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Brauchen Kinder jetzt wirklich Sommerferien?

Über die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen nach dem Corona-Shutdown

Nach einem Schulhalbjahr, in dem es nur wenige Wochen normalen Unterricht gab, haben in Hessen die Sommerferien begonnen. Viele fragen sich, ob den Kindern und Jugendlichen nach dem langen Shutdown eine Unterbrechung von sechs Wochen guttut. Professor Dr. Matthias Wildermuth, Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie, bejaht dies eindeutig und erklärt warum.

Wofür brauchen Kinder und Jugendliche jetzt Ferien? Es ist doch schon so viel Schule ausgefallen seit März 2020 …

Prof. Dr. Matthias Wildermuth: Menschen brauchen Rhythmen, die in Zeiten eingebunden sind: in Jahreszeiten, in Zeiten von Arbeit und Erholung. Für Kinder und Jugendliche sind Schulferien kleine Abbilder dieser großen Rhythmen. Diese Prozesse stärken unsere Gesundheit und sind oft mit Ritualen verbunden, die wir als positiv erleben wollen. Das ist schwerer in Zeiten, in denen ein Shutdown existiert. Viele leben zurückgezogen in ihren Wohnungen, manchmal wie verborgen und damit vom Licht ausgeschlossen. Und manche sind leider schon durch ihre Mediennutzung aus diesen Rhythmen rausgekommen. Das alles schwächt die Kinder noch mehr als die Erwachsenen. Ferien sind in diesem Sinne Ergänzungen zu dem System, etwas für das Leben zu lernen und sich weiter zu entwickeln. Ganz deutlich gesagt: Ferien sind nicht nur Chill-Zeiten, sondern Zeiten von Umspannung, Zeit für anderen Aktivitäten und Interessensverlagerungen. Deshalb sind Ferien auch wichtig, wenn die Kinder in der Schule vorher relativ wenig gefordert worden waren.

War Corona-Frei also keine freie Zeit für Kinder und Jugendliche?

Wildermuth: Ferien sind dann Ferien, wenn sie einen Kontrast darstellen und nicht, wenn sie zu einer Art Zwangsverordnung zum Fernbleiben von Schule benutzt werden. Ferien sind auch daran gebunden, dass die Eltern und Angehörigen diese Zeit als eine Art Erlaubnis zur Erholung wahrnehmen. Die Zeit, in der die Schulen geschlossen waren, war keine Ferienzeit.

Funktionierte denn in der Corona-Zeit die Schule in digitaler Form?

Wildermuth: Schule hat natürlich in einer mehr oder weniger virtuellen Form tatsächlich stattgefunden. Da muss man differenzieren. Zum einen gibt es Kinder und Jugendliche, die in einem bildungsnahen familiären System aufwachsen. Hier wird die virtuelle Form von Schule begleitet und gefördert und bei den Kindern und Jugendlichen mit der nötigen Distanz versehen. So lernen sie ihren Weg eigenständig zu gehen.

In bildungsfernen, sozialpsychiatrischen Systemen, oder in Bereichen, in denen die Erziehungs- und Beziehungsfähigkeit eher durch Passivierung bestimmt ist, sind solche Möglichkeiten nicht gegeben. Hierzu gibt es eine Untersuchung an einer Realschule: Der beste Schüler einer Klasse meinte, er habe 30 Prozent des Stoffes verstanden. Die, die noch weiter abgekoppelt waren, hatten das Gefühl, gar nichts geleistet zu haben.

Werden Jugendliche unter dem Gefühl leiden, dieses Mal mit den Zeugnissen eine unehrliche Einschätzung ihrer Leistung erhalten zu haben?

Wildermuth: Manche werden darunter leiden, manche werden nicht darunter leiden. Das hängt von der sozio-moralischen Entwicklung der Kinder ab. Diejenigen, die ein höher entwickeltes Gewissen ausgebildet haben und wirklich eigenverantwortlich sind, werden das Gefühl haben, nicht genügend bewertet worden zu sein. Sie wissen, dass sie kein prüfendes Gegenüber hatten und somit nicht das bewertet wurde, was ihnen wichtig ist. Sie werden deshalb eine kleine Krise haben. Andere, die denken, das Leben laufe ohnehin nach einem Zufallsprinzip, werden sagen: Wenn ich gut genug für mich geworben habe, dann spielt es keine Rolle, welche Schulnote ich habe.

Brauchen Kinder eine ehrliche Bewertung – auch durch die Schule?

Wildermuth: Jüngere Kinder, die den Anspruch haben, sich zu entwickeln und den Erwartungen der Erwachsenen zu entsprechen, werden natürlich viel Enttäuschung verspüren. Erstklässler, die in den Lockdown reingezogen wurden, haben mittelfristig Lücken in der emotionalen Entwicklung, weil sie das Prinzip, schulreif zu werden, nicht wirklich erfahren haben. Sie erleben sich eher nivelliert. Und wer sich selber eine Zeit lang nivelliert erlebt, nivelliert auch wirklich selber.

Wie wichtig ist die Begleitung der Kinder und Jugendlichen in der Zeit von Corona durch die Lehrer?

Wildermuth: Für alle Kinder und Jugendliche war es wichtig, ob Lehrerinnen und Lehrer z. B. angerufen haben. Gerade in psychosozialen Belastungsfamilien, in denen große Angst vor dem Virus herrschte, sodass die Kinder von ihren Eltern gar nicht begleitet worden sind.

Viel dramatischer ist es für Kinder und Jugendliche, die familiären Spannungen, Krisen und eventuell auch Gefahrmomenten ausgesetzt waren. Zum Beispiel im Fall von Gewalt der Eltern untereinander, der Eltern gegenüber den Kindern oder auch zwischen den Kindern. In solchen Fällen waren Kinder und Jugendliche so stark davon absorbiert, dass für Lernen und Schulstoff kein Platz in ihrem Leben war.

Gibt es verlässliche Daten oder Schätzungen, wie stark sich das Leben in den Familien durch Angst oder Gewalt verändert hat?

Wildermuth: Nicht im großen Maßstab. Wir wissen aber durch eine Untersuchung der Universität von Sheffield in England, dass unmittelbar nach Ankündigung des Lockdowns in Großbritannien wohl ein starker Anstieg von Depression und Angst zu verzeichnen war. Das traf auf etwa 20 Prozent unter 2.000 repräsentativ befragten Personen zu. Hierbei handelt es sich nicht speziell um Kinder und Jugendliche, sondern um die Eltern. Doch je jünger die Kinder sind, desto eher übernehmen sie die unmittelbare Lesart der Wirklichkeit ihrer Eltern. Je stärker die Eltern auf die Belastung reagieren, umso stärker reagieren auch die Kinder. Eine zweite Zahl aus dem Havas-Media-Corona-Monitor besagt, dass die Alkoholkonsumrate um mindestens 14 Prozent gestiegen ist. 20 Prozent der Befragten hatten ihren Alkoholkonsum gesteigert. Besonders Jüngere hätten mehr getrunken und andere Trinkformen entwickelt, wie etwa Trinkspiele oder gemeinsames Anstoßen im Videochat. Außerdem gibt es eine klare Steigerung des Cannabis-Konsums in Staaten, in denen diese Droge legalisiert ist.

Wie haben die Restriktionen, die vor Infektion schützen sollten, die Familien belastet?

Wildermuth: Durch die Corona-Restriktionen sind bestimmte Störungen deutlich häufiger vorgekommen. Es sind fast nie klinische Störungen im engeren Sinne, aber die Angstbereitschaft ist gestiegen und die Stresstoleranz gesunken. Wir haben eine Überanpassung an die Situation beobachtet, also ein auffällig schnelles Reagieren. Das traf sogar auf hyperkinetisch auffälligkeitsgestörte Kinder zu, die sich plötzlich geradezu soldatisch verhalten konnten. Wir konnten auch erkennen, dass nach circa sechs Wochen die Anpassungsfähigkeit an Grenze gestoßen ist und dann auch erhebliche Reizbarkeit entstanden ist. Unter anderem unter Geschwistern, was klassischen Geschwisterthemen, wie Rivalität, aber teilweise auch zu große Nähe bis hin zu inzestuösen Aspekten, geführt hat. Summarisch kann man sagen, dass zunächst die Überanpassung überwog, dann kamen die unklaren Ängste und Verunsicherungen, die ganz häufig im Zusammenhang damit stehen, dass Eltern den Kindern nichts erklärt haben, selbst verunsichert waren und den sozialen Abstieg fürchteten. Manche Eltern sind immer weniger auf ihre Kinder eingegangen. Sie haben teilweise sehr viel für ihre Kinder im Internet bestellt, waren aber nicht verfügbar in dem, was das entscheidende ist: nämlich in der Beziehung.

Hat die Art der Information offizieller Stellen über die Pandemie die Angst beeinflusst?

Wildermuth: Die Angst, die entstanden ist, hat durchaus damit zu tun, wie die Zahlen aufbereitet wurden. Informationspräger wie das Robert Koch Institut, die Medien oder auch Stakeholder wie der Virologe Professor Christian Drosten waren nicht immer so sorgfältig, wie sie es hätten sein müssen. Es war nicht ganz klar, wie die Gefahrenlage für den einzelnen zu beurteilen war. Diese Informationen sind sehr unterschiedlich interpretiert worden. In Angstfamilien zogen sich alle zurück und machten ihre Desinfektionsübungen mit akribischer Genauigkeit. Für Familien im Laissez-fair-Stil oder mit geringer ausgebildetem Gemeinsinn galt: Hauptsache, wir schützen uns. Die Mitglieder solcher Familien dachten unzutreffender Weise, die Maske schütze sie selbst. Daher warfen sie diese achtlos weg, als sie dachten, sie benötigten die Maske nicht mehr zum eigenen Schutz.

 

Hintergrund:

Professor Dr. Matthias Wildermuth ist Ärztlicher Direktor des Vitos Klinikums Herborn, Klinikdirektor der Vitos Klinik für Kinder-Jugend-Psychiatrie und Psychosomatik Hanau (im Bau) sowie der Vitos Klinik Rehberg in Herborn.

Die Vitos Klinik Rehberg ist eine Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie mit Hauptstandort in Herborn. Hier werden seelische Erkrankungen aus dem gesamten Spektrum der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie sämtliche Störungsbilder in allen Schweregraden behandelt, bei denen psychische Ursachen oder Folgen im Vordergrund stehen.

Vitos Herborn hat als gemeinnützige Gesellschaft auch den kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgungsauftrag für die Region Hanau, westlicher Main-Kinzig-Kreis, Offenbach und Kreis Offenbach. Sie betreibt seit vielen Jahren eine kinder- und jugendpsychiatrische Ambulanz und Tagesklinik in Hanau und eine Ambulanz in Gelnhausen. Eine neue Klinik in Hanau wird das Angebot ergänzen. Hier sind die Behandlung aller kinder- und jugendpsychiatrisch relevanten Störungsbilder vorgesehen. Sie nimmt voraussichtlich Ende 2020 den Betrieb auf.

Bildquelle: Vitos