- Vitos Blog - https://blog.vitos.de -

Flucht in die virtuelle Welt

Wenn digitale Medien süchtig machen

Digitale Medien sind für viele von uns allgegenwärtig und bestimmen unseren Alltag. Die rasante Entwicklung der digitalen Medien bringt weitreichende Veränderungen mit sich, die sich auf jede und jeden von uns auswirken. Damit verbunden ist auch ein neues Krankheitsbild: die Mediensucht.

Mediensucht – Ein Thema für die Übergangseinrichtung?

Mal schnell mit dem Smartphone zu Hause anrufen, ein Online-Spiel „zocken“ oder sich per Social Media „connecten“ – bis vor einigen Jahren war das in der Übergangseinrichtung für Suchtkranke in Hasselborn undenkbar. Wurden doch alle digitalen Geräte schon bei der Aufnahme abgegeben und erst bei der Entlassung wieder ausgehändigt. Hintergrund war, dass sich die Klientinnen und Klienten auf sich selbst konzentrieren und Außenkontakte einschränken sollten, insbesondere zu anderen Drogenkonsumenten.

Heute sind digitale Medien fester Bestandteil unseres Alltags und aus der Übergangseinrichtung nicht mehr wegzudenken. Doch mit der Erlaubnis, digitale Medien zu benutzen, wurden auch die damit verbundenen Probleme sichtbar: exzessiver Medienkonsum und Mediensucht. Vor allem die jüngere Klientel, die zum Teil schon mit digitalen Medien aufgewachsen und den „Digital Natives“ zugehörig ist, zeigt neben substanzgebundener Abhängigkeit, wie Alkohol und Drogen, immer häufiger problematischen Medienkonsum.

Infolgedessen haben wir in der Übergangseinrichtung vor knapp drei Jahren eine Gesprächsgruppe zum Thema „Medien“ etabliert. Diese ist für alle Klienten verpflichtend und umfasst zwei Termine, die während des Aufenthalts absolviert werden müssen. Die Erfahrungen sind eindrucksvoll, bewegend und zum Teil erschreckend. Digitale Medien können eine Art „Einstiegsdroge“ sein. Personen die beispielsweise abhängig von Online-Spielen sind, konsumieren zum Teil Drogen, um länger spielen zu können oder danach besser „abzuschalten“. In der Gesprächsgruppe gehen wir auf Motive der Mediennutzung ein, zeigen Parallelen zur substanzgebundenen Abhängigkeit auf und entwickeln gemeinsam mit denjenigen Lösungsansätze, die bereits Leidensdruck und Veränderungsbereitschaft zeigen. Die anfängliche Skepsis in der Gruppe weicht meist schnell zugunsten lebhafter Mitarbeit, Reflexion eigenen Verhaltens und Entwicklung von Problembewusstsein.

Wann spricht man von Mediensucht

Generell ist die Frage, ob man von exzessivem Konsum oder bereits von einer Suchterkrankung sprechen kann, nicht immer eindeutig zu beantworten. Die Mediensucht zählt zu den sogenannten Verhaltenssüchten. 2018 wurde die „Gaming disorder“ – also die Computerspielsucht – von der World Health Organization (WHO) als Krankheit anerkannt und in das Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen, den ICD 11, aufgenommen. Dieser wird voraussichtlich 2022 in Deutschland in Kraft treten. Dennoch bleibt die Diagnostik schwierig. Von einer echten Sucht sollte nur nach sorgfältigem Abwägen gesprochen werden. Neben der Sucht nach Computerspielen ist auch die übermäßige Nutzung von sozialen Netzwerken, Internet-Pornografie, digitalem Fernsehen und Videos von Bedeutung.

Jede Suchterkrankung muss im Einzelfall betrachtet werden, so auch die Mediensucht. Neben individuellen Faktoren, wie Selbstwertproblemen, Angst und Einsamkeit, spielen soziale Faktoren, wie familiäre Probleme, eine Rolle. Hinzu kommen Faktoren, die sich aus dem Konsum des Suchtmittels selbst ergeben. Online-Spiele können beispielsweise Unendlichkeitserleben suggerieren und mit Belohnungen locken. Auch das Erleben von sozialem Zusammenhalt und Zugehörigkeit kann ein Suchtfaktor sein. So beschreibt es auch Dr. Bert te Wildt in seiner aktuellen Publikation „Digital Junkies“.1

Medien als Droge

In der Arbeit mit unserer Klientel zeigt sich, dass das Erleben von emotionaler Vernachlässigung in der Kindheit, Einsamkeit und Langeweile nicht nur in engem Zusammenhang mit Drogen- sondern auch mit exzessivem Medienkonsum zu stehen scheint. Die Flucht in die virtuelle Scheinwelt kann offenbar, wie bei anderen Suchtmittel, als Bewältigungsversuch gesehen werden. Zwischen übermäßigem Medienkonsum bzw. Mediensucht und stoffgebundener Abhängigkeit lassen sich weitere Parallelen feststellen. Beides kann scheinbar grenzenlose Bedürfnisbefriedigung versprechen.

Einschlägige Literatur, wie die von Niels Pruin2, bestätigen, dass Medien zur Regulation von unangenehmen Gefühle eingesetzt werden und zu Toleranzentwicklung sowie Entzugserscheinungen führen können. Sie sprechen das Belohnungssystem des Gehirns an und erwecken möglicherweise den Wunsch nach Dosissteigerung.

Die Folgen der Mediensucht können einschneidend sein und verschiedene Lebensbereiche beeinflussen. Verbringt ein Mensch viel Zeit am PC und vernachlässigt den eigenen Körper, kann das beispielsweise das Muskel- und Skelettsystem oder den Ernährungszustand in Form von Unter- oder Übergewicht betreffen. Auch psychische Folgen in Form von depressiven Verstimmungen und emotionalen Krisen sind zu nennen. Auswirkungen auf das soziale Zusammenleben können Konflikte mit Familie, Partner und Freunden oder soziale Isolation sein. Für Heranwachsende besteht die Gefahr der unzureichenden Bewältigung altersentsprechender Entwicklungsaufgaben. Hierzu gehört beispielsweise die Abnabelung vom Elternhaus. Auch das beschreibt Dr. te Wildt in seiner Publikation.1

Brisanz für die Zukunft

Aufgrund der Aktualität und der Zunahme des Problems in der Übergangseinrichtung haben wir das Thema „Mediensucht“ für unseren Fachtag anlässlich des 30-jährigen Bestehens unserer Einrichtung gewählt. Der Teilnehmerkreis zeigte, dass das Thema viele Berufsfelder der Pädagogik und der Justiz beschäftigt. Wir möchten für ein Thema sensibilisieren, das angesichts der fortschreitenden technischen Entwicklung und des Einzugs digitaler Medien in Kitas, Grundschulen und weitere Einrichtungen brisant ist und in Fachkreisen diskutiert werden muss. Dem präventiven Gedanken sollte dabei besondere Bedeutung zukommen, damit sich Kinder und Jugendliche auch künftig in der realen Welt zurechtfinden, gesunde Bewältigungsstrategien entwickeln und selbstbestimmt leben können. Dass wir Erwachsenen dabei ihre Vorbilder sind, versteht sich von selbst.

Hintergrund: Die Vitos Übergangseinrichtung Hasselborn ist eine stationäre Eingliederungshilfe für suchtmittelabhängige Menschen und gehört zur den Vitos begleitenden psychiatrischen Diensten Hochtaunus.

Literaturquellen:

1te Wildt, Bert: Digital Junkies, München: Droemer TB 2016

2Pruin, Niels: Spaßfaktor Realität – zurück aus der virtuellen Welt, Göttingen: Cuvillier Verlag 2014

Bildquelle: © Marc Schaefer via Unsplash