Gedenken zum ersten September – die Geschichte von Maria Thiedemann
Jedes Jahr am 1. September erinnert Vitos an die Opfer der NS-Krankenmorde. Eine von ihnen ist Maria Thiedemann. Sie wurde 1945 in der Landesheilanstalt Eichberg ermordet.
„Seiner Durchlaucht Adolf Hitler“ beginnt Maria Thiedemann im Jahr 1936 ihr Schreiben aus der Nervenheilanstalt Strecknitz an den Führer. „Ihnen zur Kenntnis dass ich 11 Jahre das Hitlersche System wählte, weil ich im Staate anstand und Sitte liebte. Im Jahre 1934 bekam ich im Studentenwohnheim Stellung. in der Arbeit nur Schaffen und Sorgen war mein Lebensprinzip. Aber mein Küchenchef(,) ein Stahlhelm (,) er hetzte hinter mir her als wenn der Teufel los wäre(.) leider lieh ich dem Stahlhelm meinen Lohn und meine Liebe(,) sodaß ich als Hitlermädchen in die Hände dieses Bergers kam(.)…..2 Jahre hat mich die Menschheit ins Irrenhaus gesteckt, weil ich diesen Berger nicht heiraten wollte. Denken Sie nur(,) dieser Berger (,) 3 kleine Kinder…“
Unauffällig sei sie gewesen als Kind, habe in der Schule immer die besten Zeugnisse gehabt. Mit anderen Kindern „immer etwas herb, wünschte keinen Umgang“, berichtet Maria Thiedemanns Mutter Adeline Fricke zwei Jahre zuvor, Anfang August 1934, dem aufnehmenden Arzt der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg, Dr. Keymling. Im Aufnahmebogen heißt es: „…wird aus dem Barmbecker Krankenhaus mit der Sanitätskolonne gebracht. Ist ängstlich und misstrauisch, will hier nicht bleiben, läßt sich dann aber doch ruhig ausziehen. Gew. 41 kg. Gr. 1,51m.“ Die zierliche junge Frau ist 31 Jahre alt. Der 4. August 1934 markiert einen Wendepunkt in ihrem Leben.
Leicht war es bis dato ohnehin schon nicht. Nach dem Schulabschluss arbeitet sie mit der Mutter in der Munitionsfabrik, dann verdient sie ihr Geld als Küchenmädchen in Gastwirtschaften. Sie erbringt gute Leistungen, bekommt auch hier wieder gute Zeugnisse ausgestellt. „Sie hat sich an die oberen Angestellten gehalten, zu den Kolleginnen war sie wohl ziemlich fremd“, berichtet ihre Mutter. Sie sagt, sie hätte sich früher gut mit der Tochter verstanden. „Durch die Trunksucht des Vaters sind wir so herunter gekommen“.
Seit sechs Wochen etwa, erzählt die Mutter dem Arzt, der den ersten Anamnesebogen ausfüllt, sei die Tochter auffällig. „Meinte, man deute an, sie habe gestohlen… Fürchtete in letzter Zeit, sie solle von der S.A. erschossen werden“, sie habe „Beziehungs- und Versündigungsideen“. Auslöser sind wohl Probleme mit Kolleginnen und ihrem Chef im Studentenwohnheim, in dem sie arbeitet. Sie fühlt sich zu Unrecht des Diebstahls beschuldigt und der Chef, Herr Berger, „täuscht sie grausam“, wie ihre Mutter später in einem Brief schreiben wird.
Maria Thiedemann kommt auf Station. Die Schwestern notieren im Berichtsbogen am dritten Tag nach der Aufnahme: „Patientin redete ohne jegliche Unterbrechung dasselbe: ‚Schwester ich darf nicht sterben, ich muss leben. Schwester schlagen sie mich bitte nicht, das wäre ein großes Unrecht, ich habe noch niemandem etwas getan’ u.s.w. Pat. war oft nicht zu halten drängte dauernd zur Tür hinaus.“ Damit hat sie keinen Erfolg. Sie bleibt in der Anstalt. In einem Pflegebericht vom April 1935 wird sie zitiert: „Herr Dr. Kotthoff entläßt mich nicht, weil er mit mir in der Anstalt possieren will. … Wenn ich die Schwestern anfalle, bekomme ich eine Spritze. In der Zeitung steht es gibt Gaskrieg…“ Sie sagt: „Ich verlange sofort raus und Stellung ich muss Geld verdienen ich brauche nicht im Irrenhaus zu sein sie können mich nach Fuhlsbüttel schicken ich kann allein hingehen mögen sie mir einen Wagen schicken….Ich schaff’ mir kein Kind an. die Menschen haben alle Schmutz an sich die Dirnen hatten rote Haare. Gelb ist die Farbe der Falschheit.“ Wenige Monate später, am 12. August 1935, wird Maria Thiedemann nach Strecknitz verlegt, Diagnose: Schizophrenie.
Dort heißt es in ihrer Akte: „Es ist vielleicht eine gewisse Beruhigung festzustellen, Pat. verhält sich formal geordneter. Der Gedankenablauf ist aber unverändert verfahren und auch offenbar halluzinatorisch beeinflusst“. Die Patientin schreibt an ihre Mutter im Januar 1936: „Meine geliebte Mama! Das Paket erhalten, besten Dank wenigstens eine Freude in meinem traurigen Dasein. Meine Tage sind gezählt… Meine Lebensblüte hat man mir genommen; ….täglich den Tod vor Augen ist Wahrhafftig keine kleinigkeit wo ich so jung bin und wo ich die Natur so liebte was hatte ich denn vom Leben, Arbeit mühe und Sorge… Grüße mir den Jungfernstieg.“ Doch ihre Lebenskraft ist stärker, als sie denkt. Zwei Jahre später, im April 1938, bittet Maria Thiedemann die Mutter mit sprachlicher Wucht, fast einem Gedicht gleich:
„Komm nicht wieder da ich mich elend fühle. Blumen und Sträucher in Pracht und also – Dein Kind Marie wirklich nicht mehr im Garten sein kann. Welchen Garten Herr Fricke hoffentlich nicht haben wollt das ich noch als Krüppel im Garten sein sollt da ich Marie Thiedemann nur mein Leben hab gelebt.“
Die Schwestern notieren zu dieser Zeit: „Auch die schriftlichen Äusserungen der Pat. werden allmählich zunehmend faseliger und unverständlicher. Sie wird auch sonst zunehmend leerer, affektloser und manierierter. Redet noch viel zerfahren vor sich hin Im Übrigen gutartig, lenksam, manchmal ganz niedlich.“ Doch ab 1939 verschärft sich der Ton: „Intellektuell erheblich geschwächt“, „ausgebildetes Wahnsystem“, „zu keiner Arbeit zu bewegen“, „paralogisch“. Aber: äußerlich sauber und geordnet.
Schließlich wird sie 1941 in die Landesheilanstalt Eichberg verlegt, eine Zwischenanstalt für die Tötungsanstalt Hadamar. Die Mutter beklagt sich darüber in einem Brief an die Leitung: „War das nötig, dass mein armes, liebes Kind so unendlich weit von mir entfernt wurde? Es war mir schon schwer, nach Strecknitz zu fahren und es gibt doch in Norddeutschland so viele derartige Anstalten. Ich bitte Sie nun von Herzen. seien Sie nicht zu hart mit ihr, wenn sie tobt und schimpft; sie war so ein feiner, prachtvoller Mensch.“ Elektroschocktherapie lautet die Antwort des Direktors. In seinen Augen für Marie die letzte Chance auf Besserung ihres Zustands im Sommer 1942. In diesem und dem darauffolgenden Jahr ist ihre Tochter den Pflegern nur noch einen Eintrag in die Akte wert: „Hilft beim Stopfen und Nähen, ist aber verschroben und bizarr. Körperlich in sehr reduziertem Zustand.“ Dann plötzlich fünf Einträge in rascher Folge von Dezember 1944 bis zum 25. Februar 1945. Sie beschreiben die rapide Verschlechterung des Gesundheitszustands der Patientin aufgrund eines „eigroßen Geschwulsts am Hals“. „Lymphdrüsengeschwulst bei Spaltungsirresein“ heißt es schließlich auf Marias Totenschein. Ihre Mutter liest im Schreiben des Direktors, dass ihre Tochter: „in unserer Anstalt von ihrem schweren Leiden durch einen sanften Tod erlöst worden ist.“ Ein letzter Gruß: „Heil Hitler!“
Bildquelle Header: Bettina Müller
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