Dr. Nora Görg und Dr. Julia Reiff von Vitos Rheingau bilden Laien zu Ersthelfenden für psychische Gesundheit aus
Erste-Hilfe-Kurse für körperliche Symptome gibt es schon lange. Die meisten Menschen haben einen solchen Kurs, etwa für den Führerschein, wohl schon einmal absolviert. Für psychische Gesundheitsprobleme gab es solche Kurse allerdings bislang noch nicht. Und das, obwohl psychische Erkrankungen weit verbreitet sind. Mehr als jeder Vierte ist betroffen. Bei Vitos Rheingau werden seit April 2022 Ersthelferkurse für mentale Gesundheit angeboten, sogenannte Mental-Health-First-Aid-Kurse (kurz: MHFA). Wir haben mit den beiden Instruktorinnen Dr. Julia Reiff, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und Dr. Nora Görg, Psychologische Psychotherapeutin gesprochen. Hier berichten sie, was die MHFA-Ersthelferkurse so besonders macht und warum sie einen wichtigen Beitrag zur Präventionsarbeit leisten.
Wie und wo ist die Idee der MHFA-Ersthelferkurse entstanden?
Julia Reiff: Die Idee ist im Jahr 2000 in Australien entstanden. Betty Kitchener, eine Krankenschwester, und Tony Jorm, ein Professor für Epidemiologie, der psychische Erkrankungen erforscht, haben gemeinsam einen zwölfstündigen Kurs konzipiert. Er sollte die Idee der körperlichen Erste-Hilfe-Kurse auf psychische Belastungen übertragen. Dadurch sollte es Laien ermöglicht werden, besser zu helfen, wenn bei nahestehenden Personen psychische Störungen oder Krisen auftreten. Aus dieser Idee ist die Non-Profit-Organisation „Mental Health First Aid Australia“ entstanden.
Nora Görg: Das Konzept wurde aus Australien inzwischen in 26 Länder importiert. Deutschland ist erst relativ spät dazugekommen, 2019. Die Organisation der Kurse wird in Deutschland vom gemeinnützigen Programm MHFA Ersthelfer in Trägerschaft des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZI) Mannheim mit der Beisheim Stiftung als Projektpartner vorgenommen. Dort hat man uns auch zu Instruktorinnen für die MHFA-Kurse ausgebildet. Julia war sogar direkt bei der ersten Staffel Instruktoren dabei, die ausgebildet wurde.
Julia Reiff: Genau, da es noch zu wenige Instruktorinnen gab, habe ich damals alleine einen Präsenzkurs für Lehrer/-innen abgehalten. Dann kam die Pandemie und es war schwierig bis unmöglich, Präsenzkurse durchzuführen. Zum Glück konnte ich dann Nora begeistern, sich ebenfalls zur Instruktorin ausbilden zu lassen. Vitos Rheingau hat das dankenswerterweise finanziert. MHFA Ersthelfer hat neben den Präsenzkursen dann noch MHFA-Onlinekurse entwickelt und so konnte es trotz Pandemie mit MHFA weitergehen. Es ist besser und schöner, einen Kurs zu zweit zu leiten. Denn man hat neben der Wissensvermittlung in den Kursen ja auch die Aufgabe, die Teilnehmenden im Blick zu behalten. Sollte ein Teilnehmer durch bestimmte Themen, beispielsweise Suizid, überfordert oder getriggert werden, kann er ein Zeichen geben, den Kurs verlassen und eine von uns kümmert sich. Ähnlich funktioniert das in den Onlinekursen: Wenn jemand ein Zeichen gibt, die Kamera ausschaltet oder das Meeting verlässt, ist es unsere Aufgabe, die Person anzurufen und sicherzustellen, dass es ihr gut geht. Und das kann man zu zweit einfach besser leisten.
Warum braucht es Erste-Hilfe-Kurse für psychische Gesundheit überhaupt? Warum ist das Thema so wichtig?
Nora Görg: Ich arbeite seit zehn Jahren in dem Bereich, und ich merke, dass der Wissensdurst der Menschen einfach sehr groß ist. Viele fragen sich, wie sie Angehörigen oder Freunden helfen können, die an einer psychischen Störung leiden oder bei denen der Verdacht einer psychischen Störung besteht. Bis jetzt hat mir die Möglichkeit gefehlt, dieses Wissen strukturiert weiterzugeben. Das ist durch die MHFA-Kurse nun möglich. Die Kurse können so dazu beitragen, Unsicherheiten zu nehmen und zu entstigmatisieren.
Julia Reiff: Psychische Erkrankungen sind ja leider immer noch in hohem Maße stigmatisiert. Stigma bedeutet immer, ich habe falsche Annahmen und Befürchtungen, und die halten mich gegebenenfalls davon ab, dass ich mir die notwendige Hilfe besorge. Auch sehr differenzierte Menschen haben oft immer noch die Sorge, wenn sie sich einmal in eine psychiatrische Klinik begeben, kommen sie nie wieder heraus. Das ist immer noch in den Köpfen drin und diese Ängste sind wirklich tief verwurzelt. Und leider ist es so, dass das Behandlungsergebnis schlechter wird, je mehr Zeit bis zur Behandlung vergeht. Die Erkrankungen chronifizieren und können im schlimmsten Fall zum Tod führen – durch Suizid. Oder weil es den Betroffenen durch ihre Erkrankungen mitunter nicht möglich ist, eine gute Selbstfürsorge zu betreiben und sie dann vielleicht an einem Herzinfarkt oder Diabetesfolgeerkrankungen sterben. Deswegen ist das Thema so wichtig. Ich denke, durch Aufklärung, Beratung und Information kann man manchmal tatsächlich verhindern, dass eine Erkrankung entsteht. Aus einer Panikattacke muss nicht unbedingt eine Angststörung werden. Die MHFA-Kurse leisten hier eine wichtige Präventionsarbeit.
Wie sind die MHFA-Kurse aufgebaut? Bestehen Sie hauptsächlich aus Theorie oder gibt es auch praktische Übungen?
Nora Görg: Die zwölfstündigen Kurse können entweder in Präsenz oder online absolviert werden. Die Teilnehmenden eignen sich ein Grundwissen über verschiedene psychische Störungen und Krisen an. Sie üben, Probleme rechtzeitig zu erkennen und anderen dabei zu helfen, eine psychische Krise erfolgreich zu bewältigen. Grundsätzlich enthält der Kurs sowohl Theorie als auch Praxis. Wir steigen mit Theorie ein, aber dann gibt es beispielsweise auch Rollenspiele, in denen wir gemeinsam mit den Teilnehmenden in die praktischen Übungen gehen.
Können Sie uns ein Beispiel für eine solche praktische Übung nennen?
Julia Reiff: Wir üben zum Beispiel, wie man einer Person begegnet und beisteht, die eine Panikattacke erlebt, die im Rahmen einer Psychose Stimmen hört, oder die intoxikiert oder suizidal ist.
Wo liegen die Grenzen des Kurses?
Julia Reiff: Wir bilden in den MHFA-Kursen Menschen zu Ersthelfenden aus, nicht aber zu Hobbypsychologen oder Hobbypsychiatern. Wie bei der körperlichen Ersten Hilfe auch, überbrückt man als Ersthelfer mit den erlernten Techniken und Maßnahmen die Zeit, bis der Profi übernimmt. Wenn jemand beispielsweise schwerst depressiv ist, kann ich als Ersthelfer oder Ersthelferin diese Depression nicht wegzaubern. Ich kann die Person unterstützen, aber das ersetzt die professionelle Behandlung nicht. Den Teilnehmenden diese Grenze aufzuzeigen, gehört auch zu unseren Aufgaben in den MHFA-Kursen.
Nora Görg: Außerdem sollen die Teilnehmenden auch erkennen, wo ihre persönlichen Grenzen liegen, Hilfe zu leisten. Ich muss und darf mich, wenn ich seelische Erste Hilfe leiste, niemals selbst in Gefahr bringen, wie bei körperlichen Erste-Hilfe-Kursen auch. Ich kann als Freundin unterstützend zur Seite stehen, Schritte mitgehen und helfen, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ich kann nicht diejenige sein, die behandelt und beispielsweise die Depression wegnimmt. Das geht einfach über diese Rolle hinaus.
Für wen eignen sich die Kurse? Muss ich ein bestimmtes Vorwissen mitbringen?
Julia Reiff: Es sind keine Vorkenntnisse erforderlich, allerdings richten sich die Kurse momentan nur an Erwachsene.
Wie war die Resonanz Ihrer bisherigen Kursteilnehmenden?
Nora Görg: Das Feedback ist durchweg positiv. Häufig kam die Rückmeldung, dass wir durch den Kurs insgesamt die Scheu nehmen konnten, bestimmte Themen anzusprechen. Und wir haben auch Rückmeldungen bekommen, dass Teilnehmende die erlernten Techniken tatsächlich auch schon konkret in ihrem Umfeld anwenden konnten und wir ihnen hier durch den Kurs ein Stück weit ihre Unsicherheit oder Hilflosigkeit nehmen konnten.
Was wünschen Sie sich persönlich für den Umgang mit psychischen Erkrankungen?
Julia Reiff: Ich finde Prävention ganz wichtig. Also wirklich möglichst früh durch gezielte Informationen zu unterstützen und einzugreifen, sodass eine psychische Störung vielleicht gar nicht erst entsteht. Die MHFA-Kurse sind ein solches Präventionsinstrument. Und für diejenigen, die leider auf dem Kontinuum vom beginnenden Gesundheitsproblem bis hin zur Störung schon weiter fortgeschritten sind, wünsche ich mir, dass sie noch schneller die Hilfe bekommen, die sie benötigen. Oft ist es ja so, dass Menschen sich in dem Dschungel an Angeboten nicht zurechtfinden. Ich wünsche mir, dass man die begrenzten Ressourcen und die Angebote, die wir haben, gut kanalisiert und passgenau zu den Menschen bringen kann.
Nora Görg: Ich wünsche mir auch noch, dass die Menschen einfach weniger Berührungsängste haben. Ich glaube, oft stimmt ja das eigene Gefühl, dass irgendwas nicht stimmt und dass eine Person Hilfe brauchen könnte. Aber die Angst, etwas falsch zu machen, ist aus meiner Sicht noch sehr groß. Wir versuchen zu vermitteln, dass es wichtig ist, überhaupt etwas zu tun. Egal, ob das lehrbuchgerecht ist oder nicht. Das Wichtigste ist, überhaupt mal aktiv zu werden und auf die Menschen zuzugehen.
Du möchtest noch mehr über MHFA erfahren? Dann schau hier auf der offiziellen Website von MHFA Ersthelfer vorbei: https://www.mhfa-ersthelfer.de/de/
Die beiden Instruktorinnen von Vitos Rheingau freuen sich immer über Interesse an weiteren MHFA-Kursen für soziale Einrichtungen, Behörden, Unternehmen oder ehrenamtliche Organisationen. Interessierte können gerne eine Nachricht an julia.reiff@vitos-rheingau.de schicken.
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