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Die Geschichte von Wilhelm Kleinschmidt

Zum 1. September gedenkt Vitos der Opfer der NS-Krankenmorde

Mit dem sogenannten Euthanasie-Erlass vom 1. September 1939 begann das schreckliche Kapitel der Krankenmorde zur Zeit des Nationalsozialismus. Anlässlich des Jahrestages erinnert Vitos an die Opfer. Zu ihnen gehörte auch Wilhelm Kleinschmidt. Der Familienvater und gelernte Schlosser wurde 1941 in einer Einrichtung ermordet, die heute von Vitos betrieben wird. Seine Geschichte stellen wir hier vor.

Erst war er appetitlos, dann rochen alle Speisen schlecht. Schlafen konnte er nicht mehr. Er suchte im Klosett nach, fühlte sich verfolgt durch den Kot anderer Menschen. So steht es in seiner Krankenakte*. Wilhelm Kleinschmidt, 35 Jahre alt, arbeitet zu diesem Zeitpunkt als Gas- und Stromableser und Gelderheber bei der Stadt Kassel. Die Arbeit übt er seit zwölf Jahren aus, empfindet eine hohe Verantwortung. Eigentlich ist er gelernter Schlosser, doch in seinem Beruf findet er keine Arbeit. Verheiratet ist er mit Marie, zwei Kinder haben sie.

1935 beginnt sein Leben hinter verschlossenen Türen

Im Jahr, als sein Appetit nachlässt, sind sie 15 und elf Jahre alt. 1935 ist das. Es geht dem Familienvater nicht gut, vier verschiedene Ärzte sucht er auf, keiner weiß Rat. Seine Frau gibt der Kopfgrippe die Schuld am Zustand ihres Mannes, die er im Januar hatte. Auch zum Nervenarzt geht er, seine Frau rät ihm dazu. Am Morgen des 20. September findet seine Frau ihn mit einer Schlinge um den Hals am Fensterkreuz. Sie schneidet ihn ab, bringt ihn in das Karlshospital in Kassel, der Arzt empfiehlt die Einweisung in eine geschlossene Anstalt, der Amtsarzt befürwortet das. Und Wilhelm Kleinschmidts Leben hinter verschlossenen Türen beginnt.

Diagnose der Landesheilanstalt: Schizophrenie

Die Landesheilanstalt Marburg nimmt ihn am 26. September 1935 auf. Diagnose: Schizophrenie. Ab diesem Tag folgen „TagesVermerke“, maschinengetippt, in der Krankenakte Kleinschmidt. 16 Seiten füllen sie bis zum Tag der Entlassung am 23. Oktober 1936. Der letzte beansprucht eine ganze Seite – protokolliert von „Prof. J.“. Demnach fühlt sich Kleinschmidt gut, er habe keine Schlafstörungen mehr, an einen Selbstmordversuch kann er sich nicht mehr erinnern. Vergessen sind auch die vielen Anschuldigungen, die in seiner Akte das gesamte Jahr über verzeichnet wurden: „Ich weiß, dass ich umgebracht werde, hier entstehen Geheimbünde“ soll er gesagt haben. Er beschuldigt einen Pfleger, ihm Gift aufs Butterbrot geschmiert zu haben, wird aggressiv gegen ihn und schlägt einen anderen Patienten. Zu Hause soll auch seine Frau versucht haben, ihn zu vergiften. Zwei Stück Wurst und zwei Apfelsinen aus einem Paket von ihr rührt er nicht an.

Kaum entlassen, folgt die erneute Einweisung

Kaum entlassen, steht er am 8. Dezember, begleitet von zwei Krankenpflegern, den Überweisungsschein des Karlshospitals in der Hand, wieder vor der Tür der Landesheilanstalt Marburg. Er soll in einer Auseinandersetzung seinen Sohn mit dem Messer bedroht haben. Der Arzt fragt ihn, ob er weiß, warum er wieder ins Karlshospital gekommen ist, und notiert die Antwort: „Darüber gebe ich keine Auskunft, das müssen die verantworten, die mich hergebracht haben.“ Nach einigem Zureden räumt „der Pat.“ ein, es sei um das Familienstammbuch gegangen, das er herausgeben sollte. Seiner Aussage nach hat der Sohn zum Messer gegriffen und ihm gedroht, er lasse ihn wieder in Marburg einliefern, wenn er das Stammbuch nicht herausgebe, das dieser für die Schule brauche. Kleinschmidt bleibt ruhig, auch die nächsten Tage bleibt er laut Tagesvermerken in der Anstalt unauffällig.

Die Ehefrau bittet um seine Rückkehr

Seine Ehefrau schreibt am 11. Dezember an den Direktor der Anstalt und schildert ihre Sicht der Dinge: „Es hätte nicht nötig getan mein Mann wieder fort zu schaffen da er hier im Karlshospital genau war wie jeder andere Mensch.“ Sie beschuldigt ihre Nichte ungebührlichen Verhaltens gegenüber ihrem Mann. Sie hätte das Stammbuch haben wollen wegen der arischen Abstammung und habe zu dem Mann gesagt: „er sei tof und wenn er ihr das Buch nicht geben würde, käme er morgen wieder nach Marburg.“ Später hätten ihr Sohn und Mann gestritten, der Mann sei auf den Sohn losgegangen, sie habe den Sohn gebeten, Hilfe zu holen. So kam der Mann ins Karlshospital. Aber er habe sich doch beruhigt und nun solle er doch bitte zu Weihnachten wieder daheim sein.

Erneute Einweisung nimmt er vermeintlich regungslos hin

Am 8. Februar 1937 holt seine Frau ihn schließlich ab. Kleinschmidt bezieht Invalidenrente, bleibt zu Hause. Ein gutes Jahr später, am 6. April 1938, weist die Polizei ihn erneut ein: Er gefährde seine Familie, schlage die Kinder grundlos, habe den Sohn gebissen und zanke dauernd mit der Frau. Er kommt in die Landesheilanstalt Haina, Befund: „Stark versandete Schizophrenie mit Verfolgungsideen“. Versandet, der Begriff beinhaltet die Affektverflachung, die auch erklärt, warum Wilhelm Kleinschmidt vermeintlich regungslos die Wiedereinweisung hinnimmt. Dem Krankheitsbild entspricht das in der Akte immer wieder erwähnte „höhnische, überhebliche Lächeln“ Kleinschmidts, das vielleicht eher Ausdruck einer reduzierten Reaktionsfähigkeit auf emotionale Anlässe ist. Bei einer Körpergröße von 154 Zentimetern wiegt er noch 47 Kilo. Ein Halbsatz im Anamnesebogen lässt aufhorchen: „Nach stattgegebener Sterilisierung wegen Schizophrenie …“ – geschehen während seines ersten Aufenthaltes in der Landesheilanstalt Marburg.

Tätigkeit als Schlosser lässt ihn aufleben

Einmal lebt Wilhelm Kleinschmidt noch auf in Haina. Am 12. November 1938 ist vermerkt: „Seit seiner Beschäftigung in der Schlosserei ist er viel aufgeschlossener, seine Stimmung meist gehoben.“ Der Meister ist voll des Lobes. Doch eine Verletzung am Fuß zwingt Kleinschmidt zur Ruhe. Er schreibt in dieser Zeit einen freundlichen Brief an seine Frau, sein Zustand wird als geheilt eingeschätzt. Es folgt die Entlassung am 24. März 1939, Frau und Sohn holen ihn ab. Um ihn ein halbes Jahr später wieder in die Anstalt zu schicken. Es wird das letzte Mal sein. Der aufnehmende Arzt protokolliert: „Bei allem bei der Unterhaltung lächelt Pat. eigenartig. Aus allem ist zu entnehmen, daß er nicht recht mit der Sprache heraus will und seine Gedanken zu verbergen sucht. Achselzuckend sagt er, ich kann weiter keine Angaben machen. Ich weiß nicht, warum ich wieder hierher gekommen bin.“

Nicht arbeitsfähig zu sein bedeutet das Todesurteil im NS-Regime

Für das Jahr 1940 liegt kein einziger Pflegebericht vor, erst Anfang 1941 wird protokolliert, ein anderer Patient habe beobachtet, dass Kleinschmidt in der Nacht einen „epileptischen Anfall“ gehabt habe. Und weiter: Der Patient müsse zur geringsten Hausarbeit angehalten werden. Er sei nicht in der Lage, selbst eine Arbeit zu verrichten. Das Todesurteil im NS-Regime. Wer nicht arbeiten kann, ist des Lebens nicht wert. Nach dem 5. Juni 1941 wird Wilhelm Kleinschmidt „nach Idstein verlegt“. Wahrscheinlich wird er noch im selben Jahr nach Hadamar gebracht und ermordet.

*Dieser biografische Text entstand auf der Basis der Krankenakte. Die dort verwendete Sprache spiegelt vielfach die menschenverachtende Haltung der Ärzte und des Pflegepersonals wider, die Diagnosen wurden nach heutiger Erkenntnis willkürlich und zum Teil bewusst falsch erstellt. Sie dienten dazu, die menschenunwürdige Behandlung und Ermordung des Patienten zu rechtfertigen.

Bildquellen: privat

Hinweis: Der vorliegende Beitrag ist der Broschüre „Geschichte und Gedenken“ entnommen, die Vitos gemeinsam mit dem Landeswohlfahrtsverband Hessen herausgegeben hat. Die Broschüre beschreibt auf 100 Seiten, wie heutige Vitos Einrichtungen in der Zeit von 1933 bis 1945 in das System der Diskriminierung und Ermordung von kranken und behinderten Menschen eingebunden waren. Die Broschüre sowie weitere Informationen zur Gedenkarbeit bei Vitos finden Sie hier auf unserer Website [1].