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Fäden gegen Langeweile

Corona-Videotagebuch für Kinder

Durch Bekannte sind Gernot und Annemarie Kunze zum Puppenspielen gekommen. Während der Corona-Pandemie begannen sie kurze Aufführungen für ihre Enkel aufzunehmen und ihnen als Video zuzuschicken. Was als kleines Unterhaltungsprogramm anfing, wurde zu einer Art digitalem Corona-Videotagebuch für Kinder. Gemeinsam mit ihrem Pflegesohn laden sie seit Beginn der Corona-Pandemie kurze Videos von Hannes, der Bärenmarionette, auf YouTube hoch. Was Hannes erlebt und wie es zu der Idee kam, berichtet Familie Kunze hier im Vitos Blog.

Der Ausbruch des Coronavirus hat uns alle veranlasst, soziale Kontakte zu reduzieren. Das ist vor allem für Kinder eine schwierige Situation. Sie verstehen nicht genau, was ein Virus ist und warum sie ihre Freundinnen und Freunde nicht mehr sehen können. Auch uns ist es schwergefallen z. B. unsere Enkelkinder nicht mehr zu besuchen. Unserem Hobby, dem Puppenspielen, konnten wir auch nicht weiter nachgehen – zumindest nicht im Verein. Dadurch kamen wir schnell auf die Idee kleine Geschichten mit Hannes, der Bärenmarionette, für unsere Enkelkinder als Video aufzuzeichnen und via Messenger an sie zu senden. Das kam gut an und war eine tolle Möglichkeit, Kontakt zu halten und Unterhaltung zu bieten.

Von der Familien-WhatsApp-Gruppe zu YouTube

Moritz [Name von der Redaktion geändert], unser jüngster Pflegesohn, hatte dann die wunderbare Idee, die Videos auf YouTube online zu stellen. Denn die Videos zu versenden und weiterzuleiten war doch etwas umständlich. Moritz ist sehr technikaffin und kauft sich von seinem Taschengeld am liebsten Ersatzteile für seinen Computer oder seine Kamera. Er hatte direkt eine Vorstellung davon, wie er die Videos produzieren und online stellen könnte. Schnell war der Kanal angelegt und das erste Video umgesetzt. Es zeigt Hannes, der einen Papierflieger baut. Wir wollten Kindern Ideen geben, wie sie ihre Zeit Zuhause gestalten können. Daher auch der Name des Kanals: Fäden gegen Langeweile. Denn Hannes ist ein findiger kleiner Kerl. Er hat zum Beispiel schon einen Parcours gebaut oder sich überlegt, wie er sein Taschengeld aufbessern kann. Unsere Lieblingsfolge ist der Aprilscherz [1]. In der will Hannes Herrn Krämer, einem Ladenbesitzer, eine Rolle Klopapier zurückbringen – weil die ja so stark nachgefragt waren.

„Hannes geht es ganz genauso“

Nach den ersten Kurzfilmen fragte unsere erwachsene Tochter, ob wir nicht auch Erklär-Videos mit Hannes drehen könnten. So entstand die Idee zur Folge „Homeoffice [2]“. Hannes findet es nämlich gar nicht lustig, dass sein Papa den ganzen Tag zu Hause ist und trotzdem nicht mit ihm spielen kann. Wir greifen in den Videos die Fragen auf, die viele Kinder während der Pandemie beschäftigen: Warum muss ich eine Maske tragen? Wieso gibt es kein Klopapier mehr? Was sind eigentlich Geisterspiele in der Bundesliga? Die Videos sind ein gutes Medium, um Kindern die aktuelle Lage spielerisch zu erklären. Manchmal ist es hilfreich, wenn nicht die Eltern erklären, sondern jemand anderes. Jemand, der auf Augenhöhe mit den Kindern ist – so wie Hannes. Die Kinder verstehen dann, dass sie mit ihren Gefühlen und Fragen nicht alleine sind. Denn Hannes geht es ganz genauso.

Mittlerweile verfolgen nicht nur unsere Familie und Bekannte die Abenteuer von Hannes. Unter den Videos erhalten wir sogar Kommentare von Pädagog/innen, die sehnsüchtig mit ihren Kita-Gruppen auf neue Folgen warten. Für uns ist der YouTube-Kanal auch zu einer Art digitalem Corona-Tagebuch geworden. Die Pandemie und ihre Folgen werden uns nachhaltig prägen. Daher wird es sicherlich spannend, die Videos in ein paar Jahren anzuschauen und sich an diese Zeit zu erinnern.

Von der Idee zum fertigen Video

Für uns als Familie ist die Erstellung der Videos eine tolle Beschäftigung. Gemeinsam überlegen wir, welche Themen wir darstellen wollen und wie wir diese am besten umsetzen. Natürlich besprechen wir auch die nötigen Requisiten und legen fest, an welchem Ort die Handlung am besten umgesetzt werden kann. Daher entstehen die Aufnahmen nicht nur in unserem Wohnzimmer, sondern auch im Wald, auf dem Spielplatz oder in unserem Garten. Die unterschiedlichen Orte stellen Moritz immer wieder vor neue Herausforderungen. Denn die Magie der Videos liegt darin, dass man nur die Puppe sieht und nicht die Person, die sie spielt.

Moritz weiß, dass für YouTube kurze Videos gut geeignet sind. Die Produktion dauert allerdings mehrere Tage. Zum Teil müssen Aufnahmen wiederholt werden, weil das Licht nicht stimmt oder Moritz noch nicht ganz mit dem Ergebnis zufrieden ist. Manchmal geht ihm auch die Lust aus. Die Filme sind im weitesten Sinne auch ein Jugendhilfeprojekt. Pflegekinder wie Moritz brauchen Geduld und Begleitung. Daher verschieben wir einen Dreh auch mal auf den nächsten Tag.

Aufgrund des Lockdowns konnte Moritz sich natürlich auch nicht mit seinen Freunden treffen und hatte keine Schule. Für ihn ist die Umsetzung der Filme nicht nur eine Freizeitgestaltung, sondern auch ein echter Lernprozess. Er ist sehr kreativ und technisch affin. Beides kann er bei der Videoproduktion bestens kombinieren und einbringen. Von Folge zu Folge ist die Umsetzung immer professioneller geworden. Sicherlich sind wir keine Experten, aber Moritz legt sich wirklich ins Zeug.

Puppen als pädagogisches Mittel

Mittlerweile tritt Moritz sogar in unsere Fußstapfen. Denn er war schon lange vom Puppenspiel begeistert. Wenn er Freunde einlädt, werden die Puppen ab und an hervorgeholt. Gemeinsam entwickeln sie dann kleine Geschichten und sind ganz in ihrer eigenen Welt. Puppen sind ein tolles Medium, um Gefühle auszudrücken und sich mitzuteilen. Daher werden sie auch in der Psychologie und der Pädagogik eingesetzt. Negative oder auch positiven Gefühle kann man so ausdrücken, ohne sie an die eigenen Handlungen zu knüpfen. Die Puppe sprechen quasi das aus, was man selbst nicht sagen kann.

Dass wir Puppenspieler geworden sind, war ein Zufall. Durch Freunde erfuhren wir von der Blauen Bühne Marburg, einem kleinen Puppenspielerverein. Als unsere eigenen Kinder noch klein waren, sahen wir einmal die Aufführung „Der Bär geht spazieren“, inszeniert mit Kasperpuppen. Nach vielen Jahren fragten uns unsere Freunde und Gründer des Vereins, ob wir nicht mitspielen wollten. So entstand dieses gemeinsame Hobby. Es hat einfach etwas Besonderes Geschichten zu erzählen, die vor den Augen der Kinder Gestalt annehmen. Es ist wie Magie, wenn die Puppen scheinbar zum Leben erwachen und einen mit ihrem Spiel in den Bann ziehen. Für unsere leiblichen Kinder hat das Puppenspiel etwas sehr Nostalgisches. Wenn Sie gemeinsam mit ihren eigenen Kindern beispielsweise Pumuckel und Meister Eder schauen, werden sie im positiven Sinne an ihre eigene Kindheit erinnert.

Wir sind eine Erziehungsstelle

Gemeinsam haben wir vier leibliche Kinder und arbeiten beide in der Heilpädagogik. In unserem Haus und dem Garten haben wir viel Platz und dazu eine gute Portion Energie. Daher wollten wir auch anderen Kindern ein sicheres Zuhause geben. Und so kam es zu der Entscheidung, Pflegekinder wie Moritz bei uns aufzunehmen. Grundsätzlich ist so eine Unterbringung auf Dauer vorgesehen. Auch wenn das nicht immer klappte, so kamen nach und nach immer mehr Kinder in unsere Familie. Zum Teil sogar bis zu fünf gleichzeitig – der Platz war ja da. Mit vielen Kinder halten wir bis ins Erwachsenenalter Kontakt.

2000 fiel dann die Entscheidung, Erziehungsstelle zu werden und seit 2012 sind wir in der Trägerschaft von Vitos Teilhabe. Erziehungsstellen sind pädagogisch qualifizierte Pflegefamilien, die Kindern und Jugendlichen ein verlässliches Zuhause bieten. Dieses Angebot richtet sich an Kinder und Jugendliche, deren Herkunftsfamilien aus verschiedenen persönlichen Gründen nicht in der Lage sind, ihren Erziehungsauftrag ausreichend zu erfüllen. Das bedeutet, dass wir die Kinder von jungen Jahren an bis zur Volljährigkeit bei uns aufnehmen. Meist besteht der Kontakt aber auch darüber hinaus. Momentan leben zwei Jungs bei uns, die wir seit über zehn Jahren begleiten. Es ist schön zu sehen, wie sich die Beziehung zwischen uns und ihnen über die Zeit hinweg gefestigt hat und wie sie sich entwickelt haben. Wir verstehen es als unsere Lebensaufgabe, Kindern ein sicheres Zuhause zu geben.

Weitere Informationen zum Fachdienst Erziehungsstelle der Vitos Teilhabe finden Sie hier [3].

Bildquelle: Annemarie und Gernot Kunze