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Großer Spaß mit therapeutischer Wirkung

Filmprojekt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Vitos Klinik Rehberg

Capes rauschen flatternd durch die Luft.

Lichtschwerter durchschneiden surrend das Dunkel.

Saurier stapfen donnernd durch den Wald.

Hatten Sie bei diesen Beschreibungen auch direkt Szenen bekannter Filme im Kopf? Filme erzeugen emotionale Bilder, die Kinder und Erwachsene gleichermaßen in ihren Bann ziehen. Diese Anziehungskraft nutzen wir in der Vitos Klinik Rehberg, um pädagogische und therapeutische Ziele zu erreichen. Wie das funktioniert möchte ich Ihnen in diesem Beitrag erläutern.

Wie alles begann

Seit 2014 führen mein Kollege Michael Rücker, Krankenpfleger und Fachkraft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, und ich, Reiner Thielmann, ein Filmprojekt in der Vitos Klinik Rehberg durch. Der Grundstein wurde allerdings schon 1997 gelegt. Damals hieß die Klinik kurzzeitig „Rehberg Park“. Zu dieser Zeit war ich Krankenpfleger und hegte bereits eine große Begeisterung für Filme. Der neue Name löste unmittelbar Assoziationen mit dem Blockbuster „Jurassic Park“ aus und die Idee für das erste Projekt war geboren. Die Klinik verfügte bereits über professionelle Kameras und Schnitttechnik. Nach Abstimmung mit der Klinikdirektion durften Michael und ich das Experiment wagen. Die erste Filmproduktion war sehr zeitintensiv und erforderte von allen Beteiligten eine gute Portion Extra-Engagement, die sich allerdings lohnen sollte. Die Reaktion der Kinder und Jugendlichen sowie der Eltern war durchweg positiv und das Projekt ein voller Erfolg.

Kurze Zeit darauf verabschiedete ich mich vorerst von Vitos Herborn, um in Afrika Entwicklungshilfe zu leisten. Das Projekt und meine Begeisterung für Medien beschäftigen mich allerdings nachhaltig. Daher entschloss ich mich für ein Supported Distance Learning Studium an der Open University in England. Das ist eine Art Fernstudium, bei dem man durch einen Tutor begleitet wird. Als Schwerpunkte wählte ich Medienwissenschaften und Psychologie – meine Rückkehr zu Vitos Herborn und der Vitos Klinik Rehberg fest im Blick. Michael und ich waren von der Wirksamkeit des Filmprojektes für die jungen Patientinnen und Patienten überzeugt. Gemeinsam entwarfen wir ein Klinikkonzept, welches die pädagogische Medienarbeit mit dem Filmprojekt verknüpfte. Neben meiner Haupttätigkeit als Therapeut für Kinder und Jugendliche, die Probleme mit Medienmissbrauch haben, wurde das Filmprojekt fester Bestandteil meiner erneuten Einstellung 2011.

Die Umsetzung

Michael ist federführend für die Produktion, die Drehbuchentwicklung und das Casting verantwortlich. Ich übernehme die visuelle Umsetzung sowie die Aufnahmen, die Tricktechnik und den Schnitt. Gedreht wird zwar während der Sommerferien, aber die Vorbereitungen starten bereits zu Beginn eines Jahres. Anfang Januar treffen Michael und ich uns, um die Filmauswahl zu besprechen und das Drehbuch zu schreiben. Inspiration waren bisher Filme aus unserer Kindheit, wie eben Jurassic Park oder Star Wars. Wichtig ist uns beiden aber auch, dass die Filme die Situation der Kinder und Jugendlichen widerspiegeln. So haben wir die Kinder zum Beispiel schon in Superhelden und –heldinnen verwandelt. Nachdem wir eine Auswahl getroffen und das Drehbuch geschrieben haben, setzten wir der Drehplan auf. Während der Dreh 2013 noch knapp drei Wochen dauerte, haben wir die Drehzeit mittlerweile auf eine Woche kondensiert. Aufgrund der zum Teil stark schwankenden Stimmungen der Kinder wird Michael für diese Woche von seiner restlichen Arbeit freigestellt. Das Projekt fügt sich so besser in den Alltag der Kinder und die Therapie ein.

Reiner Thielmann am Set mit einer jungen „Schauspielerin“.

Wenn Drehbuch und Kulissen fertig sind und die Drehorte festgelegt wurden, beginnen die Dreharbeiten. Die Aufnahmen finden in abgesprochenem zeitlichem Rahmen statt und werden sowohl von der Klinikdirektion sowie unserem Oberarzt, die beide selbst kunstaffin sind, mit großer Begeisterung unterstützt. Im Durchschnitt gestalten jährlich 17 bis 18 Kinder, die in der Klinik behandelt werden, die Umsetzung des Filmprojektes mit. Dabei bringen sie ihre inhaltlichen Ideen ein, werden als Schauspieler kreativ, führen die Kamera, unterstützen beim Ton und helfen die Kulissen zu gestalten. Neben den kleinen Stars lassen es sich aber auch die Ärzte, Psychologen und Therapeuten nicht nehmen, das Projekt aktiv zu unterstützen. Und so viel sei verraten: Klinikdirektor Prof. Dr. Wildermuth hat in jedem Jahr einen Gastauftritt.

„No one left behind“

Im Lauf eines Jahres kommt etwa jedes vierte Kind der Kinderstation in den Genuss am Filmprojekt teilzunehmen. Daher kann es kein fester Bestandteil der Therapie sein. Dennoch bietet es einen großen therapeutischen Mehrwert für diejenigen, die teilnehmen können und ist ein echtes Highlight.

Das Projekt läuft unter dem Motto „Go together – no one left behind“. Denn es kann wirklich jeder mitmachen, der möchte. Es gibt nichts, was einen zurückhält. Alle können sich auf die eine oder andere Weise einbringen. Wir hatten zum Beispiel eine junge „Schauspielerin“, die vor Aufregung ihren Text nicht sprechen konnte. Daraufhin hat Michael den Dialog noch einmal in Ruhe mit ihr durchgesprochen. Vor der Kamera war sie dann ganz in ihrem Element. Das sind die Erfolgsmomente, in denen die Kinder ihre eigenen Ressourcen kennenlernen und stolz auf sich sein können. Es passiert häufig, dass die Kinder sich gegenseitig motivieren und ein echtes Wir-Gefühl am Set entsteht. Auch auf Station ist es meist deutlich zu sehen, wenn der Film für das Jahr feststeht und die Rollen vergeben wurden. Die Kinder bestehen dann darauf, dass Eltern und Angehörige ihnen passende Bettwäsche und andere Fanartikel mitbringen. Es ist unglaublich zu sehen, wie die Vorfreude und die Motivation der Kinder vor dem ersten Drehtag steigen.

Und bitte …

Michael Rücker spricht mit einem der jungen Darsteller die nächste Szene durch.

Gedreht wird im Sommer, während die Kinder Schulferien haben. Pro Szene sind in der Regel sechs Kinder anwesend. Die Aufnahmen folgen immer dem gleichen Muster. Nachdem die Klappe gefallen ist, wissen alle was zu tun ist. Die Kamera läuft, der Ton nimmt auf und die Beleuchtung ist ausgerichtet. Alle, die nicht vor der Kamera stehen, wissen, dass sie ruhig sein müssen und kennen ihren Einsatz. Natürlich funktioniert nicht immer alles beim ersten Mal, aber auch das ist Teil des therapeutischen Lernprozesses. Durch Übungen und Wiederholungen lernen die Kinder was es bedeutet Ausdauer zu haben und nicht direkt das Handtuch zu werfen, sobald etwas nicht funktioniert wie geplant. Ist eine Szene abgedreht wird immer geklatscht. Das ermutigt die Kinder und zeigt ihnen, dass sie ihren Einsatz gut gemeistert haben. Es fördert außerdem die Gruppenbezogenheit und zollt von gegenseitigem Respekt.

Schlussendlich zählt nicht nur das Ergebnis in Form des fertigen Films, sondern vielmehr die Arbeit und das Engagement, welches die Kinder in jede Szene gesteckt haben. Der Filmdreh ist für die Kinder eine Psychotherapie und viele werden durch diese Art der Auseinandersetzung mit Medien sogar nachhaltig inspiriert. Es ist eine große Motivation, den Kindern diesen kreativen Blick auf die Welt mitgeben zu können.

Die Premiere

Auch wenn die Dreharbeiten für die Kinder bereits einen enormen Lern- und Erfahrungswert haben, ist auch die Filmvorführung – die Premiere – mit Angehörigen, Freunden und Mitarbeitenden ein wichtiges Event. Die emotionalen Bilder hinterlassen nicht nur bei den Kindern bleibenden Eindruck, sondern auch bei den Eltern und Angehörigen. Sie erleben die Kinder dann auf eine andere Art und Weise. Im Gegensatz zu den häufig anstrengenden Rebellen, die vielleicht die Schule nicht besuchen wollten oder gar wegen Medienmissbrauch in die Klinik gekommen sind, sehen sie nun, welche Fähigkeiten die Kinder haben. Das löst häufig starke Emotionen aus und beeinflusst die Eltern-Kind-Beziehung in positivem Sinne.

Die digitale Welt, in der wir nun einmal leben, kann negative Auswirkungen haben. In meiner Arbeit sehe ich das tagtäglich. Leider erfahren wir oft, dass Kinder mit Filmen konfrontiert werden, die beängstigend sind. Andere werden stumpfsinniger Dauerberieselung ausgesetzt. Mit dem Filmprojekt wollen wir den Kindern zeigen, dass sie auf kreative Art und Weise Medien selbst gestalten können und so auch in der analogen Welt weiterkommen. Es geht nicht darum, die Kinder in eine Traumwelt vor den Greenscreen zu schicken, sondern ihnen zu helfen ihre eigenen Ressourcen zu entdecken. Bilder erzählen Geschichten und mit jedem Film, den wir drehen, können die Kinder die ihre erzählen.

In diesem Jahr wird das Filmprojekt natürlich unter Einhaltung der Corona-Maßnahmen umgesetzt.

Hintergrund: In die Vitos Klinik Rehberg kommen Kinder und Jugendliche, weil es im Kindergarten, der Schule, in der Familie oder in der Freizeit große Alltagsschwierigkeiten gibt, die sie weder alleine noch mit ihren Eltern oder ambulanten Hilfen lösen können. Manche der Kinder sind sehr unruhig oder wütend, anderen fällt es schwer, sich an Regeln und Grenzen zu halten. Wieder andere sind ängstlich, traurig oder gar verzweifelt. Aufgrund ihrer seelischen Probleme entwickeln sie Schwierigkeiten in der Schule. Sie kommen mit anderen Kindern oder Erwachsenen nicht zurecht und entwickeln zum Teil psychosomatische Störungen.

Die nach Alter und Patientengruppen eingeteilten Stationen der Klinik bieten für die jungen Patienten ein klar strukturiertes, wertschätzendes und konsequentes soziales Umfeld. Das ist ein gutes Übungs- und Lernfeld für soziale Kompetenzen, Beziehungsgestaltung, Angstüberwindung, Selbstwert – und Selbstvertrauenssteigerung, Sauberkeitstraining, aber auch für Akzeptanz und Verinnerlichung von sozialen Regeln und Normen. Zusätzlich greift das Behandlungsteam auf eine breite Palette von einzel- und gruppentherapeutischen Angeboten zurück. Sie erstellen einen auf die Bedürfnisse des Kindes zugeschnittenen Therapieplan.

Bildquelle: Vitos