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Die eigenen Ziele in Bildern greifbar machen

Morgen- und Abendrunden in der Vitos Klinik für Psychosomatik Herborn im neuen Gewand

Nichts ist so beständig, wie die Veränderung – In unserer Vitos Klinik für Psychosomatik Herborn ist eine verlässliche und regelmäßige Struktur ein wichtiger Bestandteil der stationären Milieutherapie. Dazu gehören die täglichen Morgen- und Abendrunden, die von den Pflegefachkräften moderiert werden. Da diese in der Vergangenheit jedoch oft etwas zäh und schleppend waren, haben wir uns gefragt: Muss das so sein? Muss das so bleiben? Welche neuen Wege können wir gehen?

In unseren täglichen Morgen- und Abendrunden tauschen wir uns über das aktuelle Befinden aus, klären Organisatorisches und benennen persönliche Ziele für den Tag. Sowohl den Patientinnen und Patienten als auch dem Behandlungsteam bietet dieses Vorgehen Kontinuität, Verbindlichkeit und Sicherheit im Genesungsprozess.

Was aber tun, wenn den Patientinnen und Patienten besonders in den Morgenrunden eine aktive Beteiligung schwerfällt? Wenn sie mit den Folgen einer nur mäßig guten oder gar schlechten Schlafqualität kämpfen? Wenn sich dadurch im Gesamterleben die Morgenrunden eher zäh, energiearm und schleppend anfühlen, insgesamt eine Unzufriedenheit spürbar wird?

Im Team haben wir uns immer häufiger die Fragen gestellt: „Muss das so sein? Muss das so bleiben? Welche neuen Wege können wir gehen? Wie können wir Veränderungsmotivation, Begeisterungsfähigkeit an eigenen Gestaltungsmöglichkeiten und Vitalität fördern?“.

Zunächst stellte sich das Behandlungsteam der Frage der Bedeutung von Veränderung: diese bedeutet „Loslassen“, „Wechsel von einem alten in einen anderen beziehungsweise neuen Zustand“ oder „Beginn von etwas Neuem“. Bevor die Patientengemeinschaft in einem zweiten Schritt den neuen Weg mitgehen konnte, musste das Behandlungsteam zunächst gewohnte Strukturen verlassen.

Vom Veränderungswillen zum Veränderungsprozess

In einer Teamsitzung wurde der Ist-Zustand festgestellt: Schwierigkeiten, konkrete Tagesziele zu benennen, starke Orientierung an den Mitpatient/-innen, eher inaktives Verhalten, Unzufriedenheit sowohl auf der Seite der Patientengemeinschaft als auch bei dem Behandlerteam.

Die ehemalige Klinikdirektorin Elke Röming, die jüngst in den Ruhestand ging, war von Anfang an bei dem Veränderungsprozess dabei. Sie ermutigte das Team dazu, dieses multiprofessionelle Projekt durch den Einbezug der Patientinnen und Patienten zu erweitern. In enger Zusammenarbeit mit der Kunsttherapeutin Sindy Falkenheiner sowie der Gesundheits- und Krankenpflege und unter Einbezug der Patientengruppe wollten wir einen kreativen Prozess einleiten und ein Konzept entwickeln. Es sollte vielfältige positive therapeutische Wirkungen möglich machen.

Das Pflegeteam und die Kunsttherapeutin entwickelten die Idee, die Tagesziele der Patientinnen und Patienten, welche innere Bilder darstellen, in äußere Bilder zu übersetzen. Dadurch sollten die eigenen Ziele wortwörtlich greifbarer gemacht werden. Ein Bild in der Hand bildet eine Brücke sowie eine Stütze und gibt Sicherheit. Der Auftrag für die nächsten Wochen lautete also: In den Morgenrunden mit den Patientinnen und Patienten viele mögliche Tagesziele sammeln. Schriftlich festhalten. Dazu passende, individuelle Piktogramme gestalten.

Liebevoll gestaltete Piktogramme sind entstanden

Ähnlich wie in den bisherigen Morgenrunden fiel es der Patientengemeinschaft anfangs schwer, innerlich in Bewegung zu kommen und sich bei der Entwicklung der Tagesziele aktiv einzubringen. Für das Team bedeutete das: „Dran bleiben!“. Es benötigte viel Ausdauer und Durchhaltevermögen auf pflegerischer und kunsttherapeutischer Seite, in einen interaktiven und dynamischen Prozess zu kommen. Letztendlich zeigten die Patientinnen und Patienten immer mehr Interesse am und Motivation für den kreativen Prozess. Schritt für Schritt haben wir die morgendlich formulierten Tagesziele dann gemeinsam mit den Patientinnen und Patienten über mehrere Therapiestunden hinweg in selbst gestaltete Motive und Bilder umgewandelt. Kleine, handliche und laminierte Kärtchen entstanden. Diese haben wir im Gruppenraum der Station an einer Wand aufgehängt und sichtbar, für jeden greifbar, arrangiert.

Bilder sind unmittelbar be-greifbar

Bilder wirken anders als das gesprochene oder geschrieben Wort auf uns Menschen. Ein Text muss Wort für Wort gelesen werden, damit man seinen Zusammenhang verstehen kann, und er Gefühle ansprechen kann. Ein Bild dagegen muss man nicht lesen. Man kann es unmittelbar erfassen. Somit wirkt es in direkter Weise auf unsere Emotionen. Die visuelle Auseinandersetzung mit den klar formulierten Tageszielen kann unseren inneren Gemütszustand ansprechen und lädt zu detaillierten und differenzierteren Äußerungen ein.

Zitat des italienischen Universalgenies Leonardo da Vinci

Der veränderte Ablauf der Morgenrunden

Zu Beginn jeder Morgenrunde planen wir etwa zwei Minuten ein, in denen alle Patientinnen und Patienten von ihren Stühlen aufstehen, sich ein individuelles Tagesziel in Form von Karten an der Wand aussuchen und es mit an ihrem  Sitzplatz nehmen. Danach beginnt wie gewohnt das „Blitzlicht“, bei dem die Patient/-innen über den Verlauf der Nacht und das aktuelle Befinden berichten. Im Anschluss daran stellen die Patientinnen und Patienten ihr persönliches Tagesziel in Form der Kärtchen vor. Sehr hilfreich war die von Anja Wilson aus dem Krankenpflegeteam eingebrachte Idee, dem SMART-Ziel-Schema zu folgen. Das heißt, spezifische, messbare, angemessene, relevante und terminierte Ziele zu benennen. Die Patientinnen und Patienten behalten für den Rest des Tages ihre Karte an ihrem Sitzplatz im Speise- und Tagesraum. In der ebenfalls täglich stattfindenden Abendrunde reflektieren wir dann gemeinsam, ob das eigene Tagesziel erreicht wurde und welche Gefühls- und Körperzustände es ausgelöst hat. Oder, ob ein Ziel nicht erreicht wurde und welche Hürden vielleicht dafür gesorgt haben. Anschließend befestigen die Patient/-innen die Kärtchen wieder an der Leine an der Wand, sowohl als Tagesabschluss und auch als Vorbereitung auf den neuen Morgen.

Es lohnt sich, neue Wege zu gehen

Veränderungen sind lebenswichtig, denn sie bedeuten Weiterentwicklung. Es geht darum, gewohnte Strukturen zu verlassen und sich auf Neues einzulassen, Bestehendes zu überdenken und umzugestalten, um innere und äußere Flexibilität zu schaffen sowie Wachstum zu fördern.

Das Behandlungs- und Pflegeteam, die Kunsttherapeutin und die Patientengemeinschaft haben sich auf neue Wege begeben und konnten dabei positive Erfahrungen sammeln. Der gemeinschaftliche aktive Start in den Tag, mit Tageszielen in Form von Bildern in der Hand und einer damit verbundenen, wesentlichen Symbolik „Ich habe es in der Hand.“, ist zum festen Bestandteil jeder Morgenrunde geworden und findet seinen Nachhall in der Abendrunde. Diese täglichen Therapiemodule sind von deutlich mehr Aktivität, Flexibilität, Schwingungsfähigkeit sowie Differenziertheit geprägt. Sowohl die Patientinnen und Patienten als auch das Behandlungsteam schildern durch die Umsetzung der Tagesziele in selbstgestaltete Bilder eine Erleichterung der Formulierung eigener Zielsetzungen für den Tag.

Verfasserinnen für das Behandlungsteam unter der Klinikleitung Dr. Secil Akinci:

Elke Röming, ehemalige Klinikdirektorin

Sindy Falkenheiner, Kunsttherapeutin B. A.

Anja Wilson, Gesundheits- und Krankenpflegerin

Bilder: Janine Hillmann, Psychologische Psychotherapeutin