08 Jan Achtsam in das neue Jahr
Bewusst wahrnehmen und Stress reduzieren
Vielleicht war der Jahreswechsel für Sie eine Möglichkeit zu entschleunigen. Vielleicht waren die Tage zwischen den Jahren aber auch besonders stressig. Sie haben Geschenke gekauft, sind von einer Verabredung zur nächsten gehetzt, und haben die Silvesterfeier organisiert. Sie waren mit den Gedanken also überall, nur nicht bei sich selbst.
Ein Lösungsweg heißt Achtsamkeit. Das heißt: Trainieren, mit Geist und Körper im Hier und Jetzt zu sein. Aus dem therapeutischen Alltag einer psychiatrischen Klinik ist Achtsamkeitstraining nicht mehr wegzudenken – so auch am Vitos Klinikum Gießen-Marburg. Aber auch Menschen außerhalb eines klinischen Umfelds können davon profitieren.
Seine Wurzeln hat das Prinzip der Achtsamkeit im Buddhismus. Die positive Wirkung für die psychische und körperliche Gesundheit wurde im Laufe der Zeit auch von Medizinern und Psychologen erkannt. Mit moderneren Psychotherapieverfahren, der sogenannten „Dritten Welle“, hielt die Achtsamkeit Einzug in die Psychotherapie und Psychiatrie. Dort ist sie heute ein fester Therapiebestandteil.
Wahrnehmen, aber nicht bewerten
Achtsamkeit heißt, seine Aufmerksamkeit ganz und gar auf einen Moment zu lenken. Alle Gefühle, Gedanken und Empfindungen, die in diesem Moment vorhanden sind, sollen bewusst wahrgenommen, aber – und das ist entscheidend! – nicht bewertet werden.
Grundsätzlich trägt jeder Mensch die Fähigkeit zur Achtsamkeit in sich. Die meisten haben jedoch verlernt, wirklich aufmerksam zu sein. Wer versucht, für einige Minuten den Fokus rein auf das Trinken einer Tasse Tee oder das Betrachten eines Gegenstands zu legen, merkt, wie schnell die Gedanken wieder abdriften. Achtsamkeitstraining kann harte Arbeit sein.
„Schädliche“ Verhaltensweisen reduzieren
Tag für Tag erlebt jeder von uns Situationen, in denen der innere „Autopilot“ die Führung übernimmt. Zum Beispiel bei der morgendlichen Fahrt zur Arbeit: An manchen Tagen bemerkt man kaum, dass man den Weg zurückgelegt hat, denn die Gedanken waren ganz woanders. Und wie oft ist man beim Mittagessen überrascht, dass der Teller schon leer ist – weil der Prozess des Essens vollautomatisch abgelaufen ist.
Das alles hat Folgen: Wer viele Dinge gleichzeitig tut und durchdenkt, hat Stress. Außerdem neigt der Mensch dazu, vorschnell zu bewerten. Geht es um unangenehme Tätigkeiten, erhöhen negative Wertungen (etwa: „Wie furchtbar, das soll aufhören!“ oder „Oh nein, ich möchte da nicht hingehen!“) den inneren Stresslevel zusätzlich. Wer Achtsamkeit übt, übt also auch, Gewohnheiten und Verhaltensweisen, die negative Emotionen hervorrufen, zu reduzieren.
Die Schlange an der Supermarktkasse
Ein Beispiel: Die scheinbar endlos langsame Schlange an der Supermarktkasse. Hier baut sich oft sekundenschnell Ärger auf – sei es über die langsame Kassiererin oder den Kunden, der eine gefühlte Ewigkeit im Kleingeld kramt. Der Körper spannt sich an, der Stresslevel steigt. Innere Unruhe kommt auf.
Achtsamkeit heißt jetzt, die Rolle des interessierten Beobachters einzunehmen – vollkommen wertfrei. So wird vielleicht deutlich, dass es ein Problem mit der Kasse gibt, mit dem auch die Kassiererin schwer kämpft. Oder dass der ältere Kunde sich wirklich anstrengt, nach den richtigen Münzen zu suchen. Wer die Situation und seine Gefühle dabei bewusst, aber wertfrei, wahrnimmt, bekommt die Wahl: Den Ärger weiter anzuheizen oder Mitgefühl zu entwickeln und innerlich zur Ruhe kommen.
Belastende Grübeleien unterbrechen
Wer übt, achtsam zu sein, lernt, das hinzunehmen, was nicht veränderbar ist. Er lernt, das zu verändern, was verändert werden kann (weil es vielleicht schädlich ist). Und das Wichtigste: Zwischen beiden Dingen zu unterscheiden. Das trägt auf Dauer dazu bei, eine gewisse innere Balance wiederzufinden, ruhiger und auch zufriedener zu sein.
Eine achtsame Grundhaltung gibt einem Menschen das Gefühl der Kontrolle über sich selbst und seine Gefühle zurück – ein besonders nützlicher Effekt, wenn es um die Behandlung von Persönlichkeitsstörungen wie zum Beispiel Borderline geht. Achtsamkeitsübungen können außerdem dabei helfen, belastende Endlosschleifen von Grübeleien zu durchbrechen. Nicht nur deshalb sind sie wichtiger Bestandteil der Therapie bei Depressionen.
Die meisten Menschen wissen gar nicht, welchen Einfluss sie selbst auf die Entstehung unangenehmer Emotionen haben. Es lohnt sich, das herauszufinden! Schließlich gibt es zahlreiche Achtsamkeitsübungen, die sich schnell und leicht in den Alltag einbauen lassen.
Eine Sammlung von Achtsamkeitsübungen finden Sie auf den Internetseiten des Vitos Klinikums Gießen-Marburg: Achtsamkeit trainieren.
Fachliche Beratung: Julia Hofmann (Psychotherapeutin) und Franziska Brodersen (Ärztin), beide Vitos Klinikum Gießen-Marburg
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