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Die neugewonnene Freiheit geht mit einer großen Eigenverantwortung einher

18 Monate Außenwohngruppe der Vitos Klinik für forensische Psychiatrie Hadamar – ein Erfahrungsbericht

Silke Junglas ist seit über 30 Jahren bei Vitos in Hadamar angestellt. Sie hat die Eröffnung der Außenwohngruppe im vergangenen Jahr begleitet und arbeitet dort seither als Pflegefachkraft. Über ihren Job und darüber, was es für die Patientinnen und Patienten bedeutet, die neue Freiheit, aber auch die damit einhergehende Verantwortung zu meistern, berichtet sie in diesem Beitrag.

Die Zukunft hängt davon ab, was wir heute tun (Mahatma Gandhi).

Kurz zu mir: Mein Name ist Silke Junglas und ich arbeite nun seit über 30 Jahren bei Vitos in Hadamar als Pflegefachkraft. Meine ersten Berufserfahrungen konnte ich im offenen Bereich der forensischen Klinik sammeln. Danach wechselte ich in den geschlossenen Bereich. 2002 wurde die Frauenstation eröffnet. Dort war ich fast 20 Jahre tätig. Ich arbeitete dort bis im April 2021 und wechselte dann, auf eigenen Wunsch, zur Außenwohngruppe der forensischen Klinik, die wir zu diesem Zeitpunkt eröffnet haben.

Freiheit und Verantwortung
Die Außenwohngruppe bietet eine neue Art der Freiheit

Die Außenwohngruppe bietet eine neue Art der Freiheit

Erst, wenn die Kerntherapie auf den vorangegangenen Stationen für die Patient/-innen abgeschlossen ist, kommen sie in die Außenwohngruppe. Das Konzept der Außenwohngruppe umfasst, die zuvor erlernten Inhalte der geschlossenen Stationen umzusetzen. Die neugewonnene Freiheit geht mit einer großen Eigenverantwortung für die Patienten und Patientinnen einher. In der Außenwohngruppe ist die Eingangstür offen. Die Patienten verfügen über einen eigenen Haustürschlüssel und haben ein Einzelzimmer. Nach Monaten oder sogar Jahren mit mindestens einem Zimmernachbarn ist das eine ungewohnte Situation für die Patienten. Erst kürzlich hat ein Patient nach seiner ersten Nacht in der Außenwohngruppe von einem ungewohnten Gefühl berichtet, dass ihn überkam, da er nun keine Gitter mehr vor seinem Zimmerfenster habe und ihm das Schnarchen der Mitpatienten fehlen würde.

Die Außenwohngruppe bietet den Patienten eine neue Art der Freiheit, aber auch eine große Verantwortung. Sie müssen die neuen Rahmenbedingungen verinnerlichen und annehmen. Das bedarf oftmals einer gewissen Zeit der Umgewöhnung. Auch ich musste mich an die vollkommen neue Situation gewöhnen. Ich kam aus dem stationären Bereich. Dort haben wir die Patient/-innen rund um die Uhr betreut. Nun musste ich mich in ein neues Konzept einfinden: Wir lassen die Patienten ab 16:30 Uhr „allein“ und kommen erst am nächsten Tag, ab 6:25 Uhr, wieder vorbei.

Die Kollegen und Kolleginnen der forensischen Ambulanz schauen nach ihrer letzten Tour von Hausbesuchen nochmals in der Außenwohngruppe vorbei. Hierbei prüfen sie die Anwesenheit der Patienten und kontrollieren das Ausgangsbuch.

Oft habe ich mir auf dem Heimweg und auch noch zu Hause darüber Gedanken gemacht, ob ich alles erledigt habe. Zudem machte ich mir Gedanken darüber, ob ich genug Gespräche mit den Patienten hatte und der ein oder andere nicht doch auf „dumme“ Gedanken kommen könnte. Diese Art von Misstrauen ist mit der Zeit weniger geworden. Das liegt vermutlich daran, dass ich an Erfahrung dazugewonnen habe. Ich habe zum Beispiel durch meine Arbeit in der Außenwohngruppe gelernt, dass die Patient/-innen durch die WG-ähnlichen Strukturen auch Verantwortung für andere Mitpatienten übernehmen und sich gegenseitig unterstützen. Ich finde, aus diesem Setting schöpfen die Patienten sehr viel für ein zukünftiges Leben ohne Suchtmittel und Delinquenz. Überhaupt ist Eigenverantwortung, mit der nötigen Transparenz und Offenheit, ein ganz wesentlicher Baustein im Konzept der Außenwohngruppen – für uns Mitarbeitende, aber auch für die Patientinnen und Patienten.

Jeder soll sich für die Gemeinschaft einbringen

Schon in der Eingewöhnungsphase übernehmen die Patienten Aufgaben wie Hausarbeiten und Arbeiten im Außenbereich der Außenwohngruppe. Es müssen mehrere Höfe und Blumenbeete gepflegt, Unkraut gerupft, Blumen versorgt und Rasen gemäht werden. Jeder soll sich für die Gemeinschaft einbringen. Einerseits seiner individuellen Fähigkeiten entsprechend, andererseits steht auch das Erlernen neuer Aufgaben im Fokus. Die Patienten kochen in Gruppen und bereiten auch das Essen für diejenigen zu, die im Praktikum oder später in der Arbeitswelt angekommen sind.

In der Außenwohngruppe müssen die Patient/-innen ihr Verpflegungsgeld eigenverantwortlich verwalten und einteilen. Das bringt manchmal anfängliche Schwierigkeiten, da die Versuchungen groß sein können, wenn man so lange nicht selbstbestimmt einkaufen gehen konnte. In den Sommermonaten grillen die Patienten öfter in der Außenwohngruppe, feiern Geburtstage mit Kaffee und selbstgebackenem Kuchen und organisieren Abschiedsfeiern.

Das Gefühl, ein Teil der Gesellschaft zu sein
Auch das Gärtnern gehört zu den täglichen Aufgaben

Auch das Gärtnern gehört zu den täglichen Aufgaben

Wenn die Patienten einen Schritt in die Arbeitswelt gehen, durchleben sie eine deutliche Entwicklung. Sie beginnen mit Praktika mit dem Ziel, langfristig einen festen Arbeitsvertrag zu bekommen. Zudem arbeiten sie auf ein Probewohnen außerhalb der Klinik hin.

Es wird dabei immer Rücksicht auf die persönlichen Interessen und Fähigkeiten jedes einzelnen genommen. Wir haben für die Außenwohngruppe feste Praktikumsstellen. Aber es ist dennoch möglich, bei bestehendem Interesse für andere Praktikumsstellen, diese zu suchen und sich mit Unterstützung der Mitarbeitenden zu bewerben.

Die Patienten bekommen von den Arbeitgebern gute Bewertungen ihrer Arbeitsleistung. Das bestärkt sie. Die Patienten können zudem ihre Belastbarkeit testen und bekommen das Gefühl, ein Teil der Gesellschaft zu sein. Das ist eine deutliche Weiterentwicklung, die wir mit den Patienten erleben.

Die Arbeit mit den Angehörigem ist ein wichtiger Baustein

Neben der Arbeit mit den Patientinnen und Patienten der Außenwohngruppe ist die Arbeit mit den Angehörigen ebenfalls ein wichtiger Baustein. Leider ist diese aufgrund von Corona ein wenig auf der Strecke geblieben. Zu den Hochphasen der Pandemie haben wir unsere Kontakte zu den Angehörigen ausschließlich über Videokonferenzen pflegen können. Momentan versuchen wir, die Gespräche und Besuche mit Angehörigen nachzuholen. Für die Angehörigen ist es erleichternd zu sehen, in welchem Setting sie ihre Angehörigen treffen. In der Außenwohngruppe gibt es keine Schleuse bei Besuchen und keinen Sicherheitscheck nach gefährlichen oder verbotenen Gegenständen mehr. Diese Freiheiten bringen nochmals eine neue Art von Vertrauen mit sich. Die Zusammenarbeit mit den Angehörigen fokussiert sich auch auf die Themen Zuverlässigkeit, Umgang mit Vollzugslockerungen und das Miteinander mit süchtigen Angehörigen. Letzteres wird beide Parteien ein Leben lang begleiten und ist deshalb so wichtig.

Die Leitung der Außenwohngruppe und die Leitung der im Gebäude ansässigen forensischen Ambulanz liegt bei Mario Foitzik-Friedrich. Beide Abteilungen sind eng miteinander vernetzt. In einer gemeinsamen morgendlichen Übergabe tauschen sie sich aus. Auch durch die eng verbundenen Räume ist der Kontakt zu den Patient/-innen der Außenwohngruppe schon hergestellt, wenn diese in die forensische Ambulanz wechseln.

Ich kann das Konzept der Außenwohngruppe nur empfehlen, da das offene Setting für die Patienten eine Möglichkeit bietet, ihr auf den Therapiestationen erlerntes Wissen in einem noch forensisch geschützten Rahmen zu erproben.