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„Fremdschutz ist Selbstschutz“

Das Coronavirus und seine Folgen für unser Miteinander

Und plötzlich ist nichts mehr, wie gewohnt: Schulen sind geschlossen, Veranstaltungen abgesagt, das Arbeitsleben eingeschränkt. Das Coronavirus und die Maßnahmen, die seine Ausbreitung verhindern sollen, wirken sich auf unser aller Alltag aus. Und auf unseren Umgang mit anderen. Wir möchten uns vor Ansteckung schützen. Und tun uns doch mit den Präventionsmaßnahmen schwer. Wir gehen auf Abstand, einerseits. Und sorgen uns um unsere Mitmenschen, andererseits. Das Coronavirus verändert unser soziales Leben, unser Miteinander. Wie genau, erklärt Professor Dr. Matthias Wildermuth im Interview.

Durch das Coronavirus kommt der Alltag, wie wir ihn bisher kennen, zum Stillstand. Soziale Kontakte sind stark eingeschränkt. 
Gibt es Menschen, die sich mit dieser Situation besonders schwertun?

Prof. Dr. Matthias Wildermuth: Es gibt verschiedene Risikogruppen. Für Menschen mit einem leicht angreifbaren Stressverarbeitungssystem ist die derzeitige Situation sicherlich schwierig. Sie nehmen jede Form von Veränderung und Belastung erst einmal als Bedrohung wahr. Zu einer weiteren Risikogruppe gehören Menschen, die ein verringertes Selbstberuhigungssystem haben. Sie sind zwar in der Lage, Stress zu reduzieren, kommen aber nicht wirklich zur Ruhe. Sie verharren immer in ihrer inneren Angespanntheit und lassen sich auch von Dritten, also beispielsweise Helfern, nicht beruhigen. Zu einer weiteren Risikogruppe zählen Menschen, die sich permanent selbst abwerten. Ihre Denkweise ist: „Die anderen schaffen es, aber ich schaffe es nicht.“ Sie betrachten sich selbst immer als Verlierer oder Versager. Aus diesem Grund können sie sich in dieser Situation natürlich kaum dazu motivieren, etwas Hilfreiches zu tun.

Gibt es noch weitere Risikogruppen?

Wildermuth: Ja, Menschen mit Platzangst oder Panikstörungen. Sie fühlen sich schnell eingeschlossen und geraten in einer solchen Situation leicht in einen Ausnahmezustand. Auch für Menschen mit Zwängen ist die derzeitige Situation sicherlich schwierig. Sie neigen leicht zu einem Grad an Perfektionismus, der nicht einhaltbar ist. Und zu Kontrollzwang, der dazu führen kann, dass sie Meinungen, Empfindungen und Handlungen anderer unterdrücken. Zu einer weiteren Gruppe gehören Menschen mit einer schwer regulierbaren Impulskontrolle. Sie lassen sich sehr ungern begrenzen, nur ungern etwas sagen. Sie nehmen Regeln oder Empfehlungen eher als feindselige Botschaft wahr. Und schließlich gibt es noch die Menschen, die jedes Risiko ausblenden. Sie haben den Eindruck: „Das betrifft mich alles nicht. Das betrifft nur die anderen.“ Menschen mit einem derartig verringerten Risikowahrnehmungssystem erschrecken besonders stark, wenn dann doch eine Situation eintritt, mit der sie nicht gerechnet haben.

Welche Eigenschaften brauchen Menschen, um mit der derzeitigen Situation gut zurecht zu kommen?

Wildermuth: Hilfreich sind ein sicheres Bindungssystem und die Fähigkeit zur Empathie. Menschen, die sich in andere hineinversetzen können, können dazu beitragen, andere zu beruhigen. Sie sind in solchen Situationen besonders wertvoll, weil sie zur allgemeinen Besonnenheit beitragen.

Was kann uns dabei helfen, vernünftig und besonnen zu bleiben?

Wildermuth: Ich würde sagen, es braucht eine Rückbesinnung auf sich selbst, auf die eigenen Stärken, auf die eigene Fähigkeit, mit Belastungssituationen umzugehen. Wichtig ist auch, dass wir uns als selbstwirksam erleben. Das gelingt, indem wir die kleinen Dinge des Alltags gestalten. Wenn unser Radius, unsere Mobilität eingeschränkt ist, sollten wir uns unserem Inneren zuwenden und uns Tätigkeiten widmen, die sonst keinen Raum in unserem Alltag finden: Vielleicht mal wieder einen Brief schreiben oder endlich die Regale aufräumen. Menschen mit guten Selbstlenkungsfähigkeiten, wie wir dazu sagen, können ihre kurzfristigen und langfristigen Lebensziele auch in solch aufgeregten Zeiten im Blick behalten. Dadurch können sie sich stabilisieren.

Was sollten wir jetzt auf keinen Fall tun?

Wildermuth: Man sollte vermeiden, andere in Angst und Panik zu versetzen. Wir erleben leider gerade in den sozialen Medien, wie Menschen ihre eigenen Unsicherheiten mit Unwahrheiten verknüpfen. Hier ist Achtsamkeit gefordert. Die eigenen Sorgen zu benennen ist legitim – Sorgen dürfen aber nicht zu Wissensbehauptungen werden. Es gilt: „Sage nur die Dinge weiter, die du genau weißt.“ Wenn sich alle an diese Regel halten, bewirken wir für unser Miteinander schon eine ganze Menge.

Welche Auswirkung hat die derzeitige Situation auf Kinder, die ja vielleicht ihre Eltern ungewohnt besorgt erleben?

Wildermuth: Je jünger die Kinder sind, desto stärker orientieren sie sich an ihren Eltern. Wenn die Eltern selbst ruhig sind, können sie auch ihre Kinder beruhigen und stabilisieren. Dadurch schaffen sie für ihre Kinder einen gewissen Schutzraum. Den Kindern zu sagen: „Regt euch nicht auf“, während man selbst aufgeregt ist, bringt natürlich nichts. Eltern dürfen den Kindern nichts abverlangen, was sie selbst nicht leisten können. Allerdings müssen Eltern auch nicht allwissend sein. Sie dürfen ruhig eingestehen, dass die Situation auch für sie selbst ungewöhnlich und neu ist. Dass die eigene Aufregung nicht bedeutet, dass nun eine Katastrophe eingetreten ist – sondern dass die Situation eben neu und ungewohnt ist und man sich auch als Erwachsener erst orientieren und zurechtfinden muss. Im besten Fall finden Familie gemeinsam einen Weg, mit dieser Situation gut umzugehen.

Die Bedrohung durch das Virus ist bislang für die meisten von uns noch sehr abstrakt. Die Maßnahmen, die das Virus eindämmen sollen, treffen uns im Alltag jedoch recht schwer. Nicht jeder hat dafür Verständnis. Warum ist das so?

Wildermuth: Es gibt Menschen, die sich stets benachteiligt sehen und deshalb das Gefühl haben, sie müssen nur für sich sorgen. Die anderen sind ihnen egal. Egozentrische Menschen wiederum meinen, sie benötigen die Vorsichtsmaßnahmen nicht, weil sie sich selbst ja stark und gesund fühlen. Sozial kundigere Menschen, die sich emotional gut regulieren können, können wiederum gut abwägen, dass die Vorsichtsmaßnahmen wichtig sind – auch, wenn sie selbst davon noch nicht unmittelbar profitieren. Ihnen ist klar: Wenn ich selbst nicht infiziert werden möchte, muss die Infektionskette durchbrochen werden. Selbstschutz ist immer Fremdschutz. Und Fremdschutz ist Selbstschutz.

Wie lässt sich Solidarität fördern?

Wildermuth: Indem wir uns daran erinnern, dass wir uns alle irgendwann in einer Situation befunden haben, in der wir schwach und auf die Hilfe anderer angewiesen waren. Indem wir Freundlichkeit pflegen und das gegenseitige Interesse wachhalten. Und indem die, die etwas Kraft übrighaben, ihre Hilfsbereitschaft signalisieren. Wir müssen die nachbarschaftlichen Netzwerke wieder verbessern.

Kann es für den Einzelnen auch eine Chance sein, wenn der gewohnte Alltag zum Stillstand kommt?

Wildermuth: Unser soziales Leben ist im Moment eingeschränkt. Wir müssen uns also auf wesentliche Kontakte beschränken. Das lässt sich ja auch positiv umdeuten. Indem wir uns fragen: Mit welchem Menschen will ich eigentlich Kontakt haben? Mit wem möchte ich mal in Ruhe sprechen? – Das sind Chancen, die plötzlich aus so einer Situation erwachsen.

Je gesünder, stabiler und in sich ruhend ein Mensch ist, desto eher nutzt er diese erzwungene Pause. Menschen, die über soziale und emotionale Kompetenz verfügen, können mit dieser Situation etwas anfangen. Sie können für andere wunderbare Anleiter und Ideengeber sein. Miteinander ins Gespräch zu kommen, Spiele zu entdecken, die Zeit anders zu nutzen – die derzeitige Situation bietet durchaus Chancen. Auch die Chance, sich wieder auf das Wesentliche zu beschränken, ist gegeben.

 

[1]Zur Person: Professor Dr. med. Matthias Wildermuth ist Ärztlicher Direktor des Vitos Klinikums Herborn. Er ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie sowie Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Bereits seit 1999 leitet er die Vitos Klinik Rehberg, eine Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Herborn. Die Klinik hat Standorte in Wetzlar, Limburg, Hanau und Gelnhausen

Informationen zum Umgang mit dem Coronavirus bei Vitos, 

finden Sie auf unserer Website: vitos.de [2].

 

Bildquelle: © Craig Whitehead via Unsplash