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Auch die „harten Männer“ können psychisch krank werden

Mental-Health-Influencer und Ärztlicher Direktor im Interview

Mental-Health-Influencer Christian Durstewitz und der Ärztliche Direktor Prof. Dr. Florian Metzger sprechen über die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen und den Beginn der Enttabuisierung

Als Rockmusiker stand Christian Durstewitz mit Entertainer Stefan Raab und dem deutschen Mega-Star Lena Meyer-Landrut auf der Bühne und vor der Fernsehkamera, als Mental-Helath-Influencer zählt er auf Instagram und TikTok inzwischen fast 300.000 Follower zu seiner Community. Doch der Sonnyboy kennt auch Schatten im Leben. Durstewitz bekennt sich offen zu seiner schweren Depression. Und er gibt den Menschen eine Stimme, die sich nicht trauen, offen mit ihrer Erkrankung umzugehen. Seine Aufklärungsvideos über psychische Erkrankungen sind millionenfach geklickt. Jetzt hat der Waldeck-Frankenberger ein neues Format auf Youtube gestartet: „Antidepressiva – von Glück und anderen psychischen Krankheiten“ heißt der Videopodcast, in dem Prof. Dr. Florian Metzger, Ärztlicher Direktor des Vitos Klinikums Haina, als Experte zu Wort kommt.

Herr Metzger, bundesweit erfüllt mehr als jeder vierte Erwachsene im Zeitraum eines Jahres die Kriterien einer psychischen Erkrankung. Psychische Erkrankungen sind also eine Volkskrankheit – und doch waren sie über viele Jahre ein Tabuthema. Auch aus der Historie heraus: Was sind überhaupt die Gründe dafür, dass psychische Krankheiten im Gegensatz zu anderen Krankheiten mit einem Stigma belegt sind?

Metzger: Früher wusste man weder, wie man mit psychischen Erkrankungen umgehen kann, noch, dass man sie überhaupt therapieren kann. Da gab es diese klassische Vorstellung: Psychisch Kranke, das sind die Irren. In den vergangenen 150 Jahren haben wir eine deutliche Entwicklung erlebt – begründet auf der Erkenntnis, dass psychische Erkrankungen beeinflusst werden können – und dass psychische Erkrankungen tatsächlich Erkrankungen im eigentlichen Sinne sind. Dass da etwas anders im Körper, genauer gesagt im Gehirn, ist. Psychische Erkrankungen sind die Erkrankungen, bei denen man ohne operieren zu müssen, die besten Erfolgschancen auf Linderung hat: durch Medikamente, Psychotherapie oder andere Therapieansätze

Herr Durstewitz, Angststörungen, Panikattacken – die Erkrankung an sich hat Ihr Leben ja schon erheblich beeinflusst. Welchen zusätzlichen Einfluss auf Ihre mentale Gesundheit hatte der Fakt, dass über psychische Erkrankungen nun mal in der Gesellschaft anders gesprochen wird als über andere Erkrankungen?

Durstewitz: Einen ganz großen Einfluss, vor allem in der Zeit, in der bei mir die Erkrankung ausgebrochen ist. Da wusste ich einfach nicht, wie ich die Symptome zu deuten habe. Ich war ziemlich hilflos, trotz der sehr deutlichen körperlichen Symptome. Ich bin von einem Arzt zum nächsten gerannt – ohne die richtige Hilfe zu bekommen. Hätte ich früher gewusst, dass ich psychisch krank bin, und hätte ich früher die richtige Unterstützung bekommen, wäre es sicherlich nicht so schlimm geworden.

Zu der Zeit ist über psychische Erkrankungen noch viel weniger gesprochen worden als heute. Diese Erfahrungen sind auch der Grund, warum ich die Aufklärungsvideos mache. Mir ist es ein Anliegen, den Menschen mitzuteilen, dass bestimmte Symptome klare Anzeigen für eine psychische Erkrankung sind. Ich möchte die Botschaft vermitteln: Wenn es jemandem schlecht geht, ist der Gang zum Arzt der richtige Weg. Und trotz der Stigmatisierung von psychischen Krankheiten ist es alternativlos, sich ärztliche Hilfe zu suchen.

Herr Durstewitz, konkret nachgefragt: Haben Sie den Weg zum Psychiater wegen der Tabuisierung und Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen gescheut?

Durstewitz: Eindeutig. Damals war noch die Haltung: Entweder du reißt dich zusammen oder du bist ein schwaches Sensibelchen. Bei mir als Künstler war es sogar noch extremer: Als Rockmusiker auf der Bühne hatte ich einen Stempel. Der erste Reflex war deshalb: Reiß dich zusammen und zeig, dass du ein starker Charakter bist. Ich hatte ein starkes Selbstbewusstsein – und trotzdem war es für mich unfassbar schwer, mir selber einzugestehen, dass ich psychisch krank bin. Auch ich habe gedacht: psychische Erkrankungen – nur schwache Menschen trifft das. Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen ist es mir heute auch so wichtig, darüber aufzuklären, dass jeder Mensch an der Psyche erkranken kann. Mit den Videos will ich zeigen: Ich sitze vor der Kamera, ich bin selbstbewusst und spreche frei vor vielen Menschen. Ich bin stark. Und trotzdem bin ich psychisch krank. Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun.

Herr Durstewitz, was belastete in dieser Phase mehr: die Scham, über die Erkrankung zu sprechen, oder die Unwissenheit der Mitmenschen, adäquat mit einem psychisch kranken Menschen umzugehen?

Mental-Health-Influencer Christian Durstewitz

Durstewitz: Beides hält sich die Waage. Auf der einen Seite war es überhaupt erst mal schwer für mich, darüber zu sprechen. Aber ich habe irgendwann festgestellt: Die Energie, die ich dafür brauche, um mich zu verstecken, könnte ich eher investieren, um wieder gesund zu werden. Das hat aber eine lange Zeit gebraucht. Insbesondere für Angehörige ist es sehr schwer, einen Umgang mit der Erkrankung zu finden. Denn die Angehörigen kennen weder die Symptome, noch wissen sie, damit umzugehen. Und als Betroffener weiß man nicht genau, wie man es erklären soll, weil man selber nicht weiß, was in einem vorgeht.

Herr Metzger, wie unterstützen Sie als Arzt Ihre Patientinnen und Patienten dabei, mit den psychosozialen Herausforderungen umzugehen?

Metzger: Das ist ein Teil der Therapie. Der Umgang mit der Erkrankung, – ob in der Öffentlichkeit, im Arbeitsleben oder in der Familie – die Auseinandersetzung mit der psychischen Erkrankung ist wichtiger Bestandteil der Psychotherapie.

Herr Durstewitz, Sie haben für sich die Entscheidung getroffen, nicht nur in ihrem engen Umfeld, sondern ganz öffentlich über die Erkrankung zu sprechen. Wie viel Überwindung kostete das?

Durstewitz: Ich habe lange gebraucht, bis ich über meine Erkrankung sprechen konnte. So richtig war das erst nach der akuten Phase möglich. Je offener ich mich artikulieren konnte, umso besser habe ich mich gefühlt. So richtig öffentlich habe ich meine Erkrankung dann während Corona gemacht. Es stand gerade der erste Lockdown bevor. Als Person des öffentlichen Lebens habe ich mir gesagt: Ok, ich habe eine Verantwortung. Ich wollte die Menschen, für die eine psychische Erkrankung, aufgrund des Lockdowns, besonders dramatisch ist, in ihrer Situation unterstützen und ihnen Mut machen.

Herr Durstewitz, der Applaus ist das Brot des Künstlers. Welchen Einfluss haben Views, Likes und positive oder kritische Kommentare auf Ihre Gemütslage?

Durstewitz: Das ist total unterschiedlich. Vor meiner Erkrankung war ich stark. Als Künstler haben mich Hasskommentare nicht interessiert. Jetzt ist es anders: Ich rede heute nicht über meine Kunst, sondern über mich selber, über eine Krankheit, mit der ich lange gekämpft habe oder immer noch kämpfe. Wenn ich jetzt Kritik bekomme, bin ich tatsächlich dünnhäutiger. Ich muss aber auch sagen, dass die Kritik an dem, was ich jetzt mache, weit weniger laut ist. Da gibt es nur ganz wenige Menschen, die echt noch den Mut haben, öffentlich gegen psychische Krankheiten zu schreiben. Allerdings habe ich das Glück, dass die Community ebenfalls reagiert und mir zur Seite springt.

Herr Durstewitz, Ihre Videos werden zum Teil hundertausendfach angesehen. Spüren Sie die Verantwortung?

Durstewitz: Ja, auf jeden Fall. Für meine Community bin ich fast schon der große Bruder. Ich bin zwar Betroffener, aber eben kein Arzt. Und deshalb habe ich natürlich Angst, Fehler zu machen. Fehler in der Form, dass Menschen in meine Aussagen etwas hineininterpretieren, was ich so nicht gemeint habe. Wenn ich als Musiker einen Fehler gemacht habe, habe ich vielleicht einen Ton schief gesungen. Das war aber nicht schlimm. Wenn ich jetzt beispielsweise in einem Video über Suizidalität etwas Falsches suggeriere, dann kann der Schaden deutlich größer sein. Alles, was ich äußere, tue ich mit höchstem Verantwortungsbewusstsein.

Herr Durstewitz, Ruhm hat häufig auch Schattenseiten. Sehen Sie diese?

Durstewitz: Klar, je größer die Community wird, desto häufiger sind auch kritische Stimmen. Vielleicht denken auch manche Leute, ich würde all dies nur machen, um berühmt zu werden. Bei allen Fernsehauftritten oder Erfolgen in Social Media ist meine Motivation unverändert: Ich möchte aufklären und die Menschen erreichen, die ich noch nicht erreicht habe. Immer mit der Botschaft: Du bist mit deiner Erkrankung nicht alleine.

Herr Metzger, welchen Einfluss auf die Genesung oder den Umgang mit der Erkrankung hat diese sehr individuelle Entscheidung, im weltweiten Internet die Gefühlswelt zu offenbaren?

Ärztlicher Direktor Prof. Dr. Florian Metzger

Metzger: Solange man eine gesunde Grenze hat, ist das durchaus in Ordnung und gut machbar. Es ist nur wichtig, dass man sich nicht davon abhängig macht, denn dann wird es gefährlich. Man sollte aufpassen, dass eine Reaktion auf eine gepostete Gefühlslage nicht wieder zu einem mentalen Einbruch führt. Wenn eine gewisse Privatsphäre gewahrt bleibt und auch eine gewisse Unabhängigkeit von den Reaktionen der Öffentlichkeit besteht, spricht wenig gegen diesen öffentlichen Umgang mit der eigenen psychischen Erkrankung.

Herr Durstewitz, haben Sie Grenzen für sich definiert? Gibt es Facetten ihrer Erkrankung, die privat bleiben?

Durstewitz: Auf jeden Fall, gerade wenn es um die persönlichen Auslöser für meine Erkrankung geht. Oder um die Trigger, die heute noch Einfluss auf mein Leben haben – dies hat niemanden zu interessieren. Ich sage meiner Community in meinen Videos auch immer: ihr müsst nicht sagen, warum ihr psychisch krank seid. Das geht niemanden etwas an.

Ich kenne meine Grenzen und ich mache regelmäßig Social-Media-Pausen, in denen ich zwei oder drei Wochen Auszeit nehme. Meistens erhalte ich dann Nachfragen, wann endlich das nächste Video kommt. Ich antworte dann immer: Ja, mit meinen Videos will ich euch die Augen öffnen und auch ein bisschen helfen. Aber die eigentliche Hilfe kann nicht von mir, sondern nur von Experten kommen. Das ist ganz wichtig und diese Botschaft mache ich in meinen Videos auch immer wieder deutlich.

Herr Durstewitz, über seelische Gesundheit wird gefühlt so viel gesprochen wie nie zuvor. Haben Sie das Gefühl, dass sich die öffentliche Wahrnehmung und das Verständnis von psychischen Erkrankungen in den vergangenen Jahren verändert haben?

Durstewitz: Die deutlichste Veränderung habe ich in der Community selber, also unter uns Betroffenen, vernommen. Immer mehr Menschen, von denen man es überhaupt nicht erwartet, gehen mittlerweile an die Öffentlichkeit. Diese Entwicklung hat die Wahrnehmung schon massiv verändert. Mittlerweile hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass nicht nur die vermeintlichen „Sensibelchen“, sondern auch die „harten Männer“ psychisch krank werden können. Diese Entwicklung ist schon eine große Hilfe für Betroffene. Nach dem Motto: Ok, wenn der krank ist, dann darf ich auch krank sein. In der Community selber ist meiner Meinung nach in den vergangenen zehn Jahren ein ganz anderes Selbstbewusstsein entstanden. Als Beleg möchte ich Kurt Krömer nennen, der für seine Erklärung, dass er depressiv ist, sogar einen Medienpreis bekommen hat. Es sind genau diese Zeichen, die wir heute brauchen.

Herr Metzger, wie kann eine endgültige Entstigmatisierung psychischer Krankheiten gelingen?

Metzger: Die endgültige Entstigmatisierung werden wir nicht erreichen, aber ein Zurückdrängen der Stigmatisierung, da sind wir gerade in einem sehr guten Prozess. Es wird gesellschaftlich akzeptiert, dass psychische Erkrankungen einfach Erkrankungen sind, die manchmal chronisch, manchmal nicht chronisch verlaufen. Vor allem wichtig: Dass man die Erkrankungen sehr gut behandeln kann – und zwar mit unterschiedlichen Methoden. Das Fazit: Psychische Krankheiten sind letztendlich Krankheiten wie somatische Erkrankungen – nur mit anderen Symptomen.

Herr Metzger, und welchen Effekt hätte dies auf den Genesungsprozess von psychisch kranken Menschen?

Metzger: Dass Menschen mit ihren psychischen Erkrankungen ein genauso „normales Leben“ führen können. Ein Leben mit der Erkrankung, aber ohne gesellschaftlich bedingte Einschränkungen. Das heißt aber nicht, dass in Zukunft alle chronischen psychischen Erkrankungen verschwunden sein werden. Aber wir können uns auf den medizinisch-psychologischen Aspekt konzentrieren und nicht noch auf das gesellschaftliche Drumherum.

Durstewitz: Die Einschätzung möchte ich bestätigen. Aus eigener Erfahrung kann ich berichten, dass mir manchmal meine Depression erzählen möchte, dass ich nicht gut genug bin. Wenn ich jetzt aber zu meiner Erkrankung stehen kann und mir auch die Öffentlichkeit sagt, ja, du hast eine Krankheit, aber du kannst daran arbeiten, dann sind wir alle schon ein ganzes Stück weiter. Es ist total wichtig, dass ich im Alltag das tue, was mir guttut – und dass ich mich nicht verstecken muss. Diese gesellschaftliche Veränderung ist mit das Wichtigste und unterstützt die Genesung enorm.

 

Der neue Videopodcast ist zu sehen –