„Betätigung ist für das Leben so wichtig wie Essen und Trinken“

Ergotherapie in der vitos Klinik Eichberg

„Betätigung ist für das Leben so wichtig wie Essen und Trinken“

Barbara Kroll, Leiterin der Ergotherapie an der Vitos Klinik Eichberg, berichtet von ihrer Arbeit

Wer das Haus 3 auf dem Klinikgelände von Vitos Rheingau betritt, erlebt kreative Werkstattatmopshäre: In den Regalen stehen Farbtöpfe neben Kisten mit Speckstein, liegt Material zum Töpfern und Körbeflechten. An den Wänden sind farb-bekleckste Staffeleien aus Holz angebracht. In dem 1883 errichteten Gebäude befinden sich die Räume der Ergo- und Kunsttherapie. Hier arbeitet Barbara Kroll. Die Beschäftigungs- und Arbeitstherapeutin leitet die Ergotherapie. Im Interview schildert sie, wie das Behandlungsangebot aussieht und wie die Patientinnen und Patienten davon profitieren.

Was machen die Patientinnen und Patienten in der Ergotherapie?

Barbara Kroll: Das Wort „Ergo“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet Tat, Arbeit, Beschäftigung. In der Ergotherapie geht es also darum, tätig zu werden. Betätigung ist für das Leben ebenso nötig wie Essen und Trinken. Alle Menschen sollten sowohl körperlichen als auch geistigen Beschäftigungen nachgehen oder Hobbys haben, an denen sie Freude haben.

Barbara Kroll

Barbara Kroll leitet die Ergotherapie der Vitos Klinik Eichberg.

Wir arbeiten hier noch weitgehend klassisch, also sehr handwerks- und gestaltungsorientiert. Gemeinsam mit den Patienten versuchen wir, herauszufinden, welches „Hand-Werk“ ihnen Spaß machen könnte. Unser Angebot ist breitgefächert. Bei uns können sie malen in jeglicher Form, Körbe flechten, Bücher binden, Speckstein bearbeiten, töpfern, mit Holz arbeiten, nähen, stricken, häkeln – um nur einige Beispiele zu nennen. Womöglich entdecken sie so verschüttgegangene Hobbys wieder oder sie finden an etwas völlig Neuem Freude. Die Patienten haben genug Zeit, verschiedene Techniken auszuprobieren.

Die Patienten aus dem Akutbereich der Erwachsenenpsychiatrie sehen wir fast täglich. Im Schnitt sind sie fünf Mal die Woche bei uns. Die Behandlung findet hauptsächlich in Gruppen statt.

Wie finden die Patienten aus dieser breitgefächerten Palette die Beschäftigung, die am besten für sie passt?

Kroll: Wir fragen die Patienten ganz einfach, was sie heute machen wollen. Ganz wichtig ist ihre Tagesform. An einem Tag möchte ein Patient töpfern, an einem anderen aber lieber ein Mandala ausmalen. Es macht keinen Sinn, Menschen zu einer Technik zu zwingen, zu der sie nichts hinzieht.

Anregungen finden unsere Patienten leicht: Zum einen geben wir natürlich Hilfestellung, zum andere haben wir zig Bücher mit vielen Motiven. Menschen, die gerne malen möchten, aber sich noch nicht so viel zutrauen, können zunächst nach Vorgaben malen. Später malen sie dann freier, sie experimentieren mit Formen und Farben und wagen Eigenes.

Wie begleiten Sie als Ergotherapeutin die Patientinnen und Patienten dabei?

Kroll: Wenn sich die Patienten zu einer Technik entschieden haben, machen sie sich ans Werk. Über das Werk kommen wir dann mit ihnen in Kontakt und ins Gespräch. Wir unterstützen bei Bedarf. Manche überschätzen sich und ihre Fähigkeiten, andere unterschätzen sich. Beim Arbeiten in der Ergotherapie geht es auch um Frustrationstoleranz. Gemeinsam reflektieren wir: Wie geht man mit Aufgaben um? Gibt jemand schnell frustriert auf? Beginnt derjenige mit etwas Neuem, nur um das Neue auch wieder sehr schnell fallenzulassen? Tendiert er dazu, nicht dranzubleiben oder verbeißt er sich im Gegenteil? Sie lernen durch das Arbeiten an ihrem Objekt und die anschließende Reflexion, handelnd ein Problem zu lösen. Wann macht es Sinn, mal länger an einer Sache dranzubleiben, zum Beispiel, indem man eine andere Flechtart ausprobiert? In Ordnung ist aber auch die Schlussfolgerung: “Okay, das liegt mir einfach nicht. Ich probiere mal was ganz anderes aus.“

Was tun Sie, wenn ein Patient oder eine Patientin zunächst keinen Zugang zu Ihrem Angebot findet?

Kroll: Bei uns wird niemand zu etwas gezwungen. Jeder Mensch ist sein eigener Experte. Patienten, die der Ergotherapie ablehnend gegenüberstehen, fragen wir, was sie denn im Moment lieber machen möchten. Kommt dann die Antwort „Spazierengehen“, ermuntern wir sie eben genau dazu. Oder laden sie ein, einfach mal zu schauen, was die anderen aus ihrer Gruppe machen. In der Regel finden sie dann den Zugang zu unserem Angebot. Sie gelangen über kurz oder lang selbst zu dem Schluss, dass sie es zumindest mal probieren können. Manche machen aber auch gerne Hirnleistungsübungen am PC. Auch das ist in Ordnung. So trainieren sie ihre kognitiven Fähigkeiten, ihre Konzentration und das Gedächtnis.

Wie profitieren die Patientinnen und Patienten von der Ergotherapie?

Kroll: Zum einen bietet die Ergotherapie den Patienten während des klinischen Aufenthalts eine atmosphärische Abwechslung. Während die Akutstationen aus therapeutischen Gründen sehr schlicht und reizarm gehalten sind, bietet die Ergotherapie ein gänzlich anderes Umfeld. Diese Abwechslung tut vielen Patienten zwischendurch sehr gut.

Zum anderen wirken unsere Techniken im besten Sinne ablenkend. Nehmen wir Menschen mit quälendem Gedankenkreisen. In der Ergotherapie schaffen sie es, die lästigen Gedanken mal loszulassen und ihre Aufmerksamkeit auf das Werk, an dem sie gerade arbeiten, zu lenken. Für Menschen mit solchen Zwangsgedanken eignet sich zum Beispiel das Buchbinden sehr gut. Das ist ein Prozess, der durch seine zahlreichen Arbeitsschritte viel Konzentration erfordert.

Das Anfertigen von Schmuckstücken wiederum spricht den Tast- und Sehsinn an, denken Sie nur an die Formen und Farben, das Funkeln und Glitzern von Glasperlen.

Menschen, die unter Unruhe leiden, greifen gerne zu Strick- oder Häkelarbeiten. Die immer wiederkehrenden Bewegungen wirken ungemein beruhigend. Wer sich angespannt fühlt, findet Entspannung beim Töpfern. Das Töpfern ist eine wunderbar sinnliche Erfahrung: Man lässt seine Finger gemächlich über das feuchte Material gleiten und bringt dieses behutsam in die gewünschte Form. Beim Formen von nassem Ton kommt kein Zeitdruck auf. Und wenn etwas nicht gelingt, kann man jederzeit den weichen Ton erneut formen und zuschneiden. Einmal kurz mit Wasser eingeweicht, wird auch der härteste Ton wieder formbar.

Ergotherapie

In der Ergotherapie können Patienten unter anderem mit Ton arbeiten.

Menschen, die viel Wut und Ärger in sich spüren, werden sich dagegen eher für eine Specksteinarbeit entscheiden. Für das Bearbeiten braucht man viel Energie. Der Patient kann Gefühle wie Ärger und Wut so gut kanalisieren.

Wir setzen mit unseren Techniken Impulse. Viele Patienten profitieren in ihrem Alltag nach dem Klinikaufenthalt sehr von dem, was sie hier ausprobieren konnten. Und so stellt der ein oder andere zum Beispiel fest, dass er zum Stressabbau jetzt lieber zum Speckstein greift als zur Flasche.

Viele Patienten haben uns auch zurückgemeldet, dass sie durch die Ergotherapie ihr Selbstwertgefühl steigern konnten. Sie haben anhand der fertiggestellten Objekte entdeckt: „Hey, ich kann ja was!“ Das neue Selbstbewusstsein, der Stolz auf das eigene Können wurde noch durch das Lob und die Anerkennung aus der Gruppe verstärkt. Zu Hause machen sie dann mit dem weiter, was sie bei uns gelernt haben.

Welche Rückmeldungen bekommen Sie von den Patientinnen und Patienten?

Kroll: Wir bekommen immer wieder Erfahrungsberichte. So zum Beispiel von Frau J. Die Patientin leidet seit mehr als zehn Jahren unter einer immer wiederkehrenden Depression. Sie wurde zuletzt hier in der Klinik drei Monate lang behandelt. In der Ergotherapie hat sie die Seidenmalerei für sich entdeckt.

Ergotherapie

Perlen werden zu einem Schmuckstück: Viele Patienten entwickeln Stolz auf das, was sie in der Ergotherapie herstellen.

Die Technik hat sie für Zuhause übernommen. Irgendwann begann sie dann, auf Papier zu malen. Das tut ihr sehr gut, wie sie sagt. Denn sie merkt, dass sie kreativ sein kann und Fähigkeiten hat, die sie bislang nicht an sich bemerkte. Im kreativen Prozess ist sie so auf ihre Sache fixiert und in die Tätigkeit eingebunden, dass sie von ihren quälenden Gedanken abgelenkt ist. Beeinträchtigende Dinge, wie zum Beispiel Kälte, nimmt sie dann gar nicht mehr wahr. Und: In Zeiten, in denen sie keine Worte mehr findet, um ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen, nutzt sie die kreativen Techniken als Ausdrucksmittel für ihre Stimmungen und Gefühle. Selbst wenn es ihr sehr schlecht geht, kann sie beim Anblick der Farben Zufriedenheit erfahren.

Sehr berührt hat mich auch die Geschichte von Herrn B. Er ist Computerspezialist bei einer Bundesbehörde. Bei seinen Tonarbeiten in der Ergotherapie stellten wir gemeinsam fest, dass er sich sehr schwer damit tat, Entscheidungen zu fällen. Er steckte auch unglaublich viel Energie in seine Projekte. Diese Beobachtung traf wohl gleichermaßen auf seine Arbeitsweise als Computerexperte zu.

Nach und nach lernte er in der Ergotherapie, seine Entscheidungszeiträume zu verkürzen und seine Arbeiten mit weniger Prüfaufwand fortzuführen. Es gelang ihm, seine Erfahrungen, die er in der Ergotherapie in der Klinik gemacht hat, auf die Anforderungen im Leben außerhalb der Klinik zu übertragen.

Erkennen Sie im Laufe der Zeit Fortschritte bei den Patienten?

Kroll: Ja, das können wir auf jeden Fall feststellen. Wir kommen mit ihnen über das Werk, an dem sie arbeiten, in Kontakt. Wir sehen, wie sie im Laufe der Zeit auftauen und zunehmend in Kontakt mit uns und auch den Mitpatienten gehen. Außerdem stellen wir fest, wie ihr Zutrauen zu den eigenen Fähigkeiten wächst.

Und natürlich dokumentieren wir unsere Beobachtungen. Wir halten zum Beispiel auch fest, wo wir noch Bedarf für eine Weiterbehandlung sehen. Zum Beispiel dann, wenn der Antrieb noch gemindert ist oder es dem Patienten immer noch schwerfällt, eine Entscheidung zu treffen.

Die Ergotherapie zählt zum Basisangebot für Patienten, die stationär bei Vitos sind. Kann das Angebot auch ambulant genutzt werden?

Kroll: Ja, Ergotherapie gibt es nicht nur für Patienten, die stationär bei Vitos sind. Wir haben auch eine ambulante Gruppe, die zunehmend mehr Zuspruch erfährt. Diese trifft sich einmal in der Woche in unseren Räumen. Die Menschen arbeiten an ihren Projekten und reden dabei mit uns und untereinander über ihre Probleme im Alltag. Dieses Angebot kann natürlich nicht jeder nutzen, es ist verschreibungspflichtig. Verschrieben wird die ambulante Ergotherapie von unserer Ambulanz oder von einem niedergelassenen Psychiater als Mitbehandlung im Rahmen einer pharmakologischen oder psychotherapeutischen Behandlung.

Vor der Corona-Pandemie stand unsere Kreativwerkstatt außerdem einmal im Monat für ehemalige Patienten und deren Angehörige sowie unsere Mitarbeiter offen. Im Moment ruht dieses Angebot. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir es wieder anbieten können.

Zur Person: Barbara Kroll arbeitet seit rund 32 Jahren bei Vitos und leitet die Ergotherapie der Vitos Klinik Eichberg. Sechs Kolleginnen gehören zu ihrem Team. Sie selbst trägt noch die Berufsbezeichnung „Beschäftigungs- und Arbeitstherapeutin“. Sie identifiziert sich mit dieser Bezeichnung: „Sie ist für jeden klar verständlich und macht deutlich, worum es geht.“ Die Berufsbezeichnung Beschäftigungs- und Arbeitstherapeut wurde 1999 durch Ergotherapeut/in ersetzt. Die Ausbildung erfolgt an Berufsfachschulen für Ergotherapie oder zunehmend auch als Studiengang an Hochschulen und dauert 3 bzw. 4 Jahre.

Autor/-in
Vitos Blog