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„Die Betroffenen haben den allergrößten Respekt verdient“

Schizophrenie: Fachleute informieren sich bei Vitos über Stand der Forschung

Unter dem Titel „Update Schizophrenie“ hat die Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Hadamar nach drei Jahren Corona-Pause wieder ein Symposium organisiert. Es war das erste wissenschaftliche Treffen unter der Federführung des Klinikdirektors Prof. Dr. Christoph Fehr, der 2021 auf dem Mönchberg sein Amt angetreten hat. Prof. Dr. Christoph Fehr, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, erklärt im Interview, was Schizophrenie ist und wie man sie behandelt.

Sie haben in diesem Jahr Schizophrenie zum Schwerpunkt Ihres Symposiums gemacht. Warum ist die Wahl auf dieses Erkrankungsbild gefallen?

Prof. Dr. Christoph Fehr: Schizophrenie, im Volksmund oft auch als „Psychose“ bezeichnet, stellt eines der häufigsten und immer noch herausforderndsten Erkrankungsbilder im psychiatrischen Kontext dar. In den vergangenen Jahren hat die Forschung zunehmend neue Erkenntnisse gewonnen, wie eine Schizophrenie entsteht und was bei ihrer Behandlung zu beachten ist.

Bei der Schizophrenie handelt es sich um eine häufige Erkrankung, die das Behandlungsgeschehen in der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie stark prägt. Etwa ein Prozent aller Menschen erleben im Leben zu mindestens eine Phase einer Schizophrenie, teilweise auch multiple Phasen. In den letzten Jahren haben wir zunehmend neue Erkenntnisse gewonnen, wie eine Schizophrenie entsteht, und was wir bei der Behandlung einer Schizophrenie beachten müssen.

Wie äußert sich eine Schizophrenie?

Eine Schizophrenie ist eine Störung der Wahrnehmung, des Denkens, teilweise auch des Fühlens und der Handlungsplanung der Betroffenen. Es handelt sich um Beschwerden, die umfassend in die Lebensqualität des Betroffenen eingreifen. Typischerweise wird die Erkrankung an einer sogenannten psychotischen Phase erkannt, das heißt einer Phase, in der die Betroffenen teilweise unter Sinnestäuschungen wie zum Beispiel akustischen Halluzinationen oder auch unrealistischen irrealen Gedanken von Beeinträchtigung oder Bedrohung leiden.

Wann beginnt eine Schizophrenie?

Eine Schizophrenie beginnt typischerweise in der Jugend oder dem jungen Erwachsenenalter, das heißt in einem Alterskorridor von etwa 16 bis 30 Jahren.

Wie behandelt man eine Schizophrenie?

In der akuten Phase einer Schizophrenie, der sogenannten psychotischen Phase, muss zunächst einmal das Vertrauen der Betroffenen in die Notwendigkeit einer Behandlung hergestellt werden. Typischerweise kann es während der Erkrankungsphase zu Schwierigkeiten kommen, sich selber als erkrankt wahrzunehmen. In der akuten Phase ist oft auch die Gabe eines Medikaments, eines sogenannten Antipsychotikums zur Linderung der Ängste und Fehlwahrnehmungen der Betroffenen notwendig. Daneben stehen auch psychotherapeutische Verfahren zum Umgang mit Wahrnehmungsstörungen, sozialen Schwierigkeiten und unter anderem dem Aufbau einer weiteren therapeutischen Arbeitsbeziehung zur Verfügung. Längerfristig muss die Behandlung von Patient/-innen, die an einer Schizophrenie leiden, im Team erfolgen. Dieses Team besteht dann aus Ärzt/-innen, Psycholog/-innen, Pflegekräften, Sozialarbeiter/-innen, aber auch vielen Mitarbeiter/-innen, die im ambulanten gemeindepsychiatrischen Kontext tätig sind.

Sie haben das Thema gewählt, weil es sehr viele neue Erkenntnisse zum Thema Schizophrenie gibt. Welche?

Ich meine, dass es umfangreiche multidisziplinäre Ansätze gegeben hat, um die Ursachen der Erkrankung zu verstehen. Seit mehr als vier Jahrzehnten ist bekannt, dass es auch anlagebedingte Faktoren sind, die deutlich über sechzig Prozent der Verhaltensvarianz eines Patienten mit Schizophrenie erklären. Bisher war jedoch vollkommen unklar, wie die Risiken in diesen anlagebedingten Varianten, also den Genen, verteilt sind.

Was wissen wir heute über die genetischen Risiken der Schizophrenie?

Es ist ein komplexes Zusammenspiel zwischen sehr häufigen genetischen Varianten, die weit mehr als ein Prozent der Bevölkerung tragen, und sehr seltenen genetischen Varianten, die weit weniger als ein Promille der Bevölkerung betreffen. Was auch eine wichtige neue Erkenntnis ist, dass eine nicht unerhebliche Anzahl der seltenen Varianten erst in der Generation der Betroffenen als neue Mutation entstehen. Viele dieser Varianten beeinflussen Proteine, das heißt Eiweiße, die im Gehirn die Funktion von Nervenzellen und ihren Verbindungen steuern. Wir wissen heute aus sogenannten genomweiten Assoziationsuntersuchung, Sequenzierungstechniken und anderen neurowissenschaftlichen Techniken, dass diese Veränderungen einen Einfluss auf die Mikro- und Makrostruktur des Gehirns nehmen. Dabei ist wichtig zu sagen, dass das Risiko, an einer Schizophrenie zu erkranken, nicht vollständig von den Genvarianten abhängt, sondern immer auch im Kontext bestimmter Umweltfaktoren stattfindet.

Welche Umweltfaktoren sind in diesem Zusammenhang bekannt?

Mehrere bekannte Umweltfaktoren können das Risiko, an einer Schizophrenie zu erkranken, beeinflussen. Bereits vor der Geburt können Schwangerschaftsinfektionen aber auch Geburtskomplikationen zu einem erhöhten Schizophrenie-Risiko beitragen. Dann sind auch Gewalterfahrungen in der Kindheit, Infektionen, Mangelernährung und andere Traumata ein wesentlicher Auslöser einer Schizophrenie. Nichts zu vergessen ist auch, dass ein häufiger, intensiver Cannabis-Konsum das Risiko, an einer Schizophrenie zu erkranken, um das Zwei- bis Dreifache steigern kann.

Was bedeutet das für eine mögliche Präventionsarbeit?

Ich denke, dass das ein wichtiges Thema für Kinder- und Jugendgesundheit ist. Wir sollten dafür Sorge tragen, dass unsere Kinder in einem geschützten Rahmen aufwachsen, sodass sie nicht ungerechtfertigter Weise Traumata und unbehandelten Infektionen ausgesetzt sind. Wir müssen auch, und das sage ich gerade vor dem Hintergrund der aktuell laufenden Diskussion um die Cannabis-Legalisierung, dafür Sorge tragen, dass Jugendliche und junge Erwachsene, die empfindlich sind, vor den Folgen von Cannabis geschützt werden.

Was kann man denn machen, wenn es zu einer Psychose, also einer ersten Phase einer Schizophrenie, gekommen ist?

Auch eine neue Erkenntnis ist, dass es gerade wichtig ist, sogenannte ersterkrankte Patient/-innen mit besonderen Hilfsangeboten entgegenzukommen. Hierzu gehört eine individualisierte Arzneimitteltherapie, aber auch Unterstützung beim Erhalt der Wohnmöglichkeit und der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Genauso wichtig ist das Erreichen einer beruflichen Qualifikation.

Wie lange muss denn die Behandlung mit einem Antipsychotikum fortgesetzt werden, um einen Schutz vor erneuten Auftreten weiterer Phasen der Erkrankung zu gewährleisten?

Das ist so allgemein nicht gut zu beantworten. 75 Prozent aller Patient/-innen, die Symptome eines psychotischen Schubs haben, kommen in ihrem Leben einen weiteren psychotischen Schub. Man kann das von zwei Seiten sehen: Zum einen erleben 25 Prozent keine weiteren Schübe, zum anderen haben drei Viertel deutliche, teilweise die Lebensqualität einschränkende Krankheitsepisoden. Es muss dann zusammen mit der Patientin oder dem Patienten abgesprochen werden, welche Medikamente, in welcher Dosierung wie lange verabreicht werden. Das hängt dann auch mit den individuellen Risikofaktoren, zum Beispiel Cannabis-Konsum und dem allgemeinen Gesundheitszustand des Betroffenen ab.

Patient/innen mit einer Schizophrenie haben teilweise immer noch eine deutlich verkürzte Lebenserwartung. Warum ist das so?

Wir haben in früheren Jahren angenommen, dass die verkürzte Lebenserwartung vor allen Dingen durch Suizidalität in depressiven Phasen gesteuert wird. Sicher ist dieses auch für die ersten Krankheitsjahre ein entscheidender Faktor. Unter anderem ist es aber auch so, dass zahlreiche körperliche Erkrankung bei Patienten mit Schizophrenie gehäuft auftreten. Hierzu gehören Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Lungenerkrankungen und bestimmte Tumorerkrankungen. Vieles hängt mit der sehr häufig auftretenden Angewohnheit des Rauchens und einer Tabakabhängigkeit zusammen.

Was kann man unseren Patient/-innen da als Ausblick geben?

Auch unsere Patient/-innen mit Schizophrenie sollten die Möglichkeit bekommen, eine Tabakentwöhnung zu machen. Im Weiteren sollte darauf geachtet werden, keine übermäßig gewichtssteigernden Medikamente zu verordnen. Neue Erkenntnisse zeigen, dass gegebenenfalls Antipsychotika mit gewichtsreduzierenden Medikamenten wie unter anderem Metformin oder Semaglutid kombiniert werden können.

Ist für Menschen mit Schizophrenie so etwas wie gesellschaftliche Teilhabe überhaupt möglich?

Wir haben hier deutliche Fortschritte im Vergleich zu den vergangenen Jahrzehnten erlebt. Früher haben Patient/-innen teilweise Jahre oder Jahrzehnte in einem psychiatrischen Krankenhaus verbracht. Heute können die Allermeisten mit der Erkrankung ein selbstbestimmtes Leben führen. Wir haben für stärker beeinträchtigte Betroffene umfangreiche Teilhabe-Möglichkeiten zur Verfügung, unter anderem ein betreutes Wohnen, das Leben in einer betreuten Wohngruppe oder in einem Wohnheim. Es bestehen auch Möglichkeiten der beruflichen Rehabilitation und der beruflichen Teilhabe zum Beispiel in einem Integrationsbetrieb. Ich möchte aber auch betonen, dass viele Betroffene selbstständig einer Tätigkeit nachgehen können.

Stichwort „Stigmatisierung“: Inwieweit ist Schizophrenie heute eine Krankheit unter vielen?

Das Thema ist noch ein großes Tabuthema in unserer Gesellschaft. Kaum ein Betroffener und schon gar nicht die Familien trauen sich mit der Erkrankung an die Öffentlichkeit zu gehen. Viel zu oft suchen die Betroffenen oder auch die Familien den Grund in sich selbst. Dabei kann man sagen, dass es sich bei der Schizophrenie um eine komplexe Erkrankung handelt, die im Kontext zwischen genetisch bedingten Faktoren und individuellen Umwelteinflüssen entsteht. Die Betroffenen haben den allergrößten Respekt verdient und auch die Unterstützung unserer Gesellschaft.

Welche innovativen Angebote gibt es bei Vitos Weil-Lahn für Patient/-innen mit Schizophrenie?

Wir haben bei Vitos Weil-Lahn seit 2021 unsere stationsäquivalente Behandlung „Vitos Behandlung zu Hause (BZH)“ eingeführt. Das heißt, wir können auch akut erkrankte Patient/-innen in ihrem gewohnten Lebensumfeld behandeln. Das ermöglicht den größtmöglichen Respekt vor den Wünschen des Betroffenen und auch seinen Verbleib im gewohnten Wohnumfeld. Daneben haben wir bei Vitos umfangreiche Anstrengung unternommen, eine rationale Pharmakotherapie zu betreiben und unnötige, nicht verträgliche Arzneimittelmedikationen zu vermeiden. Wir haben sowohl ein Online-Tool zu Bewertung der Arzneimittel-Wechselwirkungen als auch die Möglichkeit, durch eine Klinik-Apothekerin gezielt Unterstützung bei der Auswahl der Medikamente zu erhalten. Daneben sind wir bemüht, unseren Patient/-innen mit Schizophrenie psychotherapeutische Angebote wie unter anderem das metakognitiven Training oder auch soziales Kompetenztraining anzubieten. Ich selber habe zusammen mit einem Doktoranden Zusammenhänge zwischen motivierender Gesprächsführung und der Behandlung von Patient/-innen mit Schizophrenie erforscht. Man kann davon ausgehend sagen, dass es sich auf jeden Fall lohnt, individuell mit dem Patienten oder der Patientin die Motivation für eine Veränderung zu stärken.

Ein wichtiger Programmpunkt des Symposiums war auch der Umgang mit Gewalt und Zwang. Welche Schritte haben Sie bei Vitos Weil-Lahn unternommen, um sogenannte Zwangsbehandlungen möglichst zu vermeiden?

Wir führen seit einigen Jahren bei Vitos Weil-Lahn systematisch ein sogenanntes professionelles Deeskalationstraining durch. Daneben haben wir in den vergangenen Jahren unter anderem in der Klinik für forensische Psychiatrie das sogenanntes Safewards-Konzept eingeführt, welches durch mehrschichtige Interventionen Eskalation und Konflikte um die therapeutische Arbeit vermeiden sollen. Sollte es trotz aller Bemühungen zu einer Zwangsmaßnahme kommen, so findet verbindlich eine Nachbesprechung dieses Ereignisses statt. Außerdem möchte ich betonen, dass wir hierzu auch eine entsprechende Statistik führen, anhand derer wir mögliche Fehlentwicklungen erkennen können.

Was wünschen Sie sich für Ihre Patientinnen und Patienten, die an einer Schizophrenie erkrankt sind?

Ich würde mir wünschen, dass sie als eine Gruppe von Patient/-innen wahrgenommen werden, die die gleichen Rechte wie alle anderen erkrankten Menschen in Deutschland hat. Die Erkrankung ist immer noch mit einem starken Stigma versehen. Das ist in meinen Augen bei einer Weiterentwicklung der Behandlung hinderlich. Ich würde mir auch wünschen, dass wir Fortschritte bei den Behandlungsmethoden erzielen. Ich glaube dabei weniger, dass es eine einzelne neue Wirkstoffklasse von Arzneimitteln geben wird, sondern ich glaube vielmehr, dass es sehr viele verschiedene individuelle Handlungsoptionen geben muss. Diese schließen bewusst auch den Zugang von Patient/-innen mit Schizophrenie zur Psychotherapie ein. Abschließend wäre mein wirklich wichtigster Wunsch, dass alle unsere Intervention es erreichen, die Lebenserwartung von Patient/-innen mit einer Schizophrenie zu steigern. Hier liegt die größte Herausforderung vor uns.