
19 März „Gleichgültigkeit ist die schlimmste Verletzung, die ein Mensch erleiden kann“
Welche Bedeutung hat eine sichere Bindung in der Kindheit für das spätere Leben und wie entstehen unsichere Bindungen und Bindungsstörungen?
Rund 60 Prozent aller Kinder können in ihrer frühen Kindheit eine sichere Bindung zu mindestens einer Bezugsperson aufbauen. Sie sind widerstandfähiger gegenüber psychischen Erkrankungen und führen später häufig gesunde Partnerschaften und Freundschaften. Rund 30 Prozent der Kinder sind unsicher gebunden. Sowohl die unsicher ambivalente als auch die vermeidende Bindung sorgt für größeres Konfliktpotenzial und kann die Fähigkeit, im späteren Leben gute Beziehungen zu anderen aufzubauen, erschweren. Bindungsstörungen hingegen kommen seltener vor. Sie haben zur Folge, dass keinerlei dauerhafte und gute Beziehungen zu anderen Menschen aufgebaut werden können.
Doch wie entsteht eine sichere Bindung überhaupt? Wann spricht man von einer unsicher ambivalenten oder einer vermeidenden Bindung und wie äußert sich eine Bindungsstörung?
Bindung ist für Menschen und höherer Wirbeltiere von zentraler Bedeutung. Jede Bindung entsteht aus ganz frühen Beziehungen. Gerade die frühsten Beziehungen haben einen sehr verbindenden Charakter. Das erste Bindungselement ist die Nabelschnur zwischen Mutter und Kind. Bereits im Mutterleib spielt der Dialog zwischen Mutter und Kind eine zentrale Rolle und ist von lebenslanger Bedeutung. Das Kind hört den Klang der Stimme der Mutter, spürt ihre Bewegung, aber auch, ob sie nervös oder entspannt ist. All diese Sinneseindrücke übertragen sich auf den Embryo und später den Fetus.
Jedes Schreien eines Säuglings ist der Versuch, die Bindung zu aktivieren
Unser Bindungssystem ist biologisch sehr stark verankert. Säuglinge haben eine Gerichtetheit auf eine bestimmte Person mit der sie nach der undifferenzierten Anfangsphase viel intensiver kommunizieren als mit anderen. Vor allem, wenn sie in kritische Situationen kommen und ihre Grundbedürfnisse nicht erfüllt sind, sie zum Beispiel Hunger und Durst haben oder Nähe und Schutz suchen. Jedes Schreien eines Säuglings ist der Versuch, die Bindung zu aktivieren.
Neben der zentralen Bindung gibt es weitere hilfreiche Bindungen, zum Beispiel zu Geschwistern, Großeltern oder anderen Personen. Übrigens ist die Kernfamilie ein westlich geprägtes Modell. In anderen Ländern ist es ganz normal, dass ein Kind zahlreiche enge Bindungspersonen hat. Nicht umsonst gibt es zum Beispiel das Sprichwort, dass in Afrika das ganze Dorf ein Kind großzieht.
Der Mensch ist eine soziale Frühgeburt
Wir Menschen sind sogenannte soziale Frühgeburten. Wir sind darauf angewiesen, getragen, genährt und beschützt zu werden. Wir haben die Erwartung, dass uns liebevolle Bezugspersonen auf dem Weg ins Leben unterstützen.
Das Bindungskonzept ist letztlich ein gefühlsmäßiges Band zwischen einem Kind und seinen sehr vertrauten Bezugspersonen. Bindungen beschränken sich nicht auf die frühe Kindheit, allerdings ist die Bindungsentwicklung dann am sichersten, wenn sie ganz früh mit den vertrauten stetigen Personen beginnt und keine Abbrüche stattfinden. Die Bindungsthematik bleibt bis ans Lebensende bestehen. Bindung ist immer auch mit Trennung verbunden – nur, wer sich verbinden kann, kann sich auch trennen und umgekehrt.
Damit Bindung entstehen kann, braucht es Verlässlichkeit und unmittelbare und feinfühlige Responsivität, also das Reagieren auf das Kind. Gemeint ist damit zum Beispiel, zugewandt, aufmerksam und ansprechbar für das Kind zu sein. Auch, das Verhalten des Kindes zu spiegeln, fällt darunter. Doch das alles ist noch keine Bindung. Wir sprechen hier von einer intensivierten Beziehung. Nur durch eine dauerhafte Bindungsübung entsteht die eigentliche Bindung. Etwa nach einem Jahr gelungener Interaktion finden wir eine sichere Bindung.
Durch hunderte und tauschende solcher Mechanismen, also Blickkontakt, auf das Kind reagieren, Nähe schaffen etc., bildet das Kind ein inneres Netzwerk aus und zwar kognitiv, emotional, neuronal und bis in allen Körperstrukturen hinein. Als Kind sind wir auf dieses innere Netzwerk angewiesen und auch im Erwachsenenalter brauchen wir Elemente davon immer wieder in den Beziehungen zu anderen Menschen.
Noch bis 1989 dachten u.a. aus der Erwachsenenpsychiatrie kommende Forscher/-innen, dass Säuglinge unempfindlich gegenüber Beziehungsabbrüchen seien und in einer sogenannten gedächtnisfreien Zone lebten. Man nahm an, dass Brüche in den Beziehungen, etwa bei Pflegekindern im Säuglingsalter, keinerlei Folgen hätten. Das stimmt nicht. Wir wissen von Anfang an genau, zu wem wir gehören. Es ist bis heute so, dass Bindungsforschung bis zur Bindungstraumaforschung nicht genügend in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Arbeit verankert ist.
Das Vertraute gibt Sicherheit
In den ersten Monaten orientiert sich das Baby noch an Signalen und Orientierungsreizen, die meist noch nicht auf eine spezifische Person ausgerichtet sind. In der Phase von drei bis sechs Monaten gibt es Orientierung und Signale des Kindes, die sich auf eine oder mehrere unterschiedliche Personen richten können. Jetzt ist die Aktivität des Kindes größer. Das Kind schreit nicht nur diffus, sondern zielgerichteter.
Im Alter von sechs Monate beginnen Kinder zwischen fremden und vertrauten Personen zu unterscheiden. Viele kennen den Begriff der sogenannten Achtmonatsangst. Wenn das Baby mobil wird, ist es darauf angewiesen, Personen genauer zu unterscheiden und zum Beispiel auf die vertraute Person zuzukrabbeln oder in ihrer Nähe zu bleiben. Die vertraute Person ist die sichere Basis des Kindes. Folgendes haben wohl die meisten schon einmal beobachtet: Wenn ein Baby auf dem Schoß der Eltern sitzt, schäkert es gern mit Fremden, wenn es allein auf dem Boden sitzt und eine fremde Person sich nähert, fremdelt es eher, denn dann fühlt es sich nicht ausreichend gesichert.
Ungefähr ab dem vierten Lebensjahr bilden sich sichere Beziehungen endgültig aus. Kinder aktivieren in dieser Phase die sogenannte zielorientierte Partnerschaft mit ihren Bindungspersonen.
A, B, C, D – die vier Bindungstypen
Wir unterscheiden zwischen vier Bindungstypen, zu denen sich alle Menschen mehr oder weniger eindeutig zuordnen lassen.
Die sichere Bindung wird als Typ B bezeichnet – schätzungsweise 60 Prozent der Menschen haben eine sichere Bindung zu mindestens einer Bezugsperson entwickeln können. Diese Menschen können ihre Gefühle offen ausdrücken und haben eine innere Sicherheit über die emotionale Erreichbarkeit, Verfügbarkeit und Vorhersehbarkeit ihrer Bindungsperson. Eine sichere Bindung in der frühen Kindheit begünstigt später die Fähigkeit zur Autonomieentwicklung und steigert die Resilienz gegenüber psychischen Erkrankungen. Die Bindungsperson ist die sichere Basis für das Kind. Diese Kinder wissen, dass sie im Bewusstsein der anderen Person vorhanden sind. Dass die Bindungsperson das Kind beispielsweise nicht vergisst, wenn es gerade nicht bei ihm oder bei ihr ist. Diese Menschen haben in der Regel eine positive Lebenshaltung in schwierigen Lebenssituationen und einen hohen Grad an Feinfühligkeit.
Beim Typ A sprechen wir von der unsicher vermeidenden Bindung. Es findet kein offener Ausdruck von Gefühlen statt. Das Kind vermeidet die Bindungsperson aktiv, da es gelernt hat, dass es sich auf die Unterstützung der Person nicht verlassen kann. Oft entwickelt das Kind ein sogenanntes falsches Selbst. Es zeigt seine Bedürfnisse nicht oder tut so, als habe es überhaupt keine Bedürfnisse. Von Außenstehenden wird es deshalb häufig als höflich und zurückhaltend wahrgenommen. Ein Kind mit einer unsicher vermeidenden Bindung hat im späteren Leben meist eine negative Lebenshaltung in schwierigen Situationen. Auch als Erwachsener kann er oder sie sich nicht gut Hilfe suchen und will am liebsten mit allem alleine zurechtkommen.
Jemanden mit einer unsicher ambivalenten Bindung bezeichnen wir als Typ C. Dieser Bindungstyp zeichnet sich durch widersprüchliche Gefühle und Verhaltensweisen aus. Zum einen ist da ein starker Wunsch nach Nähe und Kontakt, aber gleichzeitig auch ärgerliche Zurückweisung in Form von Widerstand. Das Kind umarmt die erwachsene Bezugsperson zum Beispiel und tritt sie gleichzeitig. Meist handelt es sich dabei um ein Nicht-Ertragen von Eindeutigkeit und Klarheit. Das Kind will gleichzeitig geliebt werden, als auch Distanz finden. Teilweise kann man von einer richtigen Bindungsverwirrung sprechen. Je mehr das Kind manipuliert, umso mehr wirkt es der Unvorhersehbarkeit im Verhalten der Bezugsperson entgehen und schafft sich dadurch selbst vermeintlich Sicherheit. Kinder mit einer unsicher ambivalenten Bindung lassen sich schwer von Bezugspersonen beruhigen und zeigen oft destruktives Verhalten.
Beim Typ D handelt es sich um eine desorientierte Bindung. Diese Menschen haben überhaupt keine Bindungsstrategie. Sie neigen oft zu stereotypischen Verhaltensweisen. Das bedeutet, ihr Verhalten ist antrainiert und hat nichts mit der Bindung zu einer bestimmten Person in einer bestimmten Situation zu tun. Häufig tragen diese Menschen ihre unbewältigte Trennungs- und Verlusterfahrung mit sich herum.
Die verschiedenen Bindungsstörungen
Wenn in der frühen Kindheit viele Bindungsunsicherheiten bestehen, etwa durch traumatische Erlebnisse, wie Missbrauch und Misshandlung oder durch massive Vernachlässigung, kommt es bei manchen Menschen nie zu einer Bindungssicherheit. Das kann sich auf verschiedene Arten äußern.
Die reaktive Bindungsstörung oder „das wunschlos unglückliche Kind“
Ein wunschlos unglückliches Kind kann keine Wünsche äußern. Solche Kinder bitten später nie um etwas, sondern nehmen sich alles einfach. Wenn sie früh alleingelassen worden sind, also keine verlässliche Beziehung zu einer Bezugsperson erlebt haben, ziehen sich diese Kinder zurück und vermeiden Kontakte. Später sprechen wir dann von einer reaktiven Bindungsstörung. Diese Kinder gehen nicht auf Bindungen ein. Sie sind oberflächlich oft sehr angepasst. Im späteren Leben sind sie anfällig für die Entwicklung eine Persönlichkeitsstörung, wie einer Borderlinestörung, einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung oder einer dissoziativen Störung.
Bindungsstörung mit Enthemmung oder „das Kind, das mit jedem mitgeht“
Die zweite Art, zu verarbeiten, dass keine frühe sichere Bindung stattgefunden hat, ist die sogenannte Bindungsstörung mit Enthemmung. Das sind Menschen, die ganz früh gar keine festen Bezugspersonen hatten, nicht mal schlechte, sondern nur diffuse. Enthemmung bedeutet in dem Fall, dass diese Kinder jeden anlächeln und mit jedem mitgehen. Warum tun sie das? Diese Kinder versuchen, aus ihrer eigenen Kraft heraus, etwas zu schaffen, was sie bisher nicht schaffen konnten, nämlich jemanden erfolgreich an sich zu binden, damit sich diese Person dann für sie einsetzt. Oft leben diese Kinder nicht dauerhaft bei ihren leiblichen Eltern, da diese nicht in der Lage sind, sich adäquat um sie zu kümmern. Sie kommen bei Pflegefamilien oder in anderen Betreuungsformen unter.
Pflegeeltern denken in solchen Fällen oft erst einmal, das häufige Lächeln des ihnen anvertrauten Kindes sei der Beginn einer Bindungsbeziehung. Doch es ist, hart gesagt, nur ein Notfallprogramm von Bindungserreichen. Das zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben der Kinder. Das heißt, sie können Beziehungen nicht aufrechterhalten und brechen sie wieder ab, um sich anschließend wieder mit jemand neuem zu verbinden. Manche haben sogar eine Art Sucht entwickelt, Beziehungen immer wieder infrage zu stellen und abzubrechen, um sie später wieder zu gewinnen. Ein ewiger Kreislauf aus Zerstörung und Wiederannährung. Wir sprechen dann von sogenannter Verschmelzungssehnsucht und Verschlingungsangst, also die Suche nach Nähe und die gleichzeitige Angst vor Nähe. Das kann übrigens auch dann passieren, wenn die Bezugsperson zwar dauerhaft anwesend ist, die Beziehungsqualität aber stark schwankt und die Bezugsperson die Beziehung immer wieder abbricht. Etwa, wenn die Bezugsperson suchtkrank ist und sich phasenweise überhaupt nicht um das Kind kümmert.
Angststörungen können ein Anzeichen für eine bestehende Bindungsthematik sein
Dass jemand eine Bindungsthematik hat, wird oft anhand von auftretenden Angststörungen sichtbar. Kinder, die keine sichere Basis hatten, entwickeln später oft Panik, ohne, dass es dafür einen Anlass gibt. Manche Kinder versuchen, sich bewusst unsichtbar zu machen, verstecken sich oder verhalten sich so unauffällig wie möglich. Dahinter steckt die Angst, sich durch zu viel Präsenz angreifbar zu machen. Ganz nach dem Motto: „Wer mich gar nicht erst wahrnimmt, der kann mir auch nichts Böses antun“. Dann gibt es wiederum Kinder, die sich spontan an jeden Menschen klammern, ob vertraut oder nicht. Andere bekommen schnell ein Gefühl von Enge und müssen stets einen Fluchtweg im Blick haben.
Wer als Kind viel Verlassenheit erlebt hat, kann zum Beispiel Angst entwickeln, sich in großen offenen Räumen aufzuhalten. Wer eingesperrt war, hat möglicherweise auch später Angst davor, eingeschlossen zu sein. Doch es gibt genauso Kinder, die eingesperrt wurden und später genau diesen Zustand wieder suchen, eben, weil er ihnen vertraut ist.
Die große Schwierigkeit, die wir als Behandler mit vielen Kindern und auch älteren Patient/-inne, die keine sichere Bindung entwickeln konnten, haben, ist, dass sie lieber das Vertraute suchen als das Unvertraute. Und wenn das Vertraute etwas Gefährliches und Destruktives ist, dann suchen sie sich vertraute Gefahr. Sie suchen nicht die bessere Lösung, sondern halten an dem fest, was sie ursprünglich hatten. Wenn wir nicht reif geworden sind, halten wir uns immer an das, was schon mal da war. Nur, wenn wir uns sicher fühlen, können wir uns entwickeln.
Es gibt häufig sogenannte „Bindungstraumatische Ketten“ über mehrere Generationen hinweg, weil Eltern, aufgrund ihrer eigenen unsicheren Bindung, diese wieder an ihre Kinder weitergeben und diese an ihre Kinder und so weiter.
Die Behandlung von Bindungsstörungen
In der Behandlung von Menschen mit Bindungsstörungen oder unsicheren Bindungen betrachten wir Behandler stets vier Faktoren:
- Strukturqualität – also die Qualität der Bindung zu nahen und fernen Personen
- Identitätsentwicklung – hat die Person eine eigene Identität erworben oder sich immer nur an eine Bindungsperson angelehnt?
- Interaktionskompetenz – wie gelingt es der Person, sich in Beziehungen mit anderen Menschen zu öffnen und etwas von sich zu zeigen?
- Selbststeuerung – kann die Person sich selbst steuern oder ist sie auf die Steuerung durch jemand anderen angewiesen? Wenn jemand eine starre Bindung hat, dann muss er immer von anderen gesteuert werden. Diese Kinder schauen beispielsweise immer erst, wie der Erwachsene reagiert und erst dann trauen sie sich, etwas zu sagen oder aktiv zu werden. Kinder mit eher externalisierender Störung machen genau das Gegenteil: Bei ihnen findet keine soziale Referenzierung statt und sie machen, was sie wollen, ohne auf die Signale der Menschen in ihrer Umgebung zu achten.
Schwere reaktive Bindungsstörung – Ein Beispiel aus der Praxis
Lukas ist fünf und lebt seit Kurzem in einer Pflegefamilie. Die Pflegeeltern haben zwei leibliche Kinder. Die beiden Kinder sind selbstbewusst und auch schon mal frech gegenüber den Eltern. Lukas hingegen ist immer brav, angepasst und hält sich an alle Regeln. Es fordert nie etwas, will nie etwas für sich. Mit der Zeit fällt den Pflegeeltern auf, dass Dinge verschwinden. Spielzeug, genauso wie Gebrauchsgegenstände, Nahrungsmittel oder sogar Müll. Sie sind überrascht, als sie eines Tages all diese Dinge unter Lukas Bett finden. Was war passiert?
Lukas hat nie Bedürfnisse geäußert. Es hat alles heimlich unter seinem Bett gehortet. In seiner Pseudoautonomie hat er sich seine eigene innere Welt geschaffen. Diese Welt konnte und wollte er mit niemandem teilen. Weil Lukas in frühster Kindheit keine sichere Bindung erlebt hat, hat er sehr früh gelernt, dass er nicht auf Hilfe anderer hoffen kann, sondern sich um sich selbst kümmern muss. Er konnte aber nicht entscheiden, was er eigentlich braucht und was gut für ihn ist. Denn diese Fähigkeit haben Kinder schlichtweg noch nicht, deshalb sind sie ja auf die Unterstützung und den Schutz von Erwachsenen angewiesen. Deshalb hortete Lukas einfach alles, was er finden konnte, sogar Müll, und hütete es wie einen Schatz, der sein Überleben sichern sollte.
In der Therapie haben wir dann nach und nach erreicht, dass Lukas langsam lernte, Wünsche zu äußern. Erst mal nur über eine dritte Person. Wir fragten ihn zum Beispiel: „Wenn jetzt ein Freund bei dir zu Besuch wäre, was meinst du, was der sich wünschen würde?“
Mit der Zeit fiel es Lukas leichter, seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu äußern, sofern er sich sicher fühlte. Traten verunsichernde Ereignisse auf, zog Lukas sich zurück und zeigte neben depressiven Symptomen teilweise auch aggressives Verhalten. Wichtig war, dass er in der Therapie einen haltgebenden Rahmen bekam. In diesem sicheren Rahmen übten wir immer wieder mit ihm, angemessen auf Konflikte und Unsicherheiten zu reagieren, ohne in alte Muster zurückzufallen, etwa, Dinge unter seinem Bett zu horten. Lukas lernte mit der Zeit, dass ihn seine selbstentwickelten Bewältigungsstrategien, die ihm früher vermeintlich Sicherheit gaben, heute daran hindern, mit dem Hier und Jetzt zurechtzukommen. Gleichzeitig bekam er von uns Behandler/-innen adäquatere Werkzeuge an die Hand, um bei allen bleibenden Themen die Herausforderungen des Lebens deutlich besser zu bewältigen.