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Die passende Therapie auch in der schwersten Krise

Besonderes Behandlungskonzept für Borderline- und Traumafolgestörungen bei Vitos in Gießen

Eine akute Krise ist für Menschen mit Borderline- oder Traumafolgestörungen kaum erträglich, denn sie bedeutet emotionalen Ausnahmezustand, großes Leid und Verzweiflung, häufig Selbstverletzungen oder gar Suizidversuche. In dieser Situation eine stringente, störungsspezifische Psychotherapie zu beginnen, fällt schwer. An der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Gießen gibt es Schwerpunktstationen für Borderline- und Traumapatient/-innen. Hier profitieren – anders als an den meisten vergleichbaren Kliniken – auch Akutpatienten von Anfang an, auch in der Krise, vom störungsspezifischen Psychotherapiekonzept. Wie das funktioniert, erläutert Prof. Dr. Michael Franz, Ärztlicher Direktor des Vitos Klinikums Gießen-Marburg, im Interview.


Sie haben eine Schwerpunkt-Station für Trauma-Patienten und -Patientinnen in Gießen aufgebaut. Was zeichnet sie aus?

Prof. Dr. Michael Franz: Menschen mit einer Trauma-Störung haben etwas erlebt, durch das sie sich hilflos, ausweglos, tödlich bedroht fühlen und das tiefe Verzweiflung hervorruft. Nach schwerem Missbrauch oder Vergewaltigung tritt sie in bis zu 60 Prozent der Fälle auf, nach schweren Unfällen in drei bis elf Prozent der Fälle. Leider schämen sich viele Betroffene der Symptome ihrer Trauma-Störung. Dabei handelt es sich im Grunde um eine besondere Verarbeitungsform des Gedächtnisses, die bei jedem Menschen ab einer gewissen Dosis von Traumata auftreten kann. Die Betroffenen erleben Albträume und haben Flashbacks, in denen sie Aspekte des Traumas so wieder erleben, als würden sie im Hier und Jetzt passieren. Deshalb vermeiden sie Gedanken, Gefühle und Aktivitäten, die mit dem Trauma zusammenhängen. Gleichzeitig ist ihr Körper ständig angespannt, sie können nachts nicht mehr schlafen, sich nicht konzentrieren und sind sehr reizbar.

Die Vitos Klinik in Gießen gehört zu den wenigen in Deutschland, die sowohl eine Borderline- als auch eine Trauma-Station haben. Für diese Patienten haben Sie ein Konzept entwickelt. 

Prof. Dr. Franz: Borderline- und Trauma-Patienten kommen in der Regel in Ausnahmezuständen, höchstem Leid und großer Not zu uns, mit schweren Selbstverletzungen. Sie haben oft Suizidversuche hinter sich und können ihre Emotionen kaum regulieren. Um eine Psychotherapie auf einer traditionellen Psychotherapiestation zu machen, müssen die Patienten aber absprache- und durchhaltefähig, therapiemotiviert und nicht suizidal sein. Deshalb kamen bislang nur die leichteren und motivierten Fälle auf die Therapie-Stationen.

Borderliner und krisenhafte Patienten mit Trauma ‚landeten‘ in der Regel erst wochenlang auf einer Akutstation neben schizophrenen oder bipolaren Patienten. Viele hatten es noch nie geschafft, erfolgreich ein wirksames störungsbezogenes Therapieprogramm zu absolvieren. Deshalb haben wir ein Konzept entwickelt und publiziert, bei dem die Patienten selbst mit der akutesten Krise störungsspezifisch mit psychotherapeutischen Methoden so behandelt werden, dass sie für eine spätere elektive Psychotherapie vorbereitet werden. Diese kann sich sogar auf der gleichen Station anschließen. Wir arbeiteten auf der Basis der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT), zu der ein individueller Notfallkoffer, ein strukturiertes Wochenprogramm, Spannungsprotokolle und Hausaufgaben gehören. Diese Therapie wenden wir zum Teil schon während Krisenintervention und Diagnostik an. In der zweiten Phase werden Commitment, Stabilisierungs- und Regulationsmethoden sowie Bindung, aufgebaut und in der dritten Phase folgt die klassische Trauma- oder Borderline-Behandlung.

Wie helfen Sie den Patienten?

Prof. Dr. Franz: Es geht am Ende darum, die unkontrollierten Trauma-Netzwerke im Gehirn wieder zu trennen und mit dem Gedächtnisspeicher zu verbinden. Dazu gehört auch das Erlernen von Reorientierungs- und Stabilisierungstechniken sowie eine gute Beziehung zum Therapeuten. Zudem nutzen wir verschiedene Formen traumafokussierender Verfahren aus der Traumatherapie, Elemente von DBT und einige Module aus anderen Verfahren. Dadurch wird das traumatische Erlebnis in eine traurige, belastende Erinnerung überführt, die man selbst steuern kann. Und das ist etwas anderes, als sein Leben durch unkontrollierbare Gefühle und Bilder massiv einschränken zu müssen.

DBT gehört zu den klassischen Therapien für Borderline-Patienten. Wie sind Sie darauf gekommen, die Methode auszuweiten?

Prof. Dr. Franz: Eine Arbeitsgruppe um den Psychiater Martin Bohus in Mannheim hat sie mit einer Traumatherapie verbunden. Daran haben wird uns zunächst orientiert. Denn beide Erkrankungen können ineinander übergehen, wenn es sich um frühe, schwere und wiederholte Traumatisierungen handelt. Wenn man als Kind häufig geschlagen oder sexuell und emotional missbraucht wurde, dann sieht das später oft wie eine Mischung aus Borderline- und Trauma-Störung aus. Beide Patientengruppen werden häufig auch depressiv, süchtig, dissoziativ und haben sehr viel Angst. Um das alles zu behandeln, braucht man ein strukturiertes Programm.
DBT besteht aus praxisorientierten Modulen, mit denen die Patienten lernen, mit schwierigen Gefühlen umzugehen und sich selbst zu regulieren. Ich durfte mit Teams in Vitos Kurhessen, dann bei Vitos Gießen-Marburg vom Dachverband der DBT zertifizierte Borderline-Stationen schaffen, die in Gießen wurde jüngst rezertifiziert. Auch diese Stationen folgen einem dreigliedrigen Behandlungspfad. Die Trauma-Patienten brauchen i.d.R. dagegen nicht alle Elemente der DBT. Bei ihnen wird sie durch klassische Traumatherapie und andere Methoden ergänzt.

Wie erfolgreich sind Sie mit Ihrem Ansatz?

Prof. Dr. Franz: Er ist sehr erfolgreich, weil wir endlich die akuten Krisen-Patient/-innen erreichen. Damit füllen wir eine Versorgungs-Lücke, die vielen Kliniken zu schaffen macht. Auf den anderen Stationen haben wir keine Problem-Patienten aus dem Trauma- oder dem Borderline-Bereich mehr. Wir bekommen Anfragen aus ganz Deutschland. In Berlin gibt es eine Klinik, die nach unserem Buch arbeitet. Andere DBT-Therapeuten wollen bei uns hospitieren. In Zukunft wollen wir eine über die DBT hinausgehende modulare Psychotherapie entwickeln und unser Modell in Gießen ausweiten, damit alle Patienten von Anfang an störungsangemessen behandelt werden können und nicht erst Wochen auf der Akut-Station zubringen, bevor sie irgendwann vielleicht Psychotherapie erhalten. Das ist das Entscheidende.

Weitere Informationen:
Michael Franz, Sara Lucke: Borderline-Störung. Krisenintervention und störungsspezifische Behandlung. Hogrefe-Verlag, 2021.

Hier erhalten Sie weitere Informationen zur Borderline-Therapie [1] in der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Gießen.

Und hier finden Sie Informationen zur Traumatherapie [2] in unserer Gießener Fachklinik.

Zur Person
Prof. Dr. Michael Franz ist Ärztlicher Direktor des Vitos Klinikums Gießen-Marburg. Am Klinikum setzt er sich für die Einführung und Weiterentwicklung der modular aufgebauten Psychotherapie ein. Mit seinem Team entwickelt er dafür auch eigene Konzepte. Die modulare Psychotherapie basiert auf einzelnen Therapie-Interventionen (Modulen), die unterschiedlich miteinander kombiniert werden können. Damit wird erreicht, dass sich das psychotherapeutische Angebot zielgerichtet an den individuellen Bedürfnissen des Patienten oder der Patientin orientiert.