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Alexithymie

Wenn die Worte für Gefühle fehlen

Wie fühlst du dich? Eigentlich eine einfache Frage oder? Die Antwort darauf fällt aber nicht jedem leicht. Denn manche Menschen können ihre Gefühle nicht wahrnehmen oder in Worte fassen. Der Fachbegriff dafür ist Alexithymie. Was sich dahinter verbirgt und wie man den Zugang zu seinen Gefühlen finden kann, erklären Elke Röming und Janine Hillmann. Frau Röming ist Klinikdirektorin der Vitos Klinik für Psychosomatik Herborn und Frau Hillmann arbeitet dort als psychologische Psychotherapeutin.

Wie eine Eisprinzessin?

Als die 38-jährige Marie in der Vitos Klinik für Psychosomatik Herborn das erste Gespräch mit ihrer Psychotherapeutin führte, fragte diese sie, welche Gefühle sie im Moment am meisten belasten. Daraufhin berichtete sie sehr sachlich, detailliert und ausführlich von ihrem starken Stress am Arbeitsplatz, dem häufig unlogischen Vorgehen ihrer Kollegen sowie den zunehmenden körperlichen Erkrankungen ihrer Eltern, was wiederum viel Unterstützung und Organisationstalent ihrerseits erfordere. Dabei seien eigentlich ihre momentan größten Probleme der ständig hohe Blutdruck, das häufige Herzrasen und diese quälenden Magen-Darm-Beschwerden. Außerdem schilderte sie zunehmende Konflikte mit ihrem Ehemann, der ihr schon oft vorgehalten habe, sie sei „wie eine Eisprinzessin, ganz gefühlskalt“. Auf die wiederholte Frage, welche belastenden Gefühle sie gegenwärtig erlebe, antwortete Marie: „Das weiß ich gar nicht, mir geht es einfach nur sehr schlecht.“ Im Verlauf der Therapie lernte sie, dass sie alexithyme Anteile aufwies und wie sie damit umgehen kann.

Was bedeutet Alexithymie überhaupt?

Alexithymie ist keine psychische Erkrankung, sondern wird nach heutigem Kenntnisstand als Persönlichkeitsmerkmal betrachtet. Es handelt sich um die Schwierigkeit oder gar die Unfähigkeit, eigene Gefühle wahrzunehmen und mit Worten beschreiben zu können. Manchmal wird auch von „Gefühlsblindheit“ gesprochen. Neben Schwierigkeiten, eigene Gefühle identifizieren und benennen zu können, kann die Schwierigkeit, Signale für Gefühle anderer Menschen wahrzunehmen, auch ein Hinweis auf Alexithymie sein. Die Neigung zu sehr sachlichen Schilderungen wie im Fall von Marie, ein eingeschränktes Fantasieerleben und Probleme dabei, Zusammenhänge zwischen Körpersymptomen (z. B. Herzrasen) und Gefühlen (z. B. Angst) herzustellen, treten ebenfalls häufig bei alexithymen Personen auf.

Gefühlsblindheit heißt aber nicht, dass Betroffene gar nichts fühlen. Wie bei vielem im Leben gibt es auch bei Alexithymie zwei Seiten der Medaille. Einerseits berichten Betroffene, dass sie in schwierigen Situationen besser als viele andere einen kühlen Kopf bewahren können und weniger in Gefühlsverwirrung verfallen. Viele führen ein „normales“ und erfolgreiches Leben. Anderseits kann es passieren, dass es alexithyme Menschen in akuten Belastungssituationen schwerer fällt, eigene Emotionen zu regulieren, es nicht selten zu heftigen, scheinbar nicht nachvollziehbaren Gefühlsausbrüchen kommt und dies wiederum psychisches Leid verursachen kann.

Welche Rolle spielt Alexithymie in der Psychosomatik?

In unserer Vitos Klinik für Psychosomatik Herborn behandeln wir sogenannte somatoforme Störungen [1] sehr häufig. Bei diesen Erkrankungen kann man trotz vielfältigen diagnostischen Verfahren keine ausreichenden organischen Ursachen für körperliche Beschwerden wie Bluthochdruck, Magen-Darm- und Herzbeschwerden, Atemnot sowie chronische Schmerzen finden. Dennoch haben die Betroffenen einen sehr hohen Leidensdruck. Ihr körperliches Unwohlsein oder Schmerzen machen es unmöglich, den Aktivitäten des täglichen Lebens mit Elan und Freude nachzugehen. Gefühle spiegeln sich in nur geringer emotionaler Ausdrucksfähigkeit. Diese alexithym genannten Persönlichkeitszüge fördern die Tendenz, gefühlsmäßige Phänomene als körperliche Beschwerden fehl zu deuten. Übelkeit und Herzklopfen werden nicht als Ausdruck von Angst erkannt, sondern rein körperlich wahrgenommen. Peter E. Sifneos, ein amerikanischer Psychiater, hat 1972 in seinem Alexithymiekonstrukt beschrieben, wie über Fehldeutung und hohe Selbstaufmerksamkeit ein Teufelskreis mit Intensivierung körperlicher Symptome angestoßen werden kann.

Psychosomatische Fachärzt/-innen und Psychotherapeut/-innen sprechen in diesem Zusammenhang auch von einer „Somatisierung“. Das heißt die Betroffenen kontrollieren und verdrängen negative Gefühle. Sie übertragen Emotionen wie Angst, Ärger und Schuld unbewusst auf den Körper oder einzelne Organe.

Vereinfacht ausgedrückt könnte man sagen: Der Körper spricht stellvertretend für die Seele, indem sie sich mit verschiedenen körperlichen Symptomen bemerkbar macht.

Ist Alexithymie eine Einbahnstraße?

Die Alexithymie wird als Persönlichkeitsmerkmal aufgefasst. Es ist aber nicht starr und für den Rest des Lebens zutiefst und absolut in einem Menschen verankert. Durch Lernen und persönliche Weiterentwicklung kann man es verändern.

Wenn im Rahmen einer psychosomatischen Behandlung deutlich wird, dass Patientinnen wie Marie starke Schwierigkeiten bei der Wahrnehmung und dem Ausdruck eigener Gefühle haben, können sie während der Therapie lernen und üben, die hinter den körperlichen Symptomen liegenden Gefühlsregungen wahrzunehmen und Emotionen zu erkennen. Es geht darum, den Körper als Signalgeber für innere Konflikte und Gefühle verstehen zu lernen. Wir unterstützen unsere Patientinnen und Patienten dabei, wieder Worte für ihr inneres Erleben zu finden und beispielsweise Freude, Trauer, Ohnmacht, Wut sowie Angst zu unterscheiden.

Die Patienten lernen, ihren Mitmenschen gegenüber ihre Gefühle, die dahinterstehenden Bedürfnisse und Wünsche (z. B. nach Zuwendung und Unterstützung, Sicherheit, Ruhe und Erholung) und Belastungsgrenzen angemessen auszudrücken. Oft verbessert sich im Verlauf einer Behandlung die Selbstwahrnehmung. Dies hat wiederum zur Folge, dass Patient/-innen zu vermehrter Selbstfürsorge und Selbstwirksamkeit finden können. Ebenso verbessern sich häufig ihre Kommunikations-, Konflikt- und Beziehungsfähigkeit. Somit stauen sich unerkannte Gefühle in Verbindung mit Problemen und Konflikten nicht mehr so stark auf. Psychosomatische Beschwerden treten weniger auf. Betroffene erleben Beziehungen zu anderen Menschen als weniger stark belastet.

Im Falle von Marie bedeutete dies am Ende ihrer vollstationären psychosomatischen Behandlung, dass sie lernte, sich sowohl am Arbeitsplatz als auch ihren Eltern gegenüber besser abzugrenzen beziehungsweise sich Hilfe einzufordern. Sie lernte, sich mit ihrem Ehemann mehr darüber auszutauschen, wie es ihr mit Belastungen emotional geht und was sie grade benötigt, um sich besser zu fühlen. Der Blutdruck normalisierte sich, das Herzrasen und die Magen-Darm-Beschwerden traten kaum noch auf. Und wenn die Beschwerden doch mal wieder vorkamen, konnte Marie sie mehr denn je zuvor als körperliche Signale für ihre innere Gefühlswelt deuten.

 

Weitere Blog-Artikel der Autorinnen sind:

Herausforderung Erwachsenwerden [2]

Körperdysmorphe Störungen [3]