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(Gem)Einsame Weihnachten?

Wie wir die Herausforderungen dieser außergewöhnlichen Feiertage meistern

Kein Weihnachtsmarkt, keine Weihnachtsfeier, Familienfest nur im allerengsten Kreis, keine Party zu Silvester – was macht es mit den Menschen, dass dieses Jahr alles anders ist? Wie wichtig sind die wiederkehrenden Rituale zum Jahresende für die Psyche? Und wie kann man sein seelisches Wohlbefinden stärken, um trotz der Umstände gesund und glücklich durch die Feiertage zu kommen? Ich habe mit Dr. med. Johannes Krautheim gesprochen. Er ist Oberarzt in der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Gießen.

Leidet die Psyche darunter, dass dieses Jahr alles anders ist?

Dr. Krautheim: Weihnachten wird uns allen vor Augen führen in welcher Situation wir gegenwärtig sind. „Weihnachten 2020“ könnte zu einem Fest werden, von dem wir in 50 Jahren noch berichten.

Gleichzeitig erwarten wir, dass ein bekannter Aspekt von Weihnachten durch die Pandemie noch verstärkt wird: die Polarisierung der Gesellschaft. Menschen, die bereits vor der Corona Krise sozial isoliert waren, spüren diese Einsamkeit nun umso stärker. Das ist ein wichtiger Aspekt für uns als Vitos Kliniken. Denn es sind diese Menschen, die wir nun erreichen müssen.

Braucht der Mensch gerade in der dunklen Jahreszeit Lichtblicke, wie Feiern, Gemeinschaft und Nähe zu anderen Menschen?

Dr. Krautheim: Licht wirkt antidepressiv und fast jeder kennt das Glücksgefühl der ersten Sonnenstrahlen im Frühjahr. In der dunklen Jahreszeit fehlt uns dieser Faktor. Und natürlich ist es daher gut, unsere Ressourcen, wie zum Beispiel unsere Sozialkontakte oder persönliche Interessen, stärker zu aktivieren. In diesem Jahr muss jeder von uns im Rahmen seiner Möglichkeiten improvisieren, um das tun zu können.

Welche Rolle spielen jedes Jahr wiederkehrende Rituale für das psychische Wohlbefinden?

Dr. Krautheim: Rituale geben unserem Körper und unserem seelischen Empfinden wichtige Signale. Genauso wie uns beim Tischdecken mittags schon das Wasser im Mund zusammenläuft, beginnt bei der Wahrnehmung der Lichter auf dem Weihnachtsmarkt für uns erst richtig der Winter. Das bleibt dieses Jahr aus. Daher empfehle ich, um so größeren Wert auf die Elemente zu legen, die einem bleiben. Die eigenen vier Wände weihnachtlich dekorieren, einen Adventskranz basteln oder Plätzchen backen hilft, die Vorfreude auf Weihnachten zu steigern. Und auch, wenn die klassische Weihnachtskarte in Zeiten von WhatsApp und Zoom dem einen oder anderen etwas altbacken erscheinen mag, ist sie doch eine schöne Geste, die sagt: Ich denke an Dich und Du bist mir wichtig!

Was macht diese verordnete Distanz mit Menschen, die sowieso schon einsam sind?

Dr. Krautheim: Die Einhaltung der AHA-Regeln sind zurzeit absolut notwendig, um Menschenleben nicht zu gefährden und um als Gesellschaft funktionsfähig zu bleiben. Gleichzeitig verstärken sie die Isolation für Menschen, bei denen auch schon vor der Pandemie Hürden für soziale Teilhabe bestanden haben. Für diese Menschen steigt das Risiko, eine Depression zu entwickeln. Wer das Gefühl hat, eine depressive Episode zu erleben, sollte sich frühzeitig professionelle Hilfe suchen. Auch hier gilt es, unsere Arbeitskraft für die Verbesserung der Situation der Betroffenen einzusetzen. Viele Vitos Kollegen, mit denen ich spreche, melden zurück, dass sie die Möglichkeit in der Pandemie zu helfen, für sich selbst als entlastend erleben.

Was kann man tun, um seinen Mitmenschen in dieser Zeit, die eigentlich für Zusammensein und Geborgenheit steht, zu helfen?

Dr. Krautheim: Hier gilt: Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. Es gibt unzählige ermutigende Beispiele auf der privaten oder Vereinsebene sowie in professionellen Kontexten, wo Menschen Hürden überwunden haben, um anderen Menschen Lichtblicke im Alltag zu verschaffen. Und in einer Zeit wie der gegenwärtigen darf man gewiss sein, dass diese Dinge eine hohe Relevanz für die Betroffenen haben. Sei es, der älteren und mobil eingeschränkten Dame von nebenan den Einkauf vor die Tür zu stellen oder für die beste Freundin telefonisch da zu sein, wenn diese einen braucht, weil ihr im Lockdown die Decke auf den Kopf fällt. Schon Kleinigkeiten können etwas bewirken und das Gefühl des Zusammenhalts trotz räumlicher Distanz stärken. Wir sind in einer Situation, in der es darauf ankommt, den Anderen wahrzunehmen. Wir tragen Masken um Andere zu schützen, nicht uns selbst. Gleichzeitig senden wir über die neu entstandenen Hürden Signale zu Anderen, die wichtig sind.

Was kann man für sich selber tun?

Dr. Krautheim: Wir sind aus der Anfangsphase heraus und in eine Phase gewechselt, die sich für viele wie ein Ultramarathon anfühlt. Wichtig hierbei ist: Konzentriere Dich auf das, was Du tun kannst, weniger auf das was Du nicht ändern kannst. Achte darauf, wie viel Kraft Du noch hast und wende Dich an Dein soziales Umfeld und an Dein professionelles Hilfenetzwerk, wenn die Reserven zu Ende gehen. Schaffe Dir bewusst schöne, wohltuende Momente im Alltag, um Kraft zu tanken. Und: Beschäftige Dich mit Problemen dieser Welt oder Deiner eigenen sozialen Situation zu bestimmten Uhrzeiten und nicht 24 Stunden am Tag.

Bringt diese Krise vielleicht auch positive Aspekte für die Psyche mit?

Dr. Krautheim: Diese Krise hat so viel Leid hervorgerufen und wird noch so vieles generieren, dass es erstmal schwerfällt, darauf zu antworten. Gleichzeitig bin ich persönlich in den vergangenen Monaten immer wieder vom persönlichen Engagement und der Kreativität vieler meiner Mitmenschen überwältigt sowie den Zeichen der Menschlichkeit und des Zusammenhalts, die immer wieder über alle Hürden hinweggesetzt werden.