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Alkoholabhängigkeit

Interview mit Dr. Rainer Holzbach über die Auslöser von Sucht und die Möglichkeiten der Therapie

Ein Glas Wein zum Essen oder das Feierabendbier mit Freunden – Gelegenheiten, Alkohol zu konsumieren, gibt es zur Genüge. Zudem ist der Konsum alkoholischer Getränke in unserem Kulturkreis gesellschaftlich akzeptiert. Alkohol enthemmt, kann entspannend wirken und beim geselligen Zusammensein wird man mitunter schief angeschaut, wenn man zum Anstoßen das Wasser oder die Apfelschorle zur Hand nimmt. Da wundert es nicht, dass viele Deutsche mehr oder weniger regelmäßig Alkohol konsumieren.

Doch wann endet der vertretbare Genuss und geht in eine Abhängigkeit über? Und was kann man tun, wenn man bei sich selbst einen problematischen Alkoholkonsum vermutet?

Wir haben mit Dr. Rainer Holzbach, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Klinikdirektor der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bad Emstal, darüber gesprochen, was eine Sucht begünstigt und welche Therapiemöglichkeiten es gibt.

Wann spricht man noch vom Alkoholgenuss und ab wann von einer Sucht?

Dr. Rainer Holzbach: Ab wann süchtiges Verhalten anfängt, ist nicht einfach zu beantworten, da der Übergang von einem noch „normalen“ zu einem riskanten und schließlich einem krankhaften Alkoholkonsum fließend ist. So kann es beispielsweise sein, dass Menschen Alkohol zunächst als Genussmittel konsumieren. Nimmt dann der Alkoholkonsum zum Beispiel in einer problematischen Lebensphase zu und findet dieser dann regelmäßig statt, so kann sich allmählich ein riskanter Alkoholgebrauch und schließlich eine Abhängigkeitserkrankung entwickeln. Besonders gefährdet, sind beispielsweise Menschen, die den Alkohol gezielt verwenden, um mit seiner Hilfe Stress abzubauen.

Von einem riskanten Alkoholkonsum spricht man bei Männern ab einem Konsum von mehr als zwei Standardgläsern Alkohol, bei Frauen liegt die Grenze bereits bei einem Standardglas. Unter einem Standardglas versteht man 10 bis 12 Gramm reinen Alkohol, was in etwa 0,25 Litern Bier oder einem Achtelliter Wein entspricht.

Regelmäßiges Trinken kann hierbei den Beginn einer Alkoholabhängigkeit bedeuten. Deswegen sollte mindestens an zwei Tagen in der Woche auf Alkohol völlig verzichtet werden. Ein schädlicher Alkoholkonsum liegt vor, wenn Betroffene den Konsum fortsetzen, obwohl dieser bereits schädliche Folgen hervorruft, sei es im körperlichen, psychischen oder sozialen Bereich. Negative soziale Folgen können beispielsweise partnerschaftliche Konflikte, Probleme am Arbeitsplatz oder Führerscheinverlust sein.

Eine Alkoholabhängigkeit liegt vor, wenn die Betroffenen den Alkoholkonsum nicht beenden können. Für die Alkoholabhängigkeit definiert die ICD-10, die internationale Klassifikation psychischer Störungen, verschiedene Kriterien:

Nach ICD-10 liegt eine Alkoholabhängigkeit vor, wenn innerhalb der letzten zwölf Monate mindestens drei dieser Kriterien wiederholt aufgetreten sind.

In Deutschland gibt es mindestens 1,6 Millionen alkoholabhängige Menschen, ca. 10 Millionen Menschen konsumieren zu viel Alkohol. Wegen der erheblichen gesundheitlichen und sozialen Folgen, die hiermit verbunden sind, ist es eine gesellschaftliche Aufgabe, Präventionsangebote weiter auszubauen.

Warum werden Menschen abhängig? Welche Faktoren spielen eine Rolle?

Dr. Rainer Holzbach: Es gibt verschiedene Risikofaktoren, die die Entstehung einer Alkoholabhängigkeit begünstigen können. Menschen, die in Konfliktsituationen zu vermehrtem Alkoholkonsum neigen, sind beispielsweise besonders gefährdet. Auch Rauschtrinken, das heißt, der Konsum großer Mengen an Alkohol zu bestimmten Anlässen, ist ein Risikofaktor für die Entstehung einer Abhängigkeitserkrankung. Rauschtrinken ist auch bei Menschen mit manifester Alkoholabhängigkeit zu beobachten. Auch spielt das Alter, ab dem Menschen mit dem Alkoholkonsum beginnen, eine große Rolle. Je jünger man mit dem Alkoholkonsum beginnt und je früher man sich an Alkohol gewöhnt, desto größer ist das Risiko einer späteren Alkoholabhängigkeit.

In diesem Zusammenhang spielt auch eine Rolle, wie im sozialen Umfeld, also bei den Eltern oder Großeltern beziehungsweise bei den Gleichaltrigen, der sogenannten „Peer-Group“, mit Alkohol umgegangen wird. Umso häufiger dann Alkohol konsumiert wird, desto größer ist das Risiko der Gewöhnung an das Suchtmittel. Hierbei führt Alkohol häufig zur Stimulierung beziehungsweise Enthemmung. Das erleichtert zum Beispiel die Kontaktaufnahme zu anderen Menschen. Durch den Alkoholkonsum entstehen dann angenehme Erlebnisse. Das wiederum verstärkt aus lerntheoretischer Sicht das problematische Suchtverhalten. Gleiches gilt für die Erfahrung, sich durch den Suchtmittelkonsum zu beruhigen und hierbei Ängste und Konflikte zu überwinden. Das Suchtmittel wird dann immer wieder zur Konfliktüberwindung verwendet.

Auch ist bei Betroffenen psychischer Erkrankungen häufig ein verstärkter Alkoholkonsum zu beobachten. Bei Menschen mit depressiven oder Angststörungen kommen Abhängigkeitserkrankungen besonders häufig vor. Wobei die gerade erwähnten Lernerfahrungen, wie zum Beispiel Abbau von Hemmungen bei sozialen Ängsten oder die euphorisierende Wirkung des Suchtmittels bei depressionsbedingter Freudlosigkeit, eine Rolle spielen. Wer „heimlich“ trinkt, von anderen Menschen wegen eines übermäßigen Alkoholkonsums oder einer „Alkoholfahne“ wiederholt angesprochen wird oder bereits früh am Tag mit dem Konsum beginnt, ist ebenfalls gefährdet oder bereits in einer Abhängigkeitsentwicklung gefangen.

Haben manche Menschen eine größere Veranlagung süchtig zu werden als andere?

Dr. Rainer Holzbach: Ja. Es ist bekannt, dass Kinder aus Familien, in denen ein problematischer Alkoholkonsum vorliegt, ein höheres Risiko haben, ebenfalls ein problematisches Trinkverhalten zu entwickeln. Hierbei spielen sogenannte Umweltfaktoren, wie Erfahrungen mit Alkohol in der Familie, aber auch genetische Faktoren eine Rolle. Das Risiko, an einer Alkoholabhängigkeit zu erkranken, steigt mit dem Verwandtschaftsgrad. Eineiige Zwillinge von Menschen mit Alkoholabhängigkeit haben ein höheres Risiko, hieran zu erkranken als beispielsweise Kinder eines alkoholkranken Elternteils. Das gilt auch dann, wenn sie zum Beispiel im Rahmen einer Adoption in einer anderen Familie aufwachsen. Bei Zweit- und Drittgradangehörigen ist das Risiko geringer als bei Erstgradangehörigen.

Bei der Alkoholabhängigkeit geht man von einem genetischen Einfluss von bis zu 40 Prozent aus, wobei hierbei kein spezielles Gen verantwortlich ist. Vielmehr sind es mehrere Gene, die bei dieser Erkrankung eine Rolle zu spielen scheinen und jeweils die Wahrscheinlichkeit einer Abhängigkeitsentwicklung erhöhen. Das weitere Risiko wird durch Umweltfaktoren bestimmt, die ihrerseits wiederum einen Einfluss auf die Aktivierung von Risikogenen haben können.

Wohin können sich Menschen wenden, die sich sorgen, eine Sucht zu entwickeln?

Dr. Rainer Holzbach: Von einer Abhängigkeitsentwicklung gefährdete Menschen können in Deutschland verschiedene Angebote wahrnehmen. Hierzu gehören Angebote zur Selbsthilfe für Suchtkranke, Angehörige und Gefährdete. Neben Beratungs- und Informationsangeboten ermöglichen diese eine Begegnung dieser Personengruppen in einer alkoholfreien Atmosphäre. Suchtberatungsstellen sind bei der Beratung von Suchtproblemen aktiv, vermitteln gegebenenfalls ambulante und stationäre Therapien und sind bei der Klärung finanzieller und rechtlicher Fragen behilflich. Vitos Kurhessen bietet neben auf Abhängigkeitserkrankungen spezialisierten stationären und teilstationären Angeboten auch niederschwellige ambulante Sprechstunden für abhängigkeitserkrankte Menschen an.

Das Problem liegt jedoch oft darin, dass Betroffene solche Angebote häufig erst erreichen, wenn die Abhängigkeitsentwicklung bereits fortgeschritten ist und mit erheblichen gesundheitlichen sowie sozialen Konsequenzen einhergeht. Der Grund liegt vielfach darin, dass Betroffene das eigene Suchtverhalten häufig erst spät wahrnehmen. Zudem sind suchtmittelabhängige Menschen gesellschaftlich von Stigmatisierung betroffen, was das Bekenntnis zur eigenen Suchtproblematik erschwert. Außerdem stabilisieren Angehörige häufig das abhängige Verhalten.

Warum ist es so schwer, sich von der Sucht zu befreien?

Dr. Rainer Holzbach: Die Entwicklung von Abhängigkeitserkrankungen ist ein sehr komplexer Prozess. Die stimulierende und euphorisierende Wirkung des Alkohols beziehungsweise den Abbau von Anspannung und Beruhigung führen zu einer positiven Verstärkung des Trinkverhaltens. Dadurch finden neurobiologische Vorgänge statt, die das Gehirn nachhaltig verändern. Hierdurch entstehen Veränderungen im Bereich der Reizverarbeitung sowie kognitiver und emotionaler Prozesse, die das Suchtverhalten aufrechterhalten und weiter verstärken. Eine besondere Rolle spielen Strukturen, wie das Belohnungssystem. Der Anblick eines Glases Wein führt dann beispielsweise zu einer schwer kontrollierbaren Verhaltensaktivierung in Richtung Suchtmittelkonsum. Das macht es den Betroffenen schwer, sich von ihrer Sucht zu lösen, sodass sie hierfür auf therapeutische Hilfe angewiesen sind.

Was passiert in der Therapie?

Dr. Rainer Holzbach: Die Therapie besteht aus verschiedenen Bestandteilen. Bei Vitos Kurhessen haben wir hierfür hoch spezialisierte Stationen zur Behandlung der Alkoholabhängigkeit beziehungsweise anderer Abhängigkeitserkrankungen. In einem Schwerpunktbereich behandeln wir neben der Abhängigkeitserkrankung auch komorbide Störungen, das heißt, gleichzeitig vorhandene weitere psychische Erkrankungen, wie beispielsweise Psychosen oder Depressionen.

Die Therapie der Alkoholabhängigkeit gliedert sich in eine Akutbehandlung und eine Postakut- sowie Entwöhnungstherapie. Die Akuttherapie, die meist stationär stattfindet, umfasst die Behandlung von körperlichen und psychischen Entzugssymptomen. Hierbei ist meist eine pharmakologische Behandlung notwendig, um die Entzugsbeschwerden zu lindern und die Wahrscheinlichkeit von Komplikationen, wie Krampfanfällen oder Delirien, zu vermindern. Unter einem Delir versteht man eine Erkrankung mit schweren Bewusstseinsstörungen und unter anderem Unruhe, Orientierungs- sowie Denkstörungen. Die Betroffenen halluzinieren und sehen beispielsweise physikalisch nicht nachweisbare Objekte oder ganze Szenen. Delirien gehen unbehandelt mit einem erhöhten Sterberisiko einher. Umso wichtiger ist es, dass wir diese in einer mit diesem Krankheitsbild vertrauten Einrichtung fachgerecht behandeln.

Die qualifizierte Entzugsbehandlung, die wir in der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bad Emstal anbieten, geht über die körperliche Entgiftung hinaus und schließt psycho- und sozialtherapeutische Interventionen mit ein. Neben psychoedukativen Maßnahmen, die wichtige Informationen über die Erkrankung vermitteln sowie die Auseinandersetzung der Betroffenen mit der Erkrankung fördern, finden Interventionen für den Aufbau einer Veränderungsmotivation im Rahmen von Einzel- und Gruppentherapien statt. Gegebenenfalls bereiten wir weitere Maßnahmen vor, wie eine tagesklinische Behandlung und/oder eine medizinische Rehabilitation beziehungsweise die Vermittlung in das ambulante Suchthilfesystem. Ziel ist hier auch eine berufliche und soziale Wiedereingliederung der Patient/-innen. Für jeden Patienten erarbeiten wir hierbei einen individuellen Therapie- beziehungsweise Eingliederungsplan.

Häufig ist es wichtig, dass wir die qualifizierte Entzugsbehandlung möglichst nahtlos in eine Entwöhnungstherapie im Sinne einer Langzeitbehandlung überleiten, um eine längerfristige Abstinenz zu sichern. Hier spricht man vom sogenannten Nahtlosverfahren.

Wovon hängt es ab, ob eine Therapie erfolgreich ist oder nicht?

Dr. Rainer Holzbach: Um eine längerfristige Abstinenz zu erreichen, sind meist umfassende Maßnahmen im (teil)stationären, ambulanten und rehabilitativen Bereich sowie bei der sozialen sowie beruflichen Teilhabe erforderlich. Während der Verhaltenstherapie analysieren wir das problematische Verhalten des Alkoholkonsums und erarbeiten eine für beide Seiten verbindliche Zielplanung. Ob eine Therapie wirksam ist, hängt immer auch von der Motivation des oder der Betroffenen ab. Entscheidend sind zudem die Qualität der Therapie sowie ihre niedrigschwellige Erreichbarkeit. Wir bei Vitos Kurhessen verfolgen hierbei den Ansatz der motivierenden Gesprächsführung mit dem Ziel, bei den Betroffenen die Motivation zur Verhaltensänderung aufzubauen. Weiterhin ist die Einbeziehung des sozialen Systems, wie der Angehörigen, in die Therapie häufig von großer Bedeutung. Denn sie tragen oft maßgeblich zum Erfolg der Therapie bei und weisen häufig auch selbst ein Suchtverhalten auf.

Link zum Klinikprofil: https://www.vitos.de/gesellschaften/vitos-kurhessen/einrichtungen/vitos-klinik-fuer-psychiatrie-und-psychotherapie-bad-emstal/klinikprofil [1]