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Die Operation ist die letzte Option

Wird in Deutschland zu häufig operiert? – Dr. Rafael D. Sambale und Dr. Andreas Böger im Gespräch

Laut Bertelsmann-Stiftung ist die Zahl der Operationen am Rücken in den vergangenen Jahren um mehr als 70 Prozent gestiegen. „Die allermeisten Rücken-OPs sind überflüssig“, behauptete der Spiegel im Dezember 2022 in seiner Titelstory. Werden die Patientinnen und Patienten in Deutschland wirklich zu häufig operiert? Wir haben zwei Vitos Chefärzte gefragt, die sich mit dem Thema bestens auskennen.

Dr. Rafael D. Sambale ist Chefarzt für Wirbelsäulenorthopädie an der Vitos Orthopädischen Klinik Kassel. Er kümmert sich vor allem um Patienten mit akut auftretenden Schmerzzuständen der Wirbelsäule. Das Grundgerüst der Behandlung ist die Infiltrationstherapie unter CT-Kontrolle, kombiniert mit einer auf den Patienten zugeschnittenen medikamentösen und physiotherapeutischen Behandlung. „Unser Ziel ist immer eine möglichst lange Schmerzfreiheit bzw. -reduktion, um eine OP zu vermeiden. Der operative Eingriff ist nur die letzte der Optionen“, so Sambale.

Dr. Andreas Böger, Chefarzt für Schmerzmedizin, Manuelle Therapie und Naturheilverfahren in der Klinik, hat die Patient/-innen mit langandauernden, hartnäckigen Schmerzen im Fokus, bei denen die üblichen Maßnahmen, inklusive OP, nicht mehr wirken. Dr. Andreas Böger: „Hierbei analysieren und behandeln wir sowohl körperliche als auch seelische Ursachen von Schmerz. Deshalb arbeiten ärztliche Schmerztherapeuten verschiedener Fachgebiete, Psychologen, Schmerzphysiotherapeuten und Pain Nurses Hand in Hand.“ Neben schulmedizinischen Methoden kommen bei dieser Multimodalen Schmerztherapie auch sanfte ganzheitliche Verfahren zum Einsatz.

„Damit haben hier in der Klinik die in der Region einzigartige Situation, dass wir unseren Rücken-Patienten alle Behandlungs-Optionen unter einem Dach bieten können“, erklärt Dr. Böger. Überflüssige Eingriffe seien damit so gut wie ausgeschlossen. „Bevor er zur OP kommt, werden alle anderen Register gezogen und alle konservativen Therapien erwogen.“

Nur auf Bilder zu schauen ist fatal

Einig sind sich beide Chefärzte, dass ein gründliches Gespräch und eine gründliche körperliche Untersuchung die Basis von allem sein müssen. Viele Medizinerinnen und Mediziner würden nur auf die Bilder schauen und die körperliche Untersuchung vernachlässigen. „Das, was die Bilder zeigen, löst aber nicht unbedingt die Schmerzen aus“, erklärt Dr. Sambale. Sein Team sehe zum Beispiel mehr asymptomatische Bandscheibenvorfälle durch Zufallsbefunde als Bandscheibenvorfälle, die Beschwerden bereiten. Auf dem MRT-Befund sei dann aber nur der Bandscheibenvorfall sichtbar. Doch nicht unbedingt sei dieser auch die Schmerzursache – und eine OP gar nicht die Lösung. Wichtig sei es, die Schmerzen und Funktionsbehinderungen immer für den einzelnen Patienten individuell zu betrachten. „Was dem einen Menschen kaum Probleme bereitet, kann einen anderen stark einschränken“, sagt Sambale. „Wir müssen für jede und jeden Einzelnen die beste Lösung finden.“

Dr. Andreas Böger und Dr. Rafael D. Sambale im Gespräch

Oft hätten Rückenschmerzen eine starke psychische Komponente. „Wenn wir da nur auf die Bilder gucken, ist das fatal“, sagt auch Dr. Andreas Böger. Sein Team behandelt die chronischen Schmerzpatienten unter anderem mit Akupunktur, sanften Medikamenten, Neuraltherapie, Osteopathie und Chirotherapie.

Die Folgen der Ambulantisierung

Die hohe Zahl an Operationen liege aber auch in den Reglementierungen durch die Krankenkassen begründet, sagen die Experten. Die konservative Wirbelsäulenorthopädie – dazu zählen Physiotherapie, lokale Wärmeanwendungen, aber auch die Behandlung mit Medikamenten und Spritzen – ist nahezu tot, sagt Dr. Rafael Sambale. „Die Krankenkassen wollen keine stationären Aufenthalte mehr bezahlen“, sagt er. Stattdessen unterstützen die Kassen zunehmend ambulante Behandlungen.

„Die Idee der Ambulantisierung ist ja grundsätzlich nicht falsch, aber viele Patienten haben gar nicht die Chance dazu, denn die Kapazitäten fehlen“, so Sambale. Wenn ein Patient mit ständigen Schmerzen drei Monate auf einen ambulanten Termin warten müsse, fordere er aus Verzweiflung oft irgendwann eine Operation. Häufig werden dadurch Patienten operiert, die man gut mit konservativen Methoden hätte behandeln können, sagt der Facharzt für Chirurgie, Orthopädie und Unfallchirurgie. Sambale wünscht sich deshalb, zum Beispiel radiologische Behandlungen auch ambulant im Krankenhaus anbieten zu dürfen – aktuell dürfen die Mediziner das nur bei Patienten mit stationärem Aufenthalt.

Zweitmeinung als Option

Damit Patientinnen und Patienten sichergehen können, dass eine Operation bei ihnen auch wirklich sinnvoll ist, raten Dr. Andreas Böger und Dr. Rafael Sambale zur Zweitmeinung. „Jeder hat die Möglichkeit, sich eine Zweitmeinung einzuholen. Das wird aber kaum genutzt“, sagt Sambale. „Auch die Krankenkassen könnten auf diese Zweitmeinung bestehen, um unnötige Operationen zu verhindern“, wünscht sich Böger.

Dass seine eigene Rücken-OP unumgänglich war, wusste keiner besser als der Patient Rafael Sambale selbst: Seine Rückenschmerzen und der Leidensdruck hatten über die Monate ständig zugenommen, konservative Mittel waren ausgeschöpft, Röntgen- und MRT-Bilder sprachen eine klare Sprache in Richtung OP. Und: Dr. Sambale wollte den Eingriff. Der Chefarzt ließ sich 2022 in seinem eigenen Haus am Rücken operieren – von seinem eigenen Leitenden Oberarzt Dr. Sebastian Siegert. „Bei mir wurde eine Dekompression und dynamische Stabilisierung der Lendenwirbelsäule durchgeführt und ich kann mich wieder uneingeschränkt belasten und bewegen, bin vollkommen beschwerdefrei“, sagt Dr. Sambale heute, neun Monate nach dem Eingriff. „Bei mir war die OP das, was sie sein sollte: Die letzte, die einzige Option.“