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Die Nische finden

Orthopädie und Unfallchirurgie – (K)ein rein männlicher Fachbereich

Frauen entscheiden sich nur selten für Orthopädie und Unfallchirurgie, weibliche Führungskräfte gibt es kaum. Drei Vitos Oberärztinnen über Vorurteile, Selbstbewusstsein, Physis und die Faszination ihres Fachs.

Mehr als 60 Prozent der Medizin-Absolventen/-innen in Deutschland sind Frauen, Tendenz steigend. Aber 75 Prozent aller Assistenzärzte in der Orthopädie und Unfallchirurgie sind Männer. Was muss sich ändern, um mehr Frauen für das Fach zu gewinnen? Die Oberärztinnen Dr. Cordula Röhm (Unfallchirurgie, 51 Jahre), Dr. Kathryn Hassel (Orthopädische Rheumatologie, 42 Jahre) und Dr. Julia Sehmisch (Wirbelsäulenorthopädie, 40 Jahre) aus der Vitos Orthopädischen Klinik Kassel (OKK) berichten von ihren Erfahrungen.

Warum entscheiden sich relativ wenige Frauen für den Fachbereich Orthopädie und Unfallchirurgie?

Dr. Cordula Röhm: Als Frau in der Orthopädie und Unfallchirurgie prallen dir von Anfang an Vorurteile entgegen: „Hast du dir das gut überlegt? Wie willst du das körperlich schaffen? Und vor allem: Wie willst Du damit eine Familie gründen?“ Es ist unwahrscheinlich, dass auch männlichen Kollegen diese Fragen gestellt werden.

Dr. Cordula Röhm

Dr. Kathryn Hassel: Unser Tag beginnt sehr früh und ist einfach schlecht planbar. Eine OP dauert so lange wie sie eben dauert, das lässt sich nicht immer timen.

Dr. Julia Sehmisch: In diesem Fachbereich sind die Dienste in der Regel arbeitsintensiv. Gerade in der Unfallchirurgie ist das Arbeitsaufkommen schlechter planbar als in anderen Fachbereichen. Das lässt sich mit einem Familienleben oft nicht gut vereinbaren. Wenn man das frühzeitig weiß, entscheidet man sich vielleicht für ein anderes Fach.

Röhm: Kurioserweise habe ich auch selber Vorurteile im Kopf. Anstatt junge Assistenzärztinnen zu Orthopädie und Unfallchirurgie zu ermutigen, bin ich eher zurückhaltend. Ich kann nur sagen: Ja, es ist möglich, alles unter einen Hut zu bringen. Die Strukturen haben sich über die Jahre verbessert. So war es vor einigen Jahren noch nicht denkbar, Oberärztin in Teilzeit zu sein. Der meist frühe Arbeitsbeginn, vor offizieller Kinderbetreuung, macht es aber für alle Eltern mit kleinen Kindern in den operativen Fächern schwer.

Sehmisch: Dem kann ich zustimmen. Nischen gibt es immer, aber es setzt eine gewisse Berufserfahrung voraus, um zu erkennen, dass es doch geht.

Welche Rolle spielen Größe und Kraft wirklich?

Hassel: Physis kann nicht das ausschlaggebende Argument sein, dafür sind Frau Dr. Sehmisch und ich die besten Beispiele. Ich glaube, jede kann auch im operativen Geschäft ihre Nische finden. Für mich sind es Operationen an Händen und Füßen. Was Frau Dr. Röhm physisch in der Endoprothetik, vor allem in der Wechsel-Endoprothetik, leistet, da würde ich mich vermutlich schwertun.

Röhm: Es gibt immer Operationen, bei denen enorm viel Kraft erforderlich ist und man an seine Grenzen kommt. Aber wir haben Wahnsinns-Instrumente und tolle Hilfsmittel, die den Kraftaufwand erheblich reduzieren. Eine Einschränkung mache ich aber: Viele Instrumente könnte es ruhig in der Frauenversion geben. Die Handspanne der meisten Frauen ist einfach kleiner als bei Männern. An dieser Stelle folgt dann meistens ein Witz …

Sehmisch: Genau, das geht mir ähnlich. Es gibt Instrumente im OP, die nicht für kleine Hände konzipiert sind. Auch ist der höhenverstellbare OP-Tisch in seiner niedrigsten Einstellung manchmal immer noch zu hoch für mich. Aber auch dabei gibt es Hilfsmittel. Ich finde es wichtig, sich und anderen einzugestehen, dass es auch ein paar wenige Handgriffe im OP gibt, die für mich kräftemäßig nicht auszuführen sind. Hilfe dabei bekommt man gern angeboten. Man sollte allerdings das Selbstbewusstsein haben, auch darum zu bitten.

Hassel: Ja, dieses Selbstbewusstsein muss man dann auch haben.

Röhm: Wie oft habe ich das erlebt? Man hat Oberärztin-Visite gemacht und der Patient sagt am Ende: Kann ich nochmal einen Arzt sprechen? Dem Patienten kann man da keine Vorwürfe machen, das ist einfach ein in der Gesellschaft und Medien zementiertes Bild. Flache Hierarchien bergen die Gefahr, entweder nicht ernst genommen zu werden oder als zickig zu gelten. Und bis heute fällt es einigen Kollegen leichter, Anordnungen von männlichen Kollegen entgegenzunehmen.

Würden mehr weibliche Vorbilder helfen?

Dr. Julia Sehmisch

Sehmisch: Assistenzärztinnen in diesem Fachbereich gibt es sicher einige, wenngleich auch hier das Verhältnis zu Männern nicht ausgewogen ist. Oberärztinnen findet man prozentual schon deutlich seltener. Der Anteil von Chefärztinnen ist extrem gering. Ich glaube nicht, dass es immer nur die Männer sind, die den Frauen den Weg in bestimmte Positionen verbauen, sondern viele Positionen streben wir ja auch gar nicht an. Warum die Verhältnisse so sind, dass wir das nicht tun, warum die Vereinbarkeit eines solchen Berufes mit einer zu organisierenden Familienstruktur noch immer so schlecht ist, diese Frage gilt es zu klären. Bei uns in der OKK liegen wir mit drei Oberärztinnen in der Orthopädie ganz sicher über dem Durchschnitt. In meiner Facharztausbildung in unterschiedlichen Kliniken sind mir in Oberarztpositionen einige wenige Frauen begegnet. Keine davon hat rein menschlich betrachtet für mich als Vorbild fungieren können. Denn immer noch sind es leider wir Frauen, die es uns gegenseitig schwermachen. Das war mir wichtig, so nicht zu werden. Und ich bin froh, dass meine beiden Kolleginnen hier das ebenso sehen. Die Sticheleien von Frauen untereinander, die haben mich immer mehr getroffen als die oft gehörten „dummen Sprüche“ der männlichen Kollegen.

Hassel: Die Entscheidung für den ein oder anderen Fachbereich wird nicht anhand weiblicher Vorbilder getroffen. Vorbilder sind wichtig, aber unabhängig vom Geschlecht. Für mich taugt Cordula Röhm als tolles Vorbild.

Röhm: Ein entsprechendes Mentoring-System würde jungen Kolleginnen sicher helfen. Der Verein „Die Chirurginnen e. V.“ wurde dieses Jahr gegründet und spricht genau die hier besprochenen Themen an. Auf ein solches Netzwerk habe ich schon 20 Jahre gewartet.

Haben Sie Ihre Entscheidung für Orthopädie und Unfallchirurgie schon mal bereut?

Dr. Kathryn Hassel

Sehmisch: Nicht bereut, aber infrage gestellt. Um eine Zufriedenheit aus dem zu ziehen, was ich tue, muss ich die Dinge für meine persönliche Bewertung gut machen. Es gab Zeiten, gerade als meine Kinder noch kleiner waren, da wurde ich, aufgrund dieser Zerrissenheit zwischen Arbeit und Familie, beidem nicht gerecht. Die daraus resultierende Unzufriedenheit hat mich schon zweifeln lassen. Da habe ich dann manchmal gedacht, lieber ein konservatives Fach, was mich per se sicher weniger erfüllt hätte, vernünftig zu machen, mit einer besseren Möglichkeit, Zeiten einzuteilen, als diesen immensen zeitlichen Druck am OP-Tisch zu verspüren, pünktlich rauszukommen, weil die Kinder nicht betreut waren. Umentschieden habe ich mich nie. Und keine dieser Phasen ist von Dauer gewesen.

Hassel: Der Spaß an der Arbeit ist entscheidend. Was habe ich davon, wenn sich alles prima mit dem Privatleben in Einklang bringen lässt, ich aber morgens nicht gerne in die Klinik gehe? Orthopädie war schon immer mein Wunschfach. Und ich habe mir nie Gedanken gemacht, ob das alles klappen wird. Vielleicht blauäugig, aber es funktioniert ja. Es ist ein toller Fachbereich, und ich kann mir keinen anderen vorstellen: viele Sparten, viele Krankheitsbilder, die verschiedenen Patienten, gleichzeitig die handwerkliche Herausforderung – so viel Abwechslung bietet kaum ein anderes Fach.

Röhm: Für mich war damals entscheidend, wo ich mich am glücklichsten gefühlt habe auf allen Stationen meiner Aus- und Weiterbildung. Und das waren immer nur die operativen Fächer. Der Vorteil von Orthopädie und Unfallchirurgie: Es ist einfach ein Erfolgsfach. In vielen Fällen können wir unseren Patienten eine Funktionsverbesserung, Schmerzreduktion und Verbesserung der Lebensqualität bieten. Die Ergebnisse sind auch schnell zu sehen. Anders als nach monatelangen Behandlungen, wissen wir schon am Ende eines Tages, was wir geschafft haben.

 

Das Gespräch moderierte Stefanie Hadding: Nach Magisterstudium und journalistischem Volontariat in Köln und Heidelberg habe ich viele Jahre als Journalistin in Redaktionen und als Kommunikationsfrau für Unternehmen gearbeitet. Seit 2015 bin ich für die Unternehmenskommunikation und das Marketing der Vitos Orthopädischen Klinik Kassel [1] verantwortlich. Das Tolle daran: Unsere Fachklinik schreibt seit mehr als 100 Jahren Geschichte und jeden Tag neue Geschichten.