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Herausforderung Erwachsenwerden

Unsere Arbeit mit jungen Erwachsenen in der Reifungskrise

Das Erwachsenwerden ist eine Herausforderung. Gestern noch konnte man gemütlich über den Schulhof spazieren. Man machte sich höchstens Gedanken, welche Klausuren wohl als nächstes anstehen. Auf einmal gibt es ganz andere Fragen zu klären: Welchen Beruf ergreife ich? Was ist mir überhaupt wichtig? Mit welchem Partner will ich mein Leben verbringen? Wie kann ich mich ohne meine Eltern finanzieren und mich von diesen lösen? Wie suche ich eine eigene Wohnung?

Ein Student sucht Rat beim Hausarzt

Es ist Mittwoch und Thorsten K. (Student, 26) kommt wieder einmal nicht aus dem Bett. Er schläft bis 14 Uhr und sieht auch keinen wirklichen Grund, aufzustehen. Es gäbe zwar eine Vorlesung um 15 Uhr, jedoch besteht dort keine Anwesensheitspflicht. Auf dem Weg zum Bad kommen ihm erste Grübelgedanken: „Was soll ich mit meinem Leben nur anfangen?“, „Ich will nicht in die Vorlesung, ich kann mich doch eh nicht konzentrieren und das passt nicht zu mir“ . Vor einiger Zeit hat er sich halbherzig für ein BWL-Studium eingeschrieben. Die Vorlesungsinhalte machen ihm allerdings keinen Spaß. Seine Eltern machen zusätzlich Druck. Er soll sich eine eigene Wohnung suchen. Aber dazu bräuchte er einen Job. Doch wie soll das gehen? Ist er doch in letzter Zeit immer unkonzentriert, müde und lustlos. Außer vielleicht beim Zocken. Doch das verschafft auch immer nur kurzfristig Ablenkung von dem wiederkehrenden Gedanken, irgendwie insgesamt gescheitert zu sein.

Früher ging Thorsten gerne ins Fitnessstudio und zum Schwimmen, traf sich oft mit seinen Freunden. Er blickte voller Hoffnung in die Zukunft. Aber in letzter Zeit ist die Stimmung immer mehr gekippt. Selbst eine regelmäßigen Körperpflege fällt ihm mittlerweile schwer. Er schaut in den Spiegel und es kommen weitere Gedanken: „Warum kriegen es alle anderen hin, ihren Weg zu gehen, nur ich nicht?“

Thorsten beschließt, nach einigem Zögern, seinen Hausarzt aufzusuchen. Dieser stellt nach einigen Fragen die Verdachtsdiagnose „Depression“. Thorsten fragt sich, was passiert ist. Im Gespräch mit dem Hausarzt wird ihm klar, dass ihn die Aufgaben des Erwachsenwerdens irgendwie überfordert haben, er sich dies aber lange nicht eingestehen wollte.

Was ist eine Adoleszentenkrise?

Viele junge Menschen fühlen sich auf dem Weg zu einer selbstständigen Lebensführung ins kalte Wasser gestoßen. Meistens gelingt nach anfänglicher Anlaufschwierigkeiten am Ende die selbstständige Bewältigung der neuen Anforderungen des Lebens. In manchen Fällen funktioniert das jedoch nicht. Dann kann professionelle Hilfe notwendig sein.

In der psychotherapeutischen Behandlung sehen wir den Übergang in einen neuen Lebensabschnitt wie das Erwachsenenleben immer auch als einen Zeitraum, der viel psychischen Stress auslösen kann. Wenn man anfällig ist für die Entwicklung einer psychischen Störung, kann dieser Stress zu einer Krise führen oder sogar eine psychische Erkrankung wie eine Depression auslösen.

Wie konnte dem Studenten in der psychosomatischen Klinik geholfen werden?

Nach einigen Überlegungen hat sich Thorsten auf Anraten seines Arztes für eine Behandlung auf Station 2 der Vitos Klinik für Psychosomatik Herborn entschieden. Diese Station ist auf Krisen während des Erwachsenwerdens im Alter von 18 bis 30 Jahren spezialisiert. Die Behandlung in der Klinik für Psychosomatik erfordert von den Patienten Eigenverantwortung und eine Veränderungsmotivation. Die jungen Patienten sind in der Lage, aktiv mitzuarbeiten und sich selbst zu reflektieren. Der psychotherapeutische Ansatz steht im Vordergrund des gesamten Geschehens der Behandlung.

In den ersten Tagen seines Aufenthalts war Thorsten vor allem mit dem Zurechtfinden auf Station beschäftigt. Die Mitpatienten erklärten ihm die Abläufe in der Klinik. Sie unterhielten sich mit ihm und gemeinsam unternahmen sie Aktivitäten wie Spazierengehen und Kegeln. Immer mehr dachte er, mit den anderen in einem Boot zu sitzen. Er konnte sich zunehmend öffnen. Dieses Zusammenleben auf Station nennt man Milieutherapie. Gegenseitiges Vertrauen, Schutz und Halt spielen dabei eine große Rolle. Die regelmäßigen Termine fielen Thorsten anfangs teilweise schwer: gemeinsame Mahlzeiten, Morgen- und Abendrunden und dann noch die ganzen Therapien. Da war er aus den vergangenen Monaten einen anderen Tagesablauf gewöhnt. Dennoch merkte er nach einiger Zeit, dass ihm diese in einem individuellen Therapieplan festgehaltenen Regelmäßigkeiten halfen, seinen Alltag wieder besser strukturieren zu können.

In der psychosomatischen Klinik gibt es viele unterschiedliche Angebote, um wieder mehr Sport zu machen (zum Beispiel Nordic Walking oder Wirbelsäulengymnastik). Die ersten Male musste sich Thorsten eher zwingen zum Bewegungsbad zu gehen. Zusammen mit den Mitpatienten machte es ihm aber immer mehr Spaß. Er erinnerte sich daran, wie ihm Schwimmen auch früher Freude bereitet hatte. Auf dem Therapieplan standen außerdem Kunst- und Musiktherapie. Thorsten konnte zum Beispiel Musikinstrumente ausprobieren, um seinen Gedanken und Gefühlen Ausdruck zu verleihen. So war er einmal richtig erleichtert, nachdem er in einer Therapiestunde seinen Ärger „wegtrommeln“ konnte. Das hat aber etwas Zeit gebraucht. Zu Beginn war er eher unsicher: „Kann ich das überhaupt?“ „Was denken wohl die anderen von mir?“ „Ich werde mich doch blamieren!“ Der Zusammenhalt unter den Patienten und der Zuspruch der Therapeuten haben ihm geholfen, Schritt für Schritt mutiger zu werden.

Psychotherapeutischen Gruppentherapien

In psychotherapeutischen Gruppentherapien hat Thorsten viel darüber erfahren, wie seine Depression wahrscheinlich entstanden ist. Auch darüber, wie er mit Symptomen wie Grübeln, Antriebsmangel und Schlafstörungen besser umgehen kann. Es wurde außerdem intensiv darüber gesprochen, dass man beim Erwachsenwerden viele sogenannte Entwicklungsaufgaben hat, die nicht immer so einfach zu bewältigen sind. Thorsten stellte dabei fest, dass er noch Schwierigkeiten hatte, seine berufliche und private Zukunft in die Hand zu nehmen. Für sich selbst und seine Entscheidungen Verantwortung zu übernehmen, seine Gefühle zu steuern und ein stabiles Selbstwertgefühl beziehungsweise eine eigene Identität zu entwickeln, fielen ihm schwer. In den Gruppentherapien, im Problemlöse- und Stressbewältigungstraining, beim Training sozialer Kompetenzen und in der Einzeltherapie mit seinem Bezugstherapeuten entwickelte er langsam Ideen, wie er diese Aufgaben lösen kann. Zum Beispiel die Suche nach einer eigenen Wohnung, die Auswahl interessanter Studienfächer oder den Beitritt zu einem Verein.

Eine Gruppentherapie speziell für junge Erwachsene war EmoRY ® (Emotionale Regulation und Yogatherapie). Hier lernt man, wie man seine eigenen Gefühle (zum Beispiel Angst oder Scham) erkennen, zulassen und ausdrücken kann. Thorsten hat in dieser Therapie außerdem gelernt, Gefühle zu regulieren, wenn sie ein schädliches Verhalten, sogenanntes Risikoverhalten, nach sich ziehen. Beispielsweise stundenlanges Zocken zur Ablenkung. Noch nie zuvor hatte Thorsten bewusst Techniken ausprobiert, um mit seinen Gefühlen besser zurechtzukommen und mehr Ausgeglichenheit und Entspannung zu erleben. Schon kleine Entspannungs-, Atem-, Yoga- und Achtsamkeitsübungen, die in dieser Gruppe angeleitet werden, haben geholfen.

In der Einzeltherapie konnte Thorsten mit seinem Bezugstherapeuten über seine Erfahrungen aus der Vergangenheit, zum Beispiel Enttäuschungen durch Freunde, reden. Er setzte sich damit auseinander, wie diese Erlebnisse sein heutiges Denken und Verhalten geprägt haben. Außerdem überlegte er gemeinsam mit seinem Therapeuten, wie er in Zukunft mit diesen wiederkehrenden Mustern besser umgehen kann. Beispielsweise entschied sich Thorsten dazu, nach der Entlassung einem Schwimmverein beizutreten. Dadurch konnte er mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen: wieder mehr Bewegung, bessere Fitness, Knüpfen neuer Kontakte und mehr Struktur im Alltag.

Am Ende des stationären Aufenthalts konnte Thorsten wieder besser schlafen, hatte wieder mehr Lust, Dinge in Angriff zu nehmen, konnte sich wieder besser konzentrieren und seine Stimmung war aufgehellter. Zwar gab es immer noch Momente, in denen die Stimmung schlechter wurde, aber er hatte Handwerkszeug bekommen, um diese Momente zu begrenzen. Durch die positiven Erfahrungen mit den Mitpatienten, Behandlern und Therapien fasste Thorsten wieder mehr Vertrauen ins sich und andere Menschen. „Am Ball bleiben, sich den Herausforderungen stellen und nicht so schnell unterkriegen lassen.“ war nun sein Motto.