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Cannabis

Risiko für psychiatrische Erkrankungen steigt durch Konsum

Doppelinterview zur Cannabis-Legalisierung mit Birgit von Hecker, Ärztliche Direktorin Vitos Klinik für forensische Psychiatrie Bad Emstal, und Psychologe Mehmet Celik, Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Kassel

Frau von Hecker, Herr Celik, wie häufig sehen Sie eine Cannabis-Abhängigkeit bei Ihren Patientinnen und Patienten?

Birgit von Hecker: Bei uns ist das extrem häufig. Bei 53 von 116 Patienten, die vergangenes Jahr hier stationär untergebracht waren –  inklusive der Patienten im Entlassungsurlaub – wurde eine Cannabis-Abhängigkeit festgestellt.  Bei weiteren 21 gab es eine Mehrfachabhängigkeit und da gehört fast immer auch Cannabis dazu. Bei einigen wenigen ist es die einzige Abhängigkeit. Der Anteil derer, die neben anderen Substanzen auch Cannabis konsumieren, ist aber weitaus höher.

Mehmet Celik: Wir behandeln auch Cannabis-Abhängigkeit, oft konsumieren Kinder und Jugendliche aber diverse Drogen zeitgleich über 6 Monate hinweg, sodass oft eine Polytoxikomanie vorliegt, also eine Mehrfachabhängigkeit. So konsumieren Jugendliche neben Cannabis oft auch Amphetamine, Alkohol und missbrauchen Medikamente. Cannabis ist oft der Vorläufer für andere Substanzen, neben Nikotin ist es die Einstiegsdroge Nummer eins.

Welche Altersklassen sind besonders häufig betroffen?

Celik: Zwischen 13 und 14 Jahren geraten Kinder in den „Probierkonsum“, zwischen 14 und 16 geht es mit dem schädlichen Missbrauch los. Dann sind bereits physisch, psychisch oder sozial schädliche Auswirkungen zu spüren. Die Abhängigkeit sehen wir in der Regel zwischen 15 und 17 Jahren.

Von Hecker: Die 20- bis 30-Jährigen sind insgesamt am häufigsten betroffen. Viele wissen zwar, dass sie eine Substanz nehmen, die abhängig machen kann, aber viele Suchtkranke denken, dass es sie nicht treffen kann. Die Illusion, dass man selber die Kontrolle hat, wenn sie alle anderen nicht haben, kommt häufig bei Suchtkranken vor.

Was passiert in Psyche und Körper der Konsumentinnen und Konsumenten?

Celik: Wird Cannabis konsumiert, wirkt das aufs Belohnungszentrum des Gehirns. Entgegen aller Annahmen ist man nach dem Konsum nicht unbedingt euphorisch. Verstärkt wird die aktuell vorherrschende Grundstimmung. Es kann sich positiv oder auch negativ entwickeln. Umso höher der THC-Gehalt ist, desto negativer können die Auswirkungen sein. Sogenannte „bad trips“ können die Folge sein. Dann spüren die Konsumenten zum Beispiel Ruhelosigkeit, Angst, Orientierungslosigkeit oder auch Sinnestäuschungen.

Von Hecker: Die Patienten nutzen Cannabis üblicherweise, um zu chillen, also zur Entspannung. Viele von ihnen sagen, dass es viel verträglicher sei als Alkohol, denn es gibt am nächsten Tag keinen Kater. Die Patienten, die wir hier behandeln, haben häufig schon eine lange Suchtentwicklung hinter sich, viele empfinden ihren Cannabis-Konsum aber gar nicht so sehr als Abhängigkeit, sie sehen Cannabis eher als Genussmittel.

Celik: Dabei kann der Konsum sogar organmedizinische Auswirkungen haben. Husten, Kurzatmigkeit, Lungeninfektion sind häufige Folgen. Auch deshalb, weil Straßencannabis oft nicht rein ist, sondern gestreckt wird. Auch das Risiko für Herzinfarkte steigt, ebenso für bestimmte Arten von Krebs. Cannabis enthält mehr krebserregende Inhaltsstoffe als Nikotin.

Wie intensiv muss der Konsum sein, damit solche schädlichen Prozesse im Körper ausgelöst werden?

Celik: Wir unterscheiden im klinischen Setting zwischen einer Intoxikation, schädlichem Missbrauch und einer Abhängigkeit. Schon eine einmalige Intoxikation kann schädliche Auswirkungen haben, wenn der THC-Gehalt sehr hoch ist oder die Droge gestreckt wurde. Das kann sich sehr schnell psychisch äußern, beispielsweise in Form einer substanzinduzierten Psychose. Generell spielen die Intensität und Regelmäßigkeit des Konsums eine Rolle.

Welche psychiatrischen Erkrankungen können durch Cannabis-Konsum ausgelöst werden?

Von Hecker: Es ist bekannt, dass bestimmte psychiatrische Erkrankungen durch Cannabis-Konsum deutlich häufiger und auch früher auftreten. Dazu gehört die Schizophrenie. Ungefähr ein Prozent der weltweiten Bevölkerung trägt eine Veranlagung für diese Erkrankung in sich. Es kann passieren, dass man die Krankheit trotzdem nicht bekommt, wenn man unter sehr günstigen Bedingungen lebt. Wenn man aber unter sehr ungünstigen Bedingungen lebt, kann sie ausgelöst werden. Zu diesen Auslösern gehört auch Cannabis. Konsumieren Jugendliche, gerade im Alter von 14 oder 15 Jahren, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Schizophrenie auftritt, dramatisch. Das Problem ist: Wenn die Erkrankung auftritt, kann man zunächst nicht unterscheiden, ob es durch den Konsum ausgelöst wurde und sich wieder zurückbildet, wenn dieser eingestellt wird, oder ob es eine tatsächliche Schizophrenie ist. Viele Betroffene erleben zum Beginn einer Schizophrene ein diffuses Bedrohungsgefühl und „behandeln“ das mit Cannabis. Man gerät in einen Teufelskreis.

Celik: Kinder und Jugendliche, die Cannabis und weitere psychotrope Substanzen nehmen, sind anfällig dafür, dass sich psychische Störungen wie Depressionen, Angststörungen oder auch Suizidalität im Verlauf ihres Lebens zeigt. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Erkrankungen im Lauf des Lebens auftreten werden, liegt Statistiken zufolge bei etwa 70 Prozent. Es gibt gemeinsame Risikofaktoren bei Menschen, die Drogen nehmen und solchen, die psychische Erkrankungen entwickeln: Wer beispielsweise anfällig ist, eine Depression zu entwickeln, ist auch anfällig dafür, irgendeine Form von Sucht zu entwickeln. Zudem kennen auch wir Fälle, in denen versucht wird, Symptome psychischer Erkrankungen durch psychotrope Substanzen zu lindern, was in einer Abhängigkeit der Substanz resultieren kann.

Von Hecker: Auch die Wahrscheinlichkeit, dass bipolare Störungen auftreten, steigt durch den Konsum.

Zu welchen weiteren Auswirkungen kann der Konsum führen?

Celik: Auch auf sozialer Ebene gibt es Folgen. Es gibt Statistiken die verdeutlichen, dass Kinder und Jugendliche, die Drogen konsumieren, die Schule oft nicht schaffen. Auch Fehltage kommen häufig vor, ob in der Schule oder im Beruf. Die Wahrscheinlichkeit für Unfälle im Beruf steigt auch. Das Risiko für Arbeitslosigkeit steigt zusätzlich. Wir beobachten das auch im Alltag. Wir haben selten Patientinnen und Patienten, die aus einem geregelten Alltag kommen. Zusätzlich gibt es Stress in der Familie, oft auch mit der Polizei, Gerichten, dem Jugendamt.

Von Hecker: Wer viel konsumiert – so um die 5 Gramm pro Tag – liegt nur noch auf dem Sofa rum, geht nicht mehr raus, das Leben findet nur noch in der Fantasie statt. Für die ist der Entzug sehr unangenehm, weil er sehr lange dauert. Das Problem besteht aus meiner persönlichen Sicht darin, dass die Legalisierung dazu führt, dass Cannabis als harmlos wahrgenommen wird. Das ist aber nicht der Fall. Bei Jugendlichen ist das Gehirn noch in der Entwicklung, noch nicht ausgereift. Nimmt man in dieser Zeit eine Substanz wie Cannabis, die ja auch Hirnstrukturen verändern kann, ist das hochproblematisch. Insgesamt ist es blauäugig zu sagen, dass man eine Altersgrenze vorgibt. Wie beim Verkauf von Alkohol wird dann eben ein Älterer geschickt, der es kauft.

Celik: Bei unseren Patientinnen und Patienten ist der Umgang mit dem Thema auffällig: Es wird bagatellisiert, eben auch mit Blick auf die teilweise Legalisierung. Da wird argumentiert, dass es doch nicht mehr gefährlich sei. Die Patientinnen und Patienten fragen, warum sie es lassen sollen, da es doch legal werde. In meiner subjektiven Wahrnehmung sinkt das Alter, in dem Kinder und Jugendliche sich das erste Mal an psychotropen Substanzen versuchen.

Gibt es Ihrer Meinung nach eine Zunahme beim Konsum von Cannabis?

Celik: In meiner Wahrnehmung ist das gleichbleibend. Die meisten Patientinnen und Patienten, die aufgrund einer Suchterkrankung in unserer Klinik aufgenommen werden, haben Cannabis-Erfahrung. Ob schädlicher Missbrauch oder Abhängigkeit.

Von Hecker: Die Zahlen sagen etwas anderes. Laut Epidemiologischem Suchtsurvey gibt es eine deutliche Zunahme beim Cannabis-Konsum: Bei den 18- bis 24-Jährigen ist der Anteil derer, die in den letzten zwölf Monaten Cannabis konsumiert haben, von 7,7 Prozent im Jahr 1990 auf 23,9 Prozent in 2021 gestiegen. Bei den 25- bis 39-Jährigen von 2,3 auf 12,5 Prozent und bei den 40- bis 59-Jährigen von 0,5 in 1995 auf 4,7 Prozent im Jahr 2021.

Vorgeschrieben sein wird künftig ein Umkreis zu Kindergärten und Schulen, in dem nicht gekifft werden darf.

Celik: Genau, aber die Message ist falsch. Es wird durch die teilweise Legalisierung suggeriert, dass die Droge harmlos ist. Die Jugendlichen denken: Wenn es gefährlich wäre, würde es ja nicht legalisiert werden. Der Schwarzmarkt wird zudem nicht gemindert werden, Kinder und Jugendliche werden sich die Droge weiter problemlos besorgen können. Alle Konsumenten haben volljährige Freunde. Schwierig ist auch die Altersvorgabe des Gesetzgebers: Mit 18 Jahren ist die Entwicklung des Gehirns noch nicht abgeschlossen. In unseren Augen ist das Alter zwischen 18 und 25 kritisch. Es ist schwierig, Kindern und Jugendlichen in einem gewissen Alter zu vermitteln, welche langfristigen Folgen der Konsum haben kann. Ihnen fehlt oftmals die Weitsicht.

Ist das ein Bestandteil Ihrer Arbeit, dass Sie versuchen diese Folgen zu vermitteln?

Celik: Auf jeden Fall. Gerade in den Sucht-spezifischen Einzel- und Gruppentherapien ist das Inhalt. Wir besprechen die Vorteile, die die Patientinnen und Patienten sehen, aber auch die physischen, psychischen, sozialen Nachteile. Und umso älter der Patient ist, desto besser sind die Erfolgschancen der Behandlung. Auch deshalb, weil die etwas Älteren schon mal Phasen hatten, in denen es ihnen schlechter ging, weil sie obdachlos waren, substanzinduzierte Psychosen erlebten, aus diversen Einrichtungen geflogen sind oder Freunde durch Intoxikationen verstorben sind. Für 14-Jährige ist das einfach alles ein Abenteuer.

Wie wird die Drogenabhängigkeit in der Forensik behandelt?

Von Hecker: Unsere Patienten kommen ja überwiegend aus der JVA, viele werden also bereits dort entgiftet. Manche sind aber auch vorher noch auf freiem Fuß. Wir haben hier die Möglichkeit, eine körperliche Entgiftung zu machen. Bei Cannabis wird das symptomatisch gemacht, beispielsweise bei Schlafstörungen. Wir entgiften aber auch bei Alkohol oder Opiaten durch medikamentöse Unterstützung. Teilweise substituieren wir auch, dann mit sogenannten „Slow Release“-Substanzen, diese werden ins subkutane Fettgewebe gespritzt und dort über einen längeren Zeitraum abgebaut. Das hat den Vorteil, dass das nicht unter den Patienten weitergegeben werden kann. Das Ziel besteht darin, dass das Suchtmittelverlangen nicht so groß ist und sie sich so fühlen wie Menschen, die keine Abhängigkeit haben. Hinzu kommt für die Patienten die Aufarbeitung der Suchtentwicklung. Da geht es darum zu erkennen, was einen dazu gebracht hat, Substanzen zu konsumieren, welche Bedürfnisse erfüllt werden. Ziel ist, andere Wege zu finden, die eigenen Bedürfnisse zu erfüllen. Auch ein Umgang mit der chronischen Erkrankung, mit Krisen und auch mit Erfolgserlebnissen wird geübt. Sie müssen sich auch mit eventuellen Rückfällen auseinandersetzen. Das wird auch in der Realität überprüft und in den Alltag integriert, beispielsweise im offenen Therapiebereich und bei der Beurlaubung.

 

Zusatzinfo: Das sind Symptome einer Abhängigkeit

Symptome eines Konsums sind beispielsweise Müdigkeit, Schwindel, ein trockener Mund, eine verwaschene Sprache, eine Muskelentspannung, blutunterlaufene Augen, ein gesteigerter Appetit sowie ein Hochgefühl, der sogenannte Lachflash. Von einer Abhängigkeit wird klinisch gesprochen, wenn drei der folgenden sechs Punkte über den Zeitraum von einem Jahr als erfüllt angesehen werden: ein starker Wunsch, die Substanz zu konsumieren, eine verminderte Kontrollfähigkeit, ein körperliches Entzugssyndrom, eine Toleranzentwicklung, die fortschreitende Vernachlässigung anderer Interessen zugunsten des Konsums und der anhaltende Konsum trotz Nachweises schädlicher Folgen.

 

Zu den Personen

Birgit von Hecker

Birgit von Hecker

Birgit von Hecker ist Ärztliche Direktorin der Vitos Klinik für forensische Psychiatrie in Bad Emstal. Sie ist Fachärztin für Psychiatrie und Fachärztin für Neurologie.

 

 

Mehmet Celik

Mehmet Celik ist Psychologe M.Sc. auf der Akutstation der Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit in Kassel.

 

 

 

Hintergrund

Station 1.1 der Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Kassel

Auf der Akutstation der Klinik an der Herkulesstraße gibt es acht stationäre Plätze für Kinder und Jugendliche mit Abhängigkeitserkrankungen. Das Behandlungsangebot umfasst eine qualifizierte Entgiftung und eine Entwöhnungsbehandlung. Im Rahmen von Einzel- und Gruppentherapien wird an der Rückfallprophylaxe gearbeitet. Die Kontrolle der Abstinenz erfolgt mittels zwei Drogenscreenings in der Woche. Am Wochenende sind die Kinder und Jugendlichen oft Zuhause zur sogenannten Belastungserprobung. Besuche durch Angehörige sind möglich. Die Patientinnen und Patienten, die zwischen 13 und 18 Jahren alt sind, sind schulpflichtig, gehen also während des Klinikaufenthalts auch zur Schule. Es gibt eine Warteliste für die Aufnahme in die Klinik.

 

Vitos Klinik für forensische Psychiatrie Bad Emstal

In der Vitos Klinik für forensische Psychiatrie Bad Emstal werden suchtkranke Rechtsbrecher behandelt. Sie werden ausschließlich durch Anweisung eines Gerichts nach § 64 StGB dort untergebracht. 92 Patienten können insgesamt aufgenommen werden.

Erwachsene, die sich freiwillig aufgrund einer Abhängigkeit behandeln lassen möchten, können das in der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bad Emstal machen lassen. Dort gibt es zwei Stationen für Suchterkrankte.  Weitere Infos auf www.vitos-kurhessen.de [1]

Bildquelle Header: Pixabay herbalhemp