzipiert. Als Gegenbewegung wurde das ICD 10 nicht mehr krankheits-, sondern störungsorientiert entwickelt. Symptome sollten empirisch erfasst werden, um möglichst viel Spielräume für spätere Störungskonzepte zu haben. Die Gefahr war nun ,diese Sammlungen(z. B. „Syndrome“) doch wieder als geschlossenes Modell zu nutzen.
Das ICD10 sollte zeitgerecht weiterentwickelt werden. Doch die Gremien haben sich zu lange gestritten, weshalb von 1991 bis vor drei Jahren keine Weiterentwicklung stattgefunden hat. Das heißt, neuste Erkenntnisse auf unserem Gebiet fanden sich darin 30 Jahre lang nicht wieder. Und wegen dieser fehlenden Weiterentwicklung haben wir uns leider sehr stark den amerikanischen Systemen, DSM Systeme genannt, angeschlossen. Das hat ganz unterschiedliche Auswirkungen auf gestellte Diagnosen. Es bedeutet zum Beispiel, dass viel mehr Kinder und Jugendliche plötzlich die Diagnose ADHS bekommen, als es nach dem alten ICD10 Konzept der Fall war. Das liegt unter anderem daran, dass hier nun einseitige rein neurobiologische Grundannahmen ausschlaggebend sind. Dadurch hat man auch viel mehr junge Patient/-inne Medikamente verschrieben. Der Autismus, ebenfalls nun eine klar neurobiologische Entwicklungserkrankung, wurde mit flüssigeren Übergängen zu den Autismus Spektrumstörungen erweitert.
Therapie ist immer auch Prävention
Therapie ist immer auch Prävention. Deshalb ist es meiner Meinung nach so wichtig, mehrgenerational zu arbeiten. Psychiatrie war früher ein Ort an dem angenommen wurde, die Kinder könnten dort „nachreifen“. Das stimmt aber nicht.
Haben frühste Regulierungen nicht stattgefunden, müssen wir sie in der Therapie immer wieder nachholen. Dafür haben wir spezielle Therapieformen entwickelt, zum Beispiel die sogenannte mentalisierungsbasierte Psychotherapie, auch MBT genannt. Dann gibt es die Dialektisch Behaviorale Therapie, genannt DBT. Sie war in den letzten 20 Jahren sehr wichtig zur Behandlung der allerschwersten Zustände von Selbstverletzung und Selbstzerstörung. Dabei machen wir zum Beispiel Achtsamkeitsübungen und geben den Kindern und Jugendlichen Techniken an die Hand, Hochspannungszustände zu regulieren. Bei diesen sogenannten Skills Trainings beziehen wir auch die Eltern immer wieder mit ein.
Ich muss dazu sagen, dass wir bei allen neuen Methoden immer am Hinterherrennen sind. Unsere Gesellschaft ist ein Hochrisikoort für Kinder und die Erkrankungen und Störungsbilder werden eher mehr als weniger.
Identität – „Wer bin ich eigentlich Chat GPT?“

Kinder und Jugendliche stehen oft unter einem enormen Optimierungsdruck
Heute haben wir in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ein großes Identitätsthema. Wer bin ich eigentlich? Die Kinder und Jugendlichen bekommen, unter anderem durch die sozialen Medien, ständig Konstrukte präsentiert, wie sie sein könnten, wie sie sein müssten. Es entsteht ein enormer Optimierungsdruck. Essstörungen, wie Magersucht, sind zum Beispiel ein Spiegel dessen. Diese Suche nach Identitäten geht soweit, dass 13-Jährige sich heute psychische Krankheiten selbst zuschreiben. Sie machen online Tests, bewegen sich in bestimmten Social-Media-Bubbles und diagnostizieren sich dann selbst zum Beispiel eine Borderline Störung. Alles, um sich eine eigene Identität zu schaffen.
KI stellt uns vor ganz neue Herausforderungen. Chat GPT schreibt Texte für die Schule oder Liebesbriefe. KI malt Bilder. Wenn ich selbst nicht mehr schreiben, nicht mehr malen und irgendwann nicht mal mehr über mich selbst nachdenken kann – wer bin ich dann noch? Autofiktionalität hält Einzug. Ich erzähle mir mich und mein Leben so, wie ich es gerne hätte. Kinder erzählen Behandlern Geschichten über sich selbst, die so nie stattgefunden haben. Auf der Such nach einer Identität erfinden sie sich selbst. Ohne gefestigte eigene Identität sind sie viel anfälliger für Konstrukte wie Nationalismus oder Rassismus, die ihnen eine vermeintliche Identität anbieten.
Kinder- und Jugendpsychiatrie als wissenschaftlicher Promotor
Kinder brauchen Förderung in ihrer Entwicklung, aber vor allem gute stabile Beziehungen zu denen, mit denen sie die frühsten Bindungen eingehen. Das sind in der Regel die Eltern.
Kitas, Kindergärten und Schulen können das heute nicht mehr leisten und müssen meiner Meinung nach viel intensiver unterstützt werden. Genauso die frühsten Bindungen zwischen Kind und Eltern. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie kann da ein wissenschaftlicher Promotor sein, indem sie die Sensibilität für all diese Phasen der kindlichen Entwicklung erhöht und stellvertretend in der Säuglings- und Kleinkindpsychiatrie, in der Vorschultagesklinik oder in der Adoleszenztransitionspsychiatrie Wegmarken sucht, wo man Fortschritte generieren kann.
Zur Person:

Professor Dr. Matthias Wildermuth
Professor Dr. Matthias Wildermuth ist Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie und Psychosomatische Medizin, war langjähriger Ärztlicher Direktor von Vitos Herborn und an der Planung, Vorbereitung und Umsetzung der neuen Kinder-und Jugendpsychiatrischen Klinik „Vitos Kinder-und Jugendklinik für psychische Gesundheit Hanau“ in allen Stufen von 1999-2020/21 (Einzug und Beginn der vollstationären Behandlung) zentral beteiligt .