08 Sep Haltung zeigen: Eltern als Vorbilder für ihre Kinder
Interview mit Dr. Dietmar Eglinsky über die Folgen der Pandemie für Kinder und Jugendliche
Die Sommerferien in Hessen sind vorbei. Es findet wieder Präsenzunterricht statt. Für die Schülerinnen und Schüler kehrt somit ein Stück Normalität zurück. Doch die vergangenen 18 Monate, die wiederholten langen Schulschließungen und Lockdowns sind nicht spurlos an den Kindern und Jugendlichen vorbeigegangen. Die psychischen Belastungen und Verhaltensauffälligkeiten nehmen zu und sind auch in unseren Vitos Kinder- und Jugendkliniken für psychische Gesundheit spürbar.
Wir haben darüber mit Dr. Dietmar Eglinsky gesprochen. Er ist Klinikdirektor der Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Kassel. Das Klinikteam gibt Tipps, wie Eltern zur Stärkung der psychischen Widerstandskraft ihrer Kinder beitragen können
Herr Dr. Eglinsky, die Corona-Pandemie begleitet uns jetzt seit fast eineinhalb Jahren. Vor allem Kinder und Jugendliche sind davon psychisch stark belastet. Wie macht sich das in Ihrem Klinikalltag bemerkbar?
Wir beobachten unterschiedliche Verhaltensauffälligkeiten, Tendenz steigend. Viele Kinder können sich schlecht konzentrieren und sind schneller gereizt als sonst. Weil es ihnen an Bewegung fehlte und viele zugenommen haben, sind sie auch körperlich nicht so fit.
Welche Altersgruppen betrifft das besonders?
Das zieht sich quer durch alle Altersstufen zwischen fünf und 17 Jahren. Für alle hat sich die Lebenssituation in den vergangenen 18 Monaten stark verändert. Die Jüngeren nehmen das oft nicht als Belastung wahr. In der Pubertät denken Jugendliche mehr über sich selbst nach. Da nehmen wir vermehrt seelische Beeinträchtigungen wahr.
Wie kann sich das äußern?
Wir haben beispielsweise mit Schülern zu tun, die vor Corona ohne große Not in der Schule gute Leistungen erbrachten. Bei der Rückkehr in den Präsenzunterricht haben sie aber plötzlich Leistungsängste bekommen. Umgekehrt war die Pandemie mit Lockdown und Distanzunterricht für Kinder und Jugendliche eine Art Auszeit, die schon vorher unter sozialen Ängsten, Leistungsdruck und Mobbing in der Schule gelitten haben. Sie mussten sich ja keiner Konfrontation stellen. Ein Zusammentreffen im Alltag fand nicht statt.
Wenn Kinder und Jugendliche unter seelischen Erkrankungen leiden, sind die Symptome bei beiden Gruppen unterschiedlich. Bei Kindern kann sich eine Depression hinter Gereiztheit und Bauchschmerzen verbergen. Jugendliche zeigen ähnliche Verhaltensweisen wie depressive Erwachsene: Antriebslosigkeit, Traurigkeit bis hin zu Suizidgedanken.
Wann sollten Eltern sich Sorgen machen?
Nicht hinter jedem auffälligen Verhalten steckt eine seelische Krise. Wenn Kinder motzig sind, kann sich darin ja auch Lebendigkeit zeigen. Ein Alarmzeichen ist es eher, wenn Kinder sich zurückziehen, lustlos und antriebsgemindert sind und nicht mehr reden.
Dann kann zum Beispiel der Kinderarzt oder eine unserer kinder- und jugendpsychiatrischen Ambulanzen eine erste Anlaufstelle sein.
Wie können Eltern ihre Kinder unterstützen?
Beispielsweise als Vorbilder im Umgang mit der Pandemie. Jeder kann entscheiden, wie er mit dieser Situation umgeht: sich aufregen und das Schicksal, die Politik, das Virus verfluchen. Oder die Situation als Herausforderung annehmen und einen für sich guten Weg finden, damit umzugehen. Kindern wird damit eine Haltung vermittelt, die Pandemie als überwindbare Situation zu sehen.
Welche Kinder sind besonders gefährdet, an psychischen Problemen zu erkranken?
Das zieht sich quer durch alle Bevölkerungsgruppen, von sozial Schwachen bis hin zu gutsituierten Akademikerfamilien. Grundsätzlich trifft es die am meisten, die schon vor Corona Probleme hatten. Das sind oft Kinder aus sozial und finanziell schwachen Verhältnissen. Corona hat die Situation noch verstärkt. Genauso betroffen sind oft Kinder, die selbst oder deren Eltern bereits unter psychischen Erkrankungen litten. Ebenso Kinder aus Familien, wo verstärkt Aggression statt gegenseitiger Unterstützung herrscht.
Aber auch Kinder aus vermeintlich intakten Familien können schwere Erkrankungen entwickeln, beispielsweise durch verdeckte Elternkonflikte, hohe Leistungsansprüche oder bei einer Wohlstandsverwahrlosung.
Wie finden Kinder und Jugendliche nach der Pandemie in die Normalität zurück?
Es sind ja nicht alle durch Corona und die Auswirkungen krank geworden. Zahllose Kinder erfahren durch ihre Familien eine gute Unterstützung und sind psychisch stabil. Wir sprechen von einer Resilienz, wenn sie sich trotz schwieriger Umstände gut entwickeln. Nach einer gewissen Umstellungszeit werden sich diese Kinder auch wieder an ein normales Leben gewöhnen.
Kinder und Jugendliche haben eine größere Widerstandskraft und Anpassungsfähigkeit als häufig angenommen wird. Mit vielen Corona-Vorgaben sind sie lockerer umgegangen als die Erwachsenen. Beispielsweise haben sie die Pflicht zum Maske tragen vergleichsweise unaufgeregt umgesetzt.
Dennoch rechnen wir mit einer Art Bugwelle, die mit der Rückkehr zur Normalität einhergehen wird. Der Regelunterricht an den Schulen konfrontiert wieder mit Ängsten. Erst in einigen Monaten sehen wir, welche Symptome und Krankheitsbilder durch die Pandemie entstanden oder verstärkt worden sind.
Gegenüber den Kindern und Jugendlichen sehe ich es als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe an, sie auf dem Weg in die Normalität zu begleiten. Dazu gehören die Eltern, Schulen, Sport- und Freizeitvereine und ambulante Jugendhilfeangebote. Zu einem stabilen sozialen Umfeld zählen natürlich auch Freunde.
Welche Rolle spielt dabei die Hilfe durch kinder- und jugendpsychiatrische Einrichtungen?
Wir freuen uns, wenn wir bei Problemen relativ früh einbezogen werden, also wenn es in Schule, Familie und Freundeskreis Probleme gibt. Am Anfang steht ein Beratungsgespräch. Gemeinsam mit Betroffenen und Eltern entscheiden wir dann, wie es weitergeht.
Wenn man den Kindern erklärt, dass die Ärzte bei uns sich total gut mit Angst und sowas auskennen, nimmt man der Psychiatrie auch ihr Stigma. Bei uns verstehen sich Ärzte und Therapeuten auch als Coach.
Tipps für Eltern:
Eine stabile familiäre Situation trägt zur Entwicklung der psychischen Widerstandskraft von Kindern bei. Was Eltern tun können, hat das Team der Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Kassel zusammengestellt:
- Gehen Sie bewusst an neue Orte, um neue Sinneseindrücke und Reize zu erhalten. Das kann ein Ort in der Natur sein, aber auch ein neuer Sport, kulturelle und musikalische Veranstaltungen. Viel Bewegung und Aktivitäten mit Freunden wirken sich positiv aus. Ein Mix aus unterschiedlichen Angeboten ist wichtig für eine angeregte Entwicklung
- Bieten Sie Freizeitgestaltung an, bei denen sich die Kinder ausprobieren können, beispielsweise in einem Verein, im Technischen Hilfswerk, bei den Pfadfindern oder der Feuerwehr. Dort lernen die Kinder ihre Stärken kennen, aber auch, dass sie nicht immer die Hauptperson sind.
- Tragen Sie nicht allzu hohe Erwartungen bezüglich der schulischen Leistungen an die Kinder und Jugendlichen heran. Das würde der aktuellen Situation in der Corona-Zeit nicht gerecht.
- Für Lernen und Spielen sollten die richtigen Momente genutzt werden. Das erfordert Einfühlungsvermögen. Beim Spielen für genügend Bewegung sorgen. Die Pandemie hat Kinder in ihrer Lebendigkeit gebremst.
- Nehmen Sie sich gerade für Kinder täglich rund 30 Minuten Zeit und halten sie diese auch ein. Sie signalisieren Interesse und Wertschätzung, und das Kind lernt, sich auf eine Zusage zu verlassen. Versprochen ist versprochen.
- Nichts stärkt die Resilienz so sehr wie Liebe.
- Geben Sie klare Linien vor, ohne alles zu diskutieren. Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Der vorgegebene Rahmen gibt den Kindern Sicherheit und stabilisiert Bindungen.
- Ermuntern Sie ihr Kind zu sozialen Kontakten im Familien- und Freundeskreis als sichere Orte sowie in Kindergarten und Schule.
Redaktion für das Interview: Ilona Polk, Unternehmenskommunikation Vitos Kurhessen