- Vitos Blog - https://blog.vitos.de -

Der Psychiater bei Gericht

Psychiatrische Gutachten – oft das Zünglein an der Waage

Schuldspruch oder Freispruch? – Psychiatrische Gutachten sind in Gerichtsverhandlungen oft das Zünglein an der Waage. Als psychiatrischer Gutachter befasse ich mich mit der schwierigen Frage, was im Kopf eines Menschen vorgeht, wenn er eine Straftat begeht. Dazu muss ich über gute Fachkenntnisse verfügen und stets ein objektiver und unabhängiger Untersucher sein.

Dieses spannende Arbeitsfeld und die nötigen Voraussetzungen, welche ein psychiatrischer Gutachter mitbringen muss, möchte ich Ihnen in meinem Beitrag näher bringen.

Behandler vs. objektiver Untersucher

Das Arbeitsfeld der Psychiatrie [1] ist vielseitig. Als Psychiater behandle ich Menschen. Als Sachverständiger erstelle ich Gutachten für die Gerichte. Per Gesetz sind psychiatrische Gutachter Gehilfen des Gerichts. Der Psychiater stellt dem Gericht sein Wissen zur Verfügung. Das Gericht urteilt selbstständig und nach eigener Überzeugung.

Als Psychiater bin ich in meiner ursprünglichen Rolle Behandler. Zwischen Psychiater und Patient besteht ein kuratives Verhältnis. Das bedeutet, der Psychiater muss dafür Sorge tragen, dass es dem Patienten besser geht.

Der Gutachterstatus hingegen ist anders. Als Sachverständiger bin ich ein objektiver Beobachter. Ich unterliege nicht der Schweigepflicht. Dem Patienten steht es frei, ob er gegenüber dem Gutachter Angaben machen möchte oder nicht.

Auftraggeber für psychiatrische Gutachten können zum Beispiel sein:

Die Balance muss stimmen

Als Gutachter muss ich objektiv und unabhängig sein. Ich darf weder sofort alles glauben, was der Proband mir erzählt, noch darf ich kategorisch alles anzweifeln. Beide Extreme sind nicht objektiv und somit der falsche Weg.

Nehmen wir beispielsweise ein Rentengutachten zur Erwerbsunfähigkeit, welches vom Sozialgericht beauftragt wurde. Nicht jeder Proband, der sich einem Sachverständigen vorstellt, gibt nur Tatsachen an. Schließlich ist es sein Bestreben, ein Gutachten ausgestellt zu bekommen, das ihm bescheinigt, früher in Rente gehen zu dürfen. Körperliche oder psychische Beschwerden können dafür ausschlaggebend sein. Doch manchmal sind Symptome auch schlichtweg erfunden oder zumindest stark überspitzt. Bei erfundenen Symptomen sprechen wir von Simulation. Bei der Überzeichnung von Symptomen von der Aggravation. Der Proband lügt also bewusst, um ein Gutachten zu bekommen, das in seinem Sinne ist. Genauso gibt es natürlich den aufrichtigen Probanden, der sich an die Wahrheit hält. Der Psychiater ist oft die letzte Instanz bei Rentenanträgen. Als Gutachter muss er erkennen, wer ehrlich ist und wer lügt. Vor allem muss er psychische Erkrankungen oder psychische Ursachen für körperliche Erkrankungen ausschließen oder bestätigen.

Betreuungsgericht – Geht vom Patienten eine Eigengefährdung aus?

Das Betreuungsgericht ist zum Beispiel dann zuständig, wenn vom Patienten eine Eigengefährdung ausgeht. Wenn er also beispielsweise Selbstmordabsichten hat. Auch eine Demenz [2]kann eine Eigengefährdung darstellen, wenn sich die Person nicht mehr orientieren und nicht mehr auf sich selbst Acht geben kann. Ob der Patient von einem gesetzlichen Betreuer unterstützt werden muss, entscheidet das Betreuungsgericht. Als Sachverständiger beurteile ich die Sachlage. Im Zentrum des Gutachtens steht die Frage, ob der Patient über eine freie Willensbildung verfügt. Also, ob er Herr seiner Sinne ist. Sollte der Patient nicht in der Lage zur freien Willensbildung sein, etwa aufgrund einer Demenz, benötigt er einen gesetzlichen Betreuer. Gegebenenfalls erfolgt zudem eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus [3]. Dazu benötigt der Betreuer das Aufenthaltsbestimmungsrecht und die Gesundheitssorge. Grundsätzlich kann eine Betreuung auch erfolgen, wenn der Patient seinen freien Willen bekunden kann. Dann aber nur mit Zustimmung des Patienten, etwa wenn er einsieht, dass er seine finanziellen Angelegenheiten nicht mehr alleine regeln kann.

Familiengericht – Das Wohl des Kindes steht im Mittelpunkt

Wenn ich ein psychiatrisches Gutachten für das Familiengericht erstelle, geht es dabei oft um die Frage nach der Erziehungsfähigkeit der Eltern, beziehungsweise eines Elternteils. Solche Gutachten sind sehr umfangreich. Stellen wir uns Folgendes vor: Die Eltern einer dreijährigen Tochter leben getrennt. Die Mutter ist alleinerziehend und möchte nicht, dass das Kind Kontakt zum Vater hat. Sie behauptet, er würde Drogen nehmen oder wäre sogar pädophil. Der Vater wiederum meint, die Mutter hätte eine psychische Krankheit und wäre nicht in der Lage, das Kind zu erziehen. Beide Parteien verfolgen das Ziel, das alleinige Sorgerecht für den Nachwuchs zu bekommen. Als Gutachter muss ich in diesem Fall die Beziehung zwischen Eltern und Kind genau beurteilen. Dazu führe ich intensive Gespräche mit den Eltern und dem Kind. Zudem nehme ich eine Wohnungsbegehung vor. So mache ich mir ein Bild davon, wie die Familie lebt. Bei der Begutachtung der Eltern-Kind-Beziehung geht es darum, zu klären, ob die Eltern erziehungsfähig sind und ob eine Bindung zwischen Eltern und Kind besteht. Falls das Kind viel Kontakt zu den Großeltern hat, werden auch diese im Familiengutachten berücksichtigt. So entsteht ein umfangreiches Gutachten der Familiendynamik. Das Wohl des Kindes steht dabei immer im Mittelpunkt. Als Sachverständiger muss ich mich nach meiner mehrstufigen Untersuchung also fragen, wo sich das Kind am besten entwickeln kann.

Ich hatte beispielsweise mal einen Fall, in dem es um eine alleinerziehende Mutter und ihre drei Kinder ging. Die Frau war schizophren [4] und lebte mit ihren Kindern in einem Hochhaus. Sie sperrte die Kinder wochenlang in der kleinen Wohnung ein, weil sie glaubte, draußen wären sie von tödlicher Strahlung bedroht. Mein Gutachten kam zu dem Schluss, dass die Kinder gefährdet waren. Die Mutter wurde in die Psychiatrie zwangseingewiesen. Die Kinder kamen in staatliche Obhut.

Strafgutachten – Ist der Täter schuldfähig?

Der Auftraggeber von Strafgutachten ist in der Regel das Landgericht. Solch ein Strafgutachten wird beispielsweise bei einem Körperverletzungsdelikt angefordert. Nehmen wir Folgendes an: Ein junger Mann wird in der Stadt von der Polizei aufgegriffen. Zuvor hatte er wildfremde Passanten scheinbar grundlos mit einem Messer verletzt. Der Mann wirkt verwirrt oder verhält sich absonderlich. Er kommt in Polizeigewahrsam und anschließend in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft oder der zuständige Richter, der das Verfahren eröffnet, fordert dann ein psychiatrisches Gutachten an. Zudem muss der Sachverständige an der Hauptverhandlung teilnehmen. Als Gutachter untersuche ich den Täter ausführlich nach einem bestimmten Schema. Fragen, die ich dabei unter anderem kläre, sind:

Zudem erstelle ich eine biografische Anamnese. Ich beleuchte die Familiengeschichte sowie die berufliche und finanzielle Situation. Gab es große Einschnitte im Leben des Täters? Sind in seiner Akte Vorstrafen vermerkt? Außerdem befrage ich den Täter zur eigentlichen Tat und wie es dazu kam. In meiner Laufbahn als Gutachter sind mir bei dieser Frage einige Reaktionen sehr häufig begegnet. Oft geben die Täter an, dass sie zur Tatzeit unter Alkohol- oder Drogeneinfluss standen. Andere behaupten, sie könnten sich nicht mehr an die Tat erinnern. Wieder andere sind voller Scham über das, was sie getan haben. Manche externalisieren stark, das heißt, sie geben die Schuld dem Geschädigten. Dem psychiatrischen Gutachter steht es frei, sein Gutachten durch sogenannte Testskalen zu untermauern. Diese sind kein Hauptinstrument der Beurteilung, sondern eine Ergänzung.

Die Ergebnisse einer solchen Begutachtung müssen stets in Beziehung zur Gerichtsakte des Täters gesetzt werden. Für ein aussagekräftiges Gutachten sind manchmal auch mehrere Untersuchungstermine nötig. Das Gutachten muss immer die Frage nach der Schuldfähigkeit des Täters beantworten. Also ob dieser voll schuldfähig, vermindert schuldfähig oder schuldunfähig ist.

Nachdem das Gutachten verschriftlicht wurde, wird der Psychiater in seiner Rolle als Sachverständiger nach einiger Zeit zur Hauptverhandlung geladen. Als Gutachter kann ich mein schriftliches Gutachten innerhalb der Verhandlung abändern. Das ist zum Beispiel nötig, wenn Zeugenaussagen den Täter oder die Tat plötzlich in einem anderen Licht erscheinen lassen. Allerdings sind die dann in der Hauptverhandlung getroffenen Aussagen des Gutachters bindend und müssen auch der kritischen Durchleuchtung der Richter und Anwälte standhalten. Das Statement des Sachverständigen kommt ganz zum Schluss der Beweisführung des Gerichtes und hat hohes Gewicht für das Urteil, welches dann am letzten Verhandlungstag formuliert wird.

Vier Voraussetzungen, die ein psychiatrischer Gutachter mitbringen muss

Nun kurz auf den Punkt gebracht – diese vier Voraussetzungen muss ein psychiatrischer Gutachter erfüllen:

Gerade beim letzten Punkt spielen Selbstsicherheit und Flexibilität eine entscheidende Rolle. Der Gutachter sollte niemals sein Gutachten einfach vom Blatt ablesen, sondern es immer in eigenen Worten vortragen. Er muss sich auf Richter und Anwälte einstellen können und darf sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Diese Selbstsicherheit musste auch ich nach und nach gewinnen und mich immer wieder selbstkritisch hinterfragen. Jeder Fall ist eine neue Herausforderung, die Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen zu erledigen. Und jeder Fall liegt anders.

Bildquelle: Ulrich Neumann

Publikationsverzeichnis

Alkohol – Wege aus der Krankheit, Folge 6, Ärzte-Zeitung Nr. 205, 11.11.1999, S. 10

Ambulante Behandlung der Alkoholabhängigkeit, Spektrum der Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde 6/1999, 158 – 165

Alkoholentzug mit Tiaprid, Psycho 26 (2000) Nr. 12, 604

Vorsicht Psychotherapie, Psycho 26 (2000) Nr. 9, 416 – 420

Die Psychotherapeuten, Der Allgemeinarzt 19/2000, 1435

Therapie mit Tiapridex, Psycho 27 (2001) Nr. 7, 361

Schizophrenie und Sucht, MMW – Fortschritte der Medizin 143 (2001), 541 – 544

Das ärztliche Gespräch mit depressiven Patienten, MMW – Fortschritte der Medizin 145 (2003), 253 – 255

Einmal Couch und zurück, Verlag Wissenschaft und Praxis, 2005, Sternenfels

Psychose bei Neurolues, Der Neurologe und Psychiater, DGN-Sonderheft 2005, S. 6

Affektive Störung bei Hydrocephalus internus, Der Neurologe und Psychiater, 12/2005, S. 18

Psychose bei Hypothyreose, Der Neurologe und Psychiater, 11/2005, S. 8

Risiken der Psychotherapie, Der Allgemeinarzt, 4/2006, 24 – 26

Porphyrie war Ursache für wechselhaftes Erscheinungsbild, DNP, 7 – 8/06, S.14

Kindheit bestimmt das Leben, DÄB, Jg. 103, Heft 36, 08.09.2006

Der schwierige Patient, ARS MEDICI; 25/26, 2006, S. 1 – 3

„Frühe Bindungserfahrung beeinflusst Genaktivität“, Hessisches Ärzteblatt 4/2010, 220- 226

„Die Melancholie des Psychiaters“, Deutsches Ärzteblatt, Jg. 108, Heft 5, 4.2.2011, 187-188.

„Was uns am Arbeitsplatz hält“; DÄB, Jg.108. Heft 42, 21.10.2011

„Schicksal Familie“, Perspektive Pädagogik, Heft 1, Klett Verlag Stuttgart 2011, S.77

Agieren und Spalten – Umgang mit schwierigen Patienten

Mitautor

Wettig, Jürgen: Neurobiologie der frühkindlichen Traumatisierung, S. 20-27

in Gahleitner, S. u. Hahn, G. (Hg.): Klinische Sozialarbeit; Gefährdete Kindheit – Risiko, Resilienz und Hilfen, Psychiatrie-Verlag Bonn 2010

 

Wettig, Jürgen: Neue Störungsbilder – Mythos oder Realität, S.147 – 175 Buchreihe: Psychoanalytische Pädagogik Verlag: Psychosozial-Verlag 304 Seiten, Broschur, 148 x 210 mm Erschienen im Oktober 2015 ISBN-13: 978-3-8379-2485-5, Bestell-Nr.: 2485

 

Autor

Wettig, Jürgen: Schicksal Kindheit, Springer Verlag Heidelberg  2008

 

Seminare

Psychotherapeutisches Wissen I

Eltern-Kind-Bindung, Entwicklung und Persönlichkeit

Psychotherapeutisches Wissen II

Anamnese und Psychopathologischer Befund

Psychotherapeutisches Wissen III

Forensische Psychiatrie – Einblick und Ausblick