Anhaltende Trauerstörung

Anhaltende Trauerstörung

Was tun, wenn die Trauer nicht endet?

Dass wir auf den Tod einer uns nahestehenden Person mit einem starken Schock, dem Gefühl, dass die Zeit für uns stehen bleibt, während alle anderen wie gehabt weitermachen, tiefer Traurigkeit und Verzweiflung, Sehnsucht, einem Freude- und Interessenverlust und phasenweisem Rückzug reagieren, ist eine sehr normale und gesunde Reaktion. Was aber ist, wenn sich das eigene Leben viele Monate oder Jahre nach dem erlebten Verlust noch immer im Stillstand befindet? Dann könnte ein Hinweis auf eine sogenannte anhaltende Trauerstörung (ATS) vorliegen. Darüber möchte ich im Folgenden ausführlicher berichten, um Betroffene darin zu bestärken, sich professionelle Hilfe zu suchen.

Trauer als natürliche Reaktion

Trauerreaktionen begegnet uns allen, manchen früher, manchen später, aber niemand kommt an ihnen vorbei. Wenn wir um die verstorbene Person trauern, drücken wir damit ganz automatisch aus, wie bedeutsam sie in unserem Leben war. Und da dieser für uns wertvolle Mensch gestorben ist, benötigen wir die Trauer, um den Verlust zu realisieren, zu verarbeiten, in unsere Gedanken- und Gefühlswelt zu integrieren und letztendlich unseren ganz eigenen Weg zu finden, wie wir trotz oder besser ausgedrückt mit diesem Verlust unsere Zukunft gestalten wollen. Wie so oft im Leben wird also bei einem Trauerfall ein enormer Anpassungsprozess an die neue Lebenssituation von uns gefordert, beispielsweise, wenn wir unseren Ehepartner verlieren und nun sowohl als Einzelperson zurechtkommen müssen als auch unsere Kinder weiter zu versorgen sind.

Wenn die Trauer ins Stocken gerät

Trauern bedeutet für die meisten Menschen viel Schmerz. Ich möchte aber alle dazu ermutigen, sich diesem Schmerz zu stellen, denn auf diesem Wege wird die Trauer ein dynamischer Prozess sein, das heißt wir als Trauernde „in Bewegung“ sein, um am Ende die oben geschilderte Akzeptanz und Neuorientierung erreichen und das eigene Leben weiter aktiv gestalten zu können. Manchmal ist das aber gar nicht so leicht. Es kann passieren, dass man nicht in eine fortlaufende Trauerreaktion gerät, sondern – so haben es mir Patient/-innen immer wieder geschildert – auch viele Monate oder Jahre nach dem erlebten Verlust in eine Art Stocken oder in einen Stillstand gelangt. Hier könnte ein Hinweis auf eine sogenannte anhaltende Trauerstörung (ATS) vorliegen.

Merkmale der anhaltenden Trauerstörung – wenn die „Pause-Taste“ gedrückt wird

Bei der anhaltenden Trauerstörung sind die Sehnsucht nach der verstorbenen Person oder die gedankliche sowie emotionale Beschäftigung mit dem Verlust besonders anhaltend und ausgeprägt (sogenannte Kernsymptome). Im eigenen Leben dreht sich förmlich alles um den erlebten Todesfall und dessen Folgen, das restliche Leben tritt auf Dauer (mindestens sechs Monate) sehr stark in den Hintergrund. Neben sehr natürlichen Gefühlen wie Traurigkeit, Schuldgefühlen und Ärger mischen sich dann sehr häufig Schuldzuweisungen (zum Beispiel gegenüber der verstorbenen Person, sich selbst oder Ärzten), das Gefühl, einen Teil von sich selbst verloren zu haben, eine starke Tendenz zur Verleugnung des Geschehenen oder ausgeprägte Schwierigkeiten, den Tod des nahestehenden Menschen zu akzeptieren, dazu. Viele Betroffene beschreiben darüber hinaus, einen starken Drang zu verspüren, mit dem Verstorbenen wieder vereint zu sein oder eine emotionale Taubheit zu empfinden. Manche Trauernde tun sich außerdem sehr schwer damit, das eigene Zuhause wieder mehr zu verlassen sowie sich auf Begegnungen beziehungsweise Beziehungen mit anderen Personen einzulassen. Der Schockzustand, das Nicht-wahr-haben-Können, bleibt sozusagen fortwährend bestehen und zugleich erfolgt eine zunehmende soziale Isolation.

Viele Menschen, die eine anhaltende Trauerreaktion erleiden, haben unbewusst wie auf eine Pause-Taste gedrückt. Das zeigt sich dann zum Beispiel daran, dass auch nachdem viele Monate bis Jahre seit dem Verlust vergangen sind, die Kleidungsstücke der geliebten Person unberührt in den Schränken hängen, die zuletzt gelesene Zeitung noch aufgeklappt auf dem Tisch liegt und alles vermieden wird, um sich dem Loslassen und Abschiednehmen zu stellen (zum Beispiel Gespräche über die verstorbene Person oder den Tod im Allgemeinen, Betreten bestimmter Zimmer, Aussortieren der Habseligkeiten, Veränderungen des Wohnraums). Auch sehr häufige Friedhofsbesuche, wiederkehrende negative Gedanken über die Zukunft oder das Festhalten an der Trauer aus Angst, die verstorbene Person sonst zu vergessen oder ihr in den Rücken zu fallen, können Ausdruck einer anhaltenden Trauerstörung sein. Für die Diagnose oder vielmehr die Behandlung müssen nach den aktuellen Richtlinien – bis auf die Kernsymptome und das sogenannte Zeitkriterium – nicht alle beschriebenen Merkmale vorliegen, so dass auch nur Teilaspekte zutreffen können, um sich Unterstützung bei einer angemessenen Trauerbewältigung holen zu können.

Psychotherapie als Unterstützung bei der Trauerbewältigung – die „Play-Taste“ bedienen

Ich wünsche keinem Menschen, dass sein Leben im dauerhaften Pause-Modus stattfindet. Ich habe erlebt, wie heilsam es für Betroffene sein kann, sich mit der eigenen Trauer therapeutisch begleitet intensiver auseinanderzusetzen.  Deshalb möchte ich aufzeigen, dass Psychotherapie eine sehr hilfreiche Möglichkeit sein kann, Symptome einer anhaltenden Trauerstörung zu mindern und Stück für Stück eine integrative Trauerbewältigung zu finden, so dass – wenn vielleicht auch zunächst zaghaft – wieder die Play-Taste gedrückt werden kann.

Teil der Psychotherapie ist es, einen Blick darauf zu werfen, welche Faktoren dazu beigetragen haben, dass einem der Anpassungsprozess an den erlebten Verlust so schwerfällt. Das können zum Beispiel Risikofaktoren, wie eine besonders enge Bindung zum Verstorbenen oder ein unnatürlicher Tod, sein. Gleichzeitig geht es während der Therapie darum, den eigenen Gedanken und Gefühlen Raum zu geben, sehr häufig als Begleiterscheinung auftretende Schamgefühle abzubauen, die eigentliche Trauerverarbeitung zu verbessern und Vermeidungsverhalten zu reduzieren. Betroffene lernen, die neue Realität ohne den Verstorbenen mehr zu akzeptieren und die Beziehung zur so sehr vermissten Person neu einzuordnen (zum Beispiel „Er bleibt immer in meinem Herzen und in meiner Erinnerung, auch wenn er körperlich nicht mehr da ist.“). Nicht zuletzt geht es auch darum, eigene Lebenswünsche und –ziele wieder mehr ins Auge zu fassen.

Es können ganz unterschiedliche therapeutische Interventionen zum Einsatz kommen, von sehr schonend (zum Beispiel Aufklärung, Erstellung einer Lebenslinie) bis konfrontativ (zum Beispiel Expositionstraining, Erstellung von Notfallplänen für besonders schwierige Zeiten wie Jahrestage), immer angepasst an individuelle Bedürfnisse und Grenzen. Trauer folgt keinem festen Drehbuch wie in der Filmindustrie und Trauer braucht ihre Zeit. Gleichzeitig ist es nicht notwendig, in der eigenen Trauerreaktion zu verharren, denn sonst kommt es nicht zur Verarbeitung des Verlustes. Es werden auf lange Sicht auch positive Gefühle immer mehr blockiert und es können sich Folgeerkrankungen aus dem psychosomatischen Behandlungsspektrum ausbilden beziehungsweise verstärken – zum Beispiel eine Depression, eine Somatisierungsstörung (z.B. mit Verdauungsbeschwerden oder Herz-Kreislauf-Problemen), für die es keine ausreichend erklärenden körperlichen Ursachen gibt, oder auch chronische Schmerzen.

Wenn Sie sich im Beschriebenen wiederfinden und verspüren, sich mit psychotherapeutischer Begleitung mehr mit Ihrer Trauer auseinandersetzen zu wollen, besteht diese Möglichkeit in der Vitos Klinik für Psychosomatik Herborn. Gerne können Sie sich beim Vitos Aufnahmeservice Psychosomatik melden und um ein Vorgespräch bitten (Telefon: 0 800 – 8 48 67 00, kostenlos).

Autor/-in
Janine Hillmann