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Das Geschenk einer unbeschwerten Kindheit

Familie Schädtler ist Erziehungsstelle in zweiter Generation

Annika Schädtler wuchs mit vier Pflegegeschwistern auf. Nun haben ihr Mann und sie beschlossen, selbst Erziehungsstelle zu werden. Was hat sie zu dieser Entscheidung bewegt? Wie fühlt es sich an, einem Pflegekind ein Zuhause zu geben? Welche Herausforderungen bringt das Leben als Pflegeeltern mit sich? All das und noch mehr verrät sie uns im Interview.

Anna Pfläging: Warum wollten Sie Erziehungsstelle werden?

Annika Schädtler: Ich trage den Gedanken, irgendwann mal ein Kind aufzunehmen, schon viele Jahre im Herzen. Ich bin selbst mit vielen Pflegeschwestern aufgewachsen. Erst waren es Tagespflegekinder und irgendwann entschlossen sich meine Eltern, Erziehungsstelle zu werden. Sie gaben vier Mädchen die Chance auf ein Familienleben, gemeinsam mit uns. Ich kannte es also, mit Menschen zusammen zu leben und sie ins Herz zu schließen – auch wenn sie bereits ein paar Probleme und Geschichten mitbrachten und vor allem auch eine eigene, leibliche Familie. Ich habe selbst miterlebt, wie wertvoll diese Arbeit ist und dass sie etwas verändert und bewirkt. Da sind junge Menschen, Kinder, die eine echte Chance auf ein gutes und stabiles Leben bekommen, auf eine „unbeschwerte Kindheit“ auf Familie, auf Liebe…

Anna Pfläging: Wie war es für Sie mit Pflegegeschwistern aufzuwachsen?

Annika Schädtler: Also als Überbegriff würde ich sagen – schön! Mich hat meine Kindheit und Jugend mit meinen Geschwistern, den leiblichen und Pflegeschwestern, sehr bereichert. Diese Kindheit ist etwas, das mir meine Eltern einfach so geschenkt haben. Ich habe sehr früh lernen dürfen, dass das absolut keine Selbstverständlichkeit ist.

Am Anfang war es aufregend, man war nervös gespannt. Wer kommt da jetzt? Wer lebt da jetzt mit uns? Dann ging es ans Kennenlernen. Da war man erstmal vorsichtig und feinfühlig. Und dann wurde es schnell zur Normalität. Die Mädels hatten sich damals schnell eingewöhnt und dann war es wie es eben war – Familienleben. Ich habe mich nie groß an irgendwas gestört. Also natürlich so wie man sich an seinen Geschwistern allgemein stört, wenn sie nerven. Aber das war bei meinen leiblichen Geschwistern ja nicht anders. Ich war auch irgendwie stolz. Meine Freunde sind gerne zu uns nach Hause gekommen. Da war immer was los. Und ich war eben die mit den vielen Geschwistern und den netten Eltern die den Kindern helfen. Ich hatte eine bereichernde und tolle Kindheit. Hatten wir alle.

Auf dem Foto sieht man neben meinem Mann, meinen Kindern und mir noch meine Eltern und eine meiner Pflegeschwestern.

Anna Pfläging: Hat die Geburt Ihrer Tochter den Wunsch, Erziehungsstelle zu werden, weiter verstärkt?

Annika Schädtler: Das hat sie. Als meine Tochter 2018 zur Welt kam, gesund war, sich toll entwickelte und alles hatte, was das Herz begehrt, dachte ich oft: Warum hat sie so ein Glück und andere Kinder nicht? Und wie kann ich das ändern? Ich habe dann eine Patenschaft für einen rumänischen Jungen, der in den Slums lebt, übernommen. Ich bin da weiterhin aktiv und voll dabei. Aber ich dachte auch an Nähe, Zuneigung, Liebe … diese Unterstützung aus der Ferne reichte mir nicht. Ich wollte das Kind in den Arm nehmen und ihm sagen können, dass alles gut wird. Dann habe ich angefangen, mit meinem Mann intensiver über das Thema Erziehungsstelle zu sprechen, bis wir dann tatsächlich aktiv wurden und Vitos Teilhabe kontaktierten.

Anna Pfläging: Wie wird man Erziehungsstelle bei Vitos?

Annika Schädtler: Wir haben es uns ganz leicht gemacht, angerufen und gesagt: „Hallo, wir möchten gerne Erziehungsstelle werden“. Und am anderen Ende der Leitung hat sich jemand darüber gefreut und uns herzlich begrüßt.

Vitos Teilhabe hat uns dann Papiere zugesandt und uns zu einem ersten Gespräch eingeladen, um uns kennenzulernen. Dort durften wir dann auch unsere eigenen Vorstellungen äußern, etwa, was wir uns in Bezug auf das Alter des Kindes wünschen. Anschließend fanden noch weitere Treffen statt an denen wir gemeinsam mit Vitos verschiedene Bausteine abarbeiteten. So ging alles seinen Gang. Vom Anruf bis zum Kind hat es sechs Monate gedauert. Aber in der Regel sagt man: Es kann so lange dauern, wie eine Schwangerschaft.

Unser Pflegesohn Mio kam bereits mit zwei Tagen zu uns. Wir haben ihn direkt aus dem Krankenhaus abgeholt. Oft sind die Kinder auch schon etwas älter und leben vorrübergehend in einer Bereitschaftspflegefamilie. Dann finden erst mal einige Besuche statt, bei welchen sich die potenziellen Pflegeeltern und das Kind kennenlernen. Es ist entscheidend, dass es für beide Seiten passt. Für Kinder sind sichere Bindungen sehr wichtig. Kinder, die in einer Bereitschaftspflegefamilie leben, haben mindestens die Trennung von ihrer leiblichen Mutter hinter sich. Um weitere Trennungserfahrungen zu vermeiden, ist es wichtig, im Vorfeld genau zu schauen, ob man sich ein gemeinsames Familienleben vorstellen kann.

Anna Pfläging: Wo liegen die Herausforderungen, wenn man sich entscheidet, eine Erziehungsstelle zu werden?

Annika Schädtler: Man muss sich darauf einlassen und es wirklich wollen. Halbe Sachen kann man hier nicht machen. Es geht um kleine Menschlein, die mit einem Rucksack voller Probleme und mit Hoffnung in eine Familie kommen. Den Rucksack legen sie nicht vor der Haustür ab. Den bringen sie mit rein. Vielleicht schütten sie ihn auch direkt auf dem Küchenboden aus. Sinnbildlich gesprochen. Und dann geht’s ans Aufräumen. Das kann Arbeit bedeuten. Vielleicht geht in einer Familie alles ganz leicht, und in einer anderen überhaupt nicht.

Was ich bisher als Erziehungsstelle gelernt habe, ist:

Es gibt keinen Fahrplan. So individuell wie das Kind ist auch der Weg als Familie. Ich bin zum Beispiel ein sehr durchgetakteter, strukturierter Mensch. Ich brauche für alles einen Plan. Am liebsten mit Uhrzeit für die nächsten zehn Jahre. Das ist meine Lernaufgabe als Erziehungsstelle. Ich möchte mich etwas davon lösen und die Dinge annehmen, wie sie sind.

Bestandteil der Arbeit als Erziehungsstelle sind außerdem Termine mit der leiblichen Familie des Kindes. Da muss man reinwachsen. Man lernt die Mutter und den Vater des Kindes kennen, tritt in Kontakt und macht seine Erfahrungen. Vitos Fachberater begleiten einen stets dabei. Hier ist die Herausforderung, die Dinge immer im Sinne des Kindes zu sehen und nicht die eigenen Bedürfnisse vorweg zu stellen. Es geht darum, was für mein Pflegekind gut und wichtig ist. Nicht darum, was mich persönlich stört oder wie sympathisch mir die leiblichen Eltern sind.

Anna Pfläging: Was raten Sie Menschen, die überlegen, ein Pflegekind aufzunehmen?

Annika Schädtler: Ich rate ihnen, auf ihr Herz zu hören. Wenn es wirklich ihr Wunsch ist, ein Kind aufzunehmen, dann sollen sie es einfach anpacken. Man wird so wunderbar vorbereitet in den Bausteinen und Seminaren. Wir haben in der Vorbereitungszeit so viel über uns gelernt. Es war bereichernd für uns als Paar und als Familie. Man kann alles ansprechen und das sollte man auch. Aber man sollte auch keine Angst vor direkten Fragen und wirklich tiefgehenden Gesprächen mit den Fachberatern haben. Sie haben uns wirklich intensiv vorbereitet. Gelassenheit ist noch ein wichtiger Punkt. Einfach versuchen, gelassen zu bleiben, denn das nutzt auch dem Kind 🙂

 

Infokasten – was genau ist eine Erziehungsstelle? Erziehungsstellen (§ 33 S. 2 SGB VIII) sind pädagogisch qualifizierte Pflegefamilien, die besonders beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen einen verlässlichen Lebensort bieten. Der Fachdienst Erziehungsstellen der Vitos Jugendhilfe wirbt und schult geeignete Familien, unterstützt bei der Vermittlung von Kindern und Jugendlichen und bietet eine umfassende Beratung für die Dauer der Unterbringung an.

Weitere Informationen zu den Erziehungsstellen finden Sie auf unserer Internetseite [1].