08 Jun Die „innere Uhr“ und wie sie tickt
Während der eine schon früh morgens putzmunter und leistungsfähig ist, kommt der andere nur schwer aus dem Bett, dreht dafür aber in den späten Abendstunden richtig auf und macht die Nacht zum Tage. Oft ist die Rede von den sogenannten „Lerchen“ und „Eulen“. In der Medizin hingegen sprechen wir von verschiedenen Chronotypen. Doch niemand sucht sich seine Präferenz für die Morgen- beziehungsweise Abendstunden aus. Vielmehr handelt es sich dabei um ein komplexes Zusammenspiel von genetischen Anlagen und Umwelteinflüssen.
Der Schlaf-Wach-Rhythmus
Im Laufe der Evolution haben sich sogenannte endogene (innere) Rhythmen entwickelt, die zur Anpassung der Körpervorgänge an die äußere Umwelt notwendig sind. Einer davon wird vereinfacht als Schlaf-Wach-Rhythmus bezeichnet. Biologische Grundlage für die Steuerung und Anpassung dieser Rhythmen sind beim Menschen Zellen im suprachiasmatischen Nucleus (kurz SCN). Dabei handelt es sich um ein Kerngebiet des Hypothalamus, der wiederum ein Abschnitt des Zwischenhirns im Bereich der Sehnervenkreuzung ist. Die Zellen des suprachiasmatischen Nucleus geben Impulse in einem Rhythmus von etwa 23-25 Stunden. Die „innere Uhr tickt“ – vor allem genetisch bedingt – individuell unterschiedlich und muss ständig mit äußeren Zeitgebern, vor allem dem tageszeitlichen Lichteinfall, „synchronisiert“ werden. Eine große Rolle spielt dabei das Hormon Melatonin, welches auch als „Schlafhormon“ bezeichnet wird.
Die verschiedenen Chronotypen
Bei der Geburt ist der endogene Rhythmus eines jeden Menschen anders. Das ist vor allem genetisch bedingt. Früh spielen auch Umwelteinflüsse, insbesondere Licht, eine Rolle. Durch Beobachtungen und Messwerte können wir den jeweiligen individuellen Chronotyp bestimmen. In der Regel zeichnet sich eine recht stabile Präferenz für Aktivitäten entweder für den Abend oder den Morgen ab. Umgangssprachlich wird von den sogenannten „Lerchen“, also Morgenmenschen und „Eulen“, also Nachtmenschen, gesprochen. Extreme Frühaufsteher, beziehungsweise Nachtmenschen, kommen selten vor. Der Mittelbereich, genannt „Intermediär-“ oder „Neutraltyp“, hingegen ist die Regel.
Frühaufsteher oder Nachtmensch – auch das Alter spielt eine Rolle
Grundsätzlich ist der Chronotyp eines Menschen recht stabil. Jedoch gibt es bei den meisten Menschen im Laufe des Lebens Veränderungen. Eltern von kleinen Kindern wissen, dass diese meist Frühaufsteher, also „Lerchen“, sind. Im Jugendalter hingegen verschiebt sich die Präferenz, der Nachwuchs bleibt gerne lange wach und kommt früh morgens nur schwer aus dem Bett. Die „Lerche“ hat sich zu einer „Eule“ entwickelt. Mit fortschreitendem Alter geht die Tendenz bei den meisten Menschen wieder hin zum Morgentyp.
Abendtypen haben Nachteile in Bezug auf ihre Leistungsfähigkeit
Persönlichkeitsunterschiede zwischen den einzelnen Chronotypen sind noch nicht sicher belegt. Jedoch konnte festgestellt werden, dass Morgentypen oft disziplinierter und weniger risikofreudig sind als Abendtypen. Die höheren Anpassungserfordernisse aufgrund von äußeren Zeitgebern wie Schule, Studium oder Beruf führen dazu, dass extreme Abendtypen Nachteile in Bezug auf ihre Leistungsfähigkeit in Kauf nehmen müssen. Des Weiteren konnte festgestellt werden, dass extreme Abendtypen ein höheres Risiko sowohl für körperliche als auch für psychische Erkrankungen aufweisen. Zu nennen wären hier vor allem Diabetes und Herzkreislauferkrankungen. Aber auch für Depressionen oder die Entwicklung von Abhängigkeitserkrankungen sind diese Chronotypen anfälliger.
Der soziale Jetlag
Anhaltendes „Misalignment“, also eine längere Desynchronisation zwischen innerer Uhr und sozialen Zeitgebern, wird als „social jetlag“ bezeichnet. Provoziert wird solch ein „social jetlag“ zum Beispiel durch Schichtarbeit. Aber auch Abendtypen, die unter der Woche spät zu Bett gehen und somit wenig schlafen, dies am Wochenende dann aber „aufholen“ möchten, sind davon betroffen. Für den Körper ist diese Belastung mit einem häufigen Wechsel zwischen verschiedenen Zeitzonen vergleichbar. Einher geht damit ein erhöhtes körperliches und psychisches Gesundheitsrisiko. Zudem ist bei Menschen, die regelmäßig unter einem „social jetlag“ leiden, ein erhöhter Konsum von Nikotin, Alkohol und Stimulanzien festzustellen.
Präventions- und Behandlungsmöglichkeiten
In Bezug auf die Prävention und Behandlung von Erkrankungen, welche mit einer Desynchronisation von äußeren Zeitgebern und endogenen Rhythmen zusammenhängen, ist die Berücksichtigung des individuellen Chronotyps, genau wie die richtige Beleuchtung, vielversprechend. Extreme Chronotypen sollten auf Schichtarbeit entgegen ihrer „inneren Uhr“ verzichten. Wünschenswert wäre außerdem, dass im Alter zwischen 15 und 25 Jahren die Möglichkeit eines späteren Unterrichtsbeginns in Schule und Studium geboten wird.
Sowohl chronobiologische Hypothesen als auch vorliegende Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass sich ein späterer Unterrichtsbeginn positiv auf die Leistungen und das Befinden von zahlreichen Schülern auswirken kann. Am wenigsten davon profitieren würden extreme Morgentypen.
Die Zeitumstellung – eine gezielte Desynchronisation der inneren Uhr
Durch die Zeitumstellung, welche zweimal jährlich stattfindet, werden die „innere Uhr“ und äußere Zeitgeber desynchronisiert. Der endogene Rhythmus verharrt noch eine Weile in der gewohnten „Sommer-“ beziehungsweise „Winterzeit“. Nach der Umstellung auf die Sommerzeit haben viele Menschen, allen voran die Abendtypen, frühmorgens noch Schlafbedarf. Schlafstörungen und Tagesmüdigkeit können die Folge sein. Dies zeigt, dass nicht nur die Schlafdauer (empfohlen sind mindestens sechs Stunden pro Nacht) sondern auch die dem jeweiligen Chronotyp angepassten Schlafzeiten eine Rolle spielen.
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Am Vitos Klinikum Gießen-Marburg wird derzeit in mehreren Projekten zum Thema „Chronotypen“ mit dem Ziel geforscht, aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse möglichst zeitnah den Patienten zu Gute kommen zu lassen.
Arbeitsgruppe: u. a. Frau Dr. N. Cabanel, Herr Dr. B. Kundermann, Frau S. Fockenberg, Frau Dr. A. Haag, Herr Prof. Dr. Dr. M.J. Müller
(Teil-)Ergebnisse der Arbeitsgruppe wurden bereits auf diesen Kongressen als Vorträge bzw. Poster präsentiert:
- Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Psychologie, München, September 2015
- AGNP-Tagung, München, September 2015
- DGPPN-Kongress, Berlin, November 2015
- Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin e.V., Mainz, Dezember 2015
Publikationen zum Thema:
- Müller M.J., Cabanel, N., Olschinski, C., Jochim, D., Kundermann, B. (2015). Chronotypes in patients with nonseasonal depressive disorder: Distribution, stability and association with clinical variables. Chronobiology International, 32(10), 1343-1351.
- Müller, M.J., Kundermann, B., Cabanel, N. (2015). Eveningness and poor sleep quality independently contribute to self-reported depression severity in psychiatric inpatients with affective disorder. Nordic Journal of Psychiatry. 2015 Dec 4:1-6. [Epub ahead of print]
- Müller M.J., Cabanel, N., Olschinski, C., Jochim, D., Kundermann, B. (2016, in press). Patterns of self-reported depressive symptoms in relation to morningness-eveningness in inpatients with a depressive disorder. Psychiatry Research.
- Cabanel, N., Kundermann, B., Olschinski, C., Müller, M.J. (2015). Subjektive Schlafqualität in psychiatrischem Krankenhaus. Somnologie-Schlafforschung und Schlafmedizin, 19 (3), 186-192.
- Kundermann, B., Cabanel, N., Scharmer, T., Müller, M.J. (2014). Assoziationen zwischen Chronotypologie und klinischen Charakteristika bei Patienten affektiven Störungen und ausgeprägter Insomnie in stationärer Behandlung. Somnologie-Schlafforschung und Schlafmedizin, 18, Sonderheft 1, 49.
- Haag, A., Cabanel, N., Kundermann, B., Olschinski, C., Müller, M.J. (2016, in press). Chronotyp und Schlafqualität als unabhängige Einflussfaktoren auf die Depressionsschwere bei Patienten mit depressiven Syndromen in stationärer Behandlung. Neuro aktuell.
- Haag, A., Cabanel, N., Kundermann, B., Olschinski, C., Müller, M.J. (2016, in press). Die Bedeutung des Chronotyps für depressive Störungen. Neurotransmitter.