- Vitos Blog - https://blog.vitos.de -

„Die Motivation zu kommen genügt“

Vitos Klinik und Übergangseinrichtung Hasselborn bilden ein Suchthilfezentrum. Suchthilfe – Was ist das eigentlich? Fachliche Aspekte und Hintergründe erklären Dr. Gabriele Thies-Etzel, Ärztliche Leiterin der Vitos Klinik Hasselborn und des Suchtbereichs des Vitos Waldkrankenhauses Köppern und Wolfgang Kutzner, therapeutischer Leiter der Vitos begleitenden psychiatrischen Dienste Hochtaunus. Wer sind die Patienten? Wie wird ihnen geholfen? Welche Besonderheiten gibt es? Wer sind meine Ansprechpartner als potenzieller Patient? 

Natalie Kittler: Frau Dr. Thies-Etzel, wie sieht Ihre Arbeit in dem Suchthilfezentrum aus?
Dr. Thies-Etzel: In dem kleinen Krankenhaus für 14 Patienten sind 1,5 Arztstellen für den stationären Ablauf besetzt. Ich verstehe mich hier als Supervisorin der Behandlungen. Was mich immer wieder begeistert, ist, dass die Mitarbeiter sehr fürsorglich und annehmend im Umgang mit den Patienten sind. Die gesamte Atmosphäre ist sehr angenehm. Die Resonanz der Patienten ist positiv. Die meisten fühlen sich wohl und sehr gut betreut, trotz der Belastungen durch die Entgiftung. Das zeigt sich darin, dass die Haltequote hoch ist und es nur selten Behandlungsabbrüche gibt. Die große Mehrzahl der Patienten wird regulär körperlich entgiftet entlassen.

Natalie Kittler: Herr Kutzner, welche Herausforderungen stellen sich Ihnen als therapeutischer Leiter?
Kutzner: Ich versuche eine diplomatische Antwort: Alle Rahmenbedingungen sind von Menschen geschaffen und ermöglichen erst unsere Arbeit. Deshalb sehe ich diese Bedingungen positiv. Als Führungskraft habe ich mehr oder weniger mit allen Ebenen zu tun. Ich sehe, dass die Rahmenbedingungen unsere Arbeit manchmal auch behindern und manche Bedingungen oder vielmehr die Umstände Drumherum, sogar permanent. Die Auswirkungen davon sind immer Herausforderungen. Aber ich denke, das ist völlig normal.

Natalie Kittler: Was ist denn eigentlich das Suchthilfezentrum Hasselborn?
Kutzner: Die Klinik ist seit 2009 in einem sehr schönen und freundlichen Neubau untergebracht. Sie führt jährlich ca. 380 qualifizierte Entgiftungsbehandlungen für von illegalen Drogen abhängige Menschen durch. Qualifiziert bedeutet, dass die Behandlung nicht reduziert ist auf die somatische Entgiftung. Sie bezieht möglichst viele alltagsbezogene Aspekte, soziale Beziehungen, kommunikative Möglichkeiten und die emotionale Entwicklung der einzelnen Patienten mit ein. Die direkte Anschlussbetreuung in der Übergangseinrichtung intensiviert diesen Ansatz.

Natalie Kittler: Was meinen Sie damit genau?
Kutzner: Die Eingliederungshilfen der Übergangseinrichtung laufen über einen längeren Zeitraum. Die Bewältigung des Alltags steht dabei meistens im Vordergrund. Die vielfältigen Hilfen dienen vor allem der Stabilisierung und Orientierung der Klienten. Hier können sich die Menschen auf eine geeignete Anschlussmaßnahme wie medizinisch Rehabilitation oder Betreutes Wohnen vorbereiten.

Dr. Thies-Etzel: Entgiftung bedeutet aus medizinischer Sicht, dass der körperliche Entzug durch Medikamente gestützt wird. Bei der Entgiftung von Opiaten sind das Substitute, „Ersatzdrogen“, wie Methadon oder Subutex. Natürlich ist eine körperliche Entgiftung trotzdem nicht angenehm. Wir versuchen aber, Entzugssymptome, wie Schlafstörungen, zu bekämpfen. Bei Patienten in einer ambulanten Substitutionsbehandlung, können wir auch eine sogenannte Beigebrauchsentgiftung durchführen, also eine Entgiftung mit zusätzlich konsumierten Suchtmitteln, wie Alkohol. Diese Patienten werden dann wieder stabilisiert in ihre ambulante Behandlung entlassen.

Natalie Kittler: Wie kommen die Patienten zu ihnen?
Dr. Thies-Etzel: In die Klinik kommen Patienten mit einer ärztlichen Einweisung und oft auf Empfehlung. Ein Abstinenzgedanke ist nicht die Voraussetzung, kann sich aber im Laufe der Behandlung entwickeln. Sehr wichtig ist uns die Versorgung der Patienten nach der Entgiftung. Sei es durch die Anbindung an eine Substitution, eine Stabilisierung in der Übergangseinrichtung, der Bahnung einer Langzeittherapie oder der Anbindung an ambulante Hilfen.

Kutzner: Ungefähr die Hälfte der jährlich um die 235 Klienten hat in der Klinik entgiftet und wechselt nahtlos in die Übergangseinrichtung. Die andere Hälfte hat die Behandlung in unterschiedlichen Kliniken durchgeführt. Die Übergangseinrichtung nimmt Patienten aus ganz Hessen auf. In wenigen Fällen kommen sie auch aus anderen Bundesländern. Ein Teil der Patienten kommt mithilfe einer vermittelnden Institution zu uns. Viele wissen von der Einrichtung durch Bekannte und Freunde oder kennen sie durch einen früheren Aufenthalt. In der Übergangseinrichtung sind 15 bis 20 Prozent der Klienten Wiederaufnahmen.

Natalie Kittler: Gibt es für die Patienten Aufnahme- oder auch Ausschlusskriterien?
Kutzner: Die Motivation zu kommen genügt. Die Ausschlusskriterien der Übergangseinrichtung sind im Grunde dieselben, wie die in der Klinik. Ist zum Beispiel eine akute Suizidalität bekannt, muss diese zuvor psychiatrisch behandelt und ausgeschlossen worden sein. Tritt sie während der Betreuung auf, ist eine Verlegung erforderlich, aber immer mit der Möglichkeit zurückzukehren. Das Besondere ist, dass vor der Aufnahme die Kostenübernahme nicht geklärt sein muss, sofern der sogenannte gewöhnliche Aufenthalt, der Wohnsitz und überwiegender Aufenthalt, in Hessen ist. Diese Formalität wird bei der Aufnahme in der Übergangseinrichtung geregelt.

Dr. Thies-Etzel: Für die Entgiftung können wir keine Patienten aufnehmen, die unter überwachungsbedürftigen, schweren körperlichen Erkrankungen leiden. All dies klären unsere Sozialarbeiter am Aufnahmetelefon im vertrauensvollen Gespräch mit den Klienten.

Natalie Kittler: Gibt es ein Krankheitsbild, das wiederholt und oft vertreten ist?
Dr. Thies-Etzel: Viele Patienten in der Klinik sind opiatabhängig. Fast alle Patienten haben darüber hinaus eine Abhängigkeit oder einen Missbrauch von mehreren Substanzen.

Kutzner: In der Übergangseinrichtung betreuen wir seit vielen Jahren vermehrt Klienten mit zuvor von Fachärzten gestellten psychiatrischen Zusatzdiagnosen. Mittlerweile liegt deren Anteil bei 25 Prozent. Sie erhalten oft seit längerem ihrem Krankheitsbild entsprechende Psychopharmaka. In der Klinik werden diese Patienten wie in der Übergangseinrichtung auch zu diesen Störungen behandelt. Allerdings müssen sich die Diagnosen gegenüber den Krankenkassen bisher aus formellen Gründen auf die Suchterkrankungen beschränken.

Natalie Kittler: Gibt es eine Richtlinie, wie lange ein Patient bleiben darf? Ist in speziellen Fällen eine Verlängerung möglich?
Kutzner: Die Entzugsbehandlung in der Klinik kann leider nicht verlängert werden. Die Behandlung dauert im Durchschnitt 14 Tage. Nur in Einzelfällen können daraus drei Wochen werden. Zum Beispiel wenn eine zusätzliche Entgiftung von Benzodiazepinen durchgeführt werden muss.

Natalie Kittler: Gibt es Besonderheiten, die Sie von anderen Kliniken und Übergangseinrichtungen unterscheidet?
Dr. Thies-Etzel: In der Klinik haben wir die Möglichkeit, Jugendliche ab dem 14. Lebensjahr mit dem Einverständnis der Sorgeberechtigten zu behandeln. Erfahrungsgemäß steht bei diesen Klienten ein Cannabis Abusus, mit den begleitenden Problemen in Schule und Ausbildung, im Vordergrund. Patienten, die in der Klinik entgiften, haben eine Aufnahmegarantie, um nahtlos in die Übergangseinrichtung zu wechseln. Wenn sie das wünschen.

Kutzner: Die Klinik kann Patienten schon ab 14 Jahren behandeln. Die Übergangseinrichtung hat die Betriebserlaubnis gem. § 45 SGB VIII, um Minderjährige ab 16 Jahren aufzunehmen. Substituierte Klienten können in der Übergangseinrichtung betreut werden, ohne dass der Anspruch besteht, herab- oder ausdosieren zu müssen. Immerhin sind seit einigen Jahren zwischen 25 und 30 Prozent der Klienten substituiert.
Neben diesen Aspekten haben wir eine wirklich einzigartige Lage, idyllisch am Waldrand. Die Landschaft bietet viel Raum für Spaziergänge und Wanderungen. Wir haben eine ausgezeichnete Joggingstrecke, von leicht bis anspruchsvoll. Manche Klienten, besonders diejenigen die früher mal Sport betrieben haben, sind sehr schnell in der Lage, 5 bis 10 Kilometer am Stück zu laufen.
Wir haben auch einige Alpakas zur tiergestützten Therapie. Alpakas sind bekanntlich soziale Tiere, die zu Menschen mit ihren Augen Kontakt aufnehmen. Für einige unserer Klienten sind die Pflege dieser Tiere und der Umgang mit ihnen ein Schlüssel zum Weg aus ihrer Isolation.

Natalie Kittler: Was ist das Besondere an der Suchthilfe Hasselborn? Warum ist es wichtig, dass Vitos dies anbietet?
Dr. Thies-Etzel: Zur Ruhe kommen, räumliche Distanz zum Umfeld, Unterstützung bei sozialen Problemen, das sind alles Dinge, die wir neben der Behandlung bieten können. Es gibt vielfältige Probleme, die die langjährig erfahrenen Teams mit Fachkompetenz multidisziplinär angehen. Insbesondere für jüngere Patienten ab dem 14. Lebensjahr gibt es nicht viele Behandlungsmöglichkeiten.

Kutzner: Es ist immer möglich, Patienten und Klienten in Krisensituationen adäquat zu unterstützen. Vitos Hochtaunus bietet mit seinen beiden Suchtstationen im nicht weit entfernten Waldkrankenhaus Köppern eine ideale beiderseitige Ergänzung, die ich in der Entwicklung der fachlichen und persönlichen Zusammenarbeit schon auf einem guten Weg sehe. Durch die Übernahme der Hasselborner Einrichtungen hat sich der Suchtbereich von Vitos Hochtaunus erheblich vergrößert und bietet mehr Raum und Möglichkeiten für fachliche Entwicklungen, Synergien und Spezialisierungen.

Natalie Kittler: Was ist das Spannendste an der Arbeit im Suchthilfezentrum?
Dr. Thies-Etzel: Zu sehen, wie Patienten wieder gesund werden und sie über eine längere Zeit dabei zu begleiten. Zudem ist die Arbeit im multiprofessionellen Team mit einem immer sehr engen Austausch immer wieder spannend.

Kutzner: Ja, und schön ist es, zum jährlichen Sommerfest für ehemalige Klienten zu sehen, dass es sogar einige geschafft haben, ihr Leben für sich zufriedenstellen zu gestalten, von denen ich es vielleicht nicht erwartet hätte. Ich habe schon vor langer Zeit im Rahmen meiner stationären Arbeit gelernt, dass Prognosen bei süchtigen Menschen stellen, zumindest für mich nur ein „Hobby“ ist. Zu oft lag ich daneben.

Natalie Kittler: An wen kann ich mich als potenzieller Klient wenden? Wer sind meine Ansprechpartner?
Kutzner: Mitarbeiter des Hasselborner Sozialdienstes koordinieren die Aufnahme für Klinik und Übergangseinrichtung. Das Hasselborner Aufnahmetelefon ist für beide Einrichtungen dasselbe: 06085 – 430 80 80. Es ist Montag bis Freitag von 10:00 bis 12:00 Uhr und von 14:30 bis 15:30 Uhr besetzt. Mittwochs allerdings nur vormittags.
Wenn die Leitung besetzt ist, kann der Anrufer eine Nachricht hinterlassen. Wir rufen in der Regel noch am selben Tag zurück. Auf Wunsch können in einem Rückruf auch Details zu Behandlung und Betreuung erörtert werden. Bei Bedarf kann man auch mit einem der Hasselborner Ärzte sprechen. Bei Minderjährigen führen wir vor einer Entzugsbehandlung immer ein Vorgespräch zusammen mit einem Sorgeberechtigten.
Unabhängig davon ist jede Suchtberatungsstelle in der Lage, die Klienten bei der Kontaktaufnahme oder Vermittlung zu unterstützen.