- Vitos Blog - https://blog.vitos.de -

„Ich habe in der Gruppe gelernt, dass ich nicht alleine bin“

Interview mit Prof. Dr. Uwe Gieler

Die Gruppentherapie ist fester Bestandteil der stationären und teilstationären Therapie an der Vitos Klinik für Psychosomatik Gießen. Auf viele Patientinnen und Patienten wirkt die Vorstellung abschreckend, sich fast fremden Menschen zu öffnen. Doch warum ist diese Therapieform eigentlich so nützlich? Wir haben Klinikdirektor Prof. Dr. Uwe Gieler gefragt.

Susanne Richter-Polig: Die Gruppentherapie gehört in Ihrer Klinik fest zum Wochenplan. Wie läuft sie genau ab?

Prof. Gieler: Sie ist ein sehr wichtiger Baustein im Gesamtprogramm einer stationären psychosomatischen Behandlung. Bei uns findet sie dreimal wöchentlich mit 80 Minuten statt. In den Gruppen gibt es jeweils fünf bis neun Menschen, die miteinander besprechen, welche Wege es aus den vorhandenen Problemen oder Krisen gibt. Die Therapeuten spielen dabei ebenfalls eine wesentliche Rolle. Sie achten darauf, dass jeder einen Beitrag liefern kann. Sie geben Sachinformationen weiter und greifen emotionale Reaktionen auf. Sie greifen auch ein, wenn Probleme zu viel werden oder offensichtlich dem Miteinander mehr schaden als nutzen. Die Therapeuten bieten hierbei auch die Chance, beispielhaft für eine elternähnliche Figur angesehen zu werden. Die Teilnehmer können sich mit dieser Figur dann im Rahmen der Gruppe auseinandersetzen.

Susanne Richter-Polig: Die Vorstellung, vor anderen Menschen über seine innersten Gefühle und Gedanken zu sprechen, wirkt auf viele abschreckend. Ist diese Therapieform denn für jeden geeignet?

Prof. Gieler: Ja, die Vorstellung, sich mit zunächst fremden Menschen über sehr persönliche Dinge auszutauschen, erscheint fast allen am Anfang etwas abschreckend. Es gibt aber lange Erfahrungen damit. Die Gruppentherapie wurde schon circa 1905 im Rahmen der Tuberkulose-Behandlung eingeführt und in den 1960er Jahren für die Psychotherapie entwickelt und erforscht. Diese Erfahrungen zeigen, dass sie fast immer sehr geeignet ist und alle davon profitieren. Die Gruppe hat klare Vorteile. Man kann erfahren, dass andere Menschen ähnliche Probleme und Schwierigkeiten haben, wie man selbst. Außerdem werden zum Beispiel Beziehungsprobleme oft viel besser verstanden, wenn man auf Menschen trifft, die eher die Partnerin/den Partner repräsentieren und es einem so ermöglichen, eigene Gedanken und Gefühle von denen des Gegenübers zu unterscheiden. Der Austausch in der Gruppe teilt das Leid und macht es erträglicher. Außerdem entwickeln mehrere Köpfe eher gute Lösungen als einer alleine. Insofern ist die Gruppentherapie praktisch für fast jeden geeignet. Es gibt Einzelne, für die sie nicht ratsam sein kann – zum Beispiel für manche Menschen mit schweren Traumaerfahrungen. Das bleibt aber erfahrungsgemäß eine große Ausnahme.

Susanne Richter-Polig: Was nehmen die Patientinnen und Patienten Positives aus der Therapie mit?

Prof. Gieler: „Ich habe in der Gruppe gelernt, dass ich nicht alleine mit meinen Problemen bin. Ich konnte die Erfahrungen und Empfehlungen von Anderen für mich nutzen und zulassen, dass Menschen mich mögen. Die Vertrauensatmosphäre der Gruppe ließ mich mein Selbstwertgefühl verbessern und ich gehe mit Zuversicht wieder in meinen Alltag.“ Das sagte eine Patientin jüngst zum Abschied aus der Gruppe kurz vor ihrer Entlassung von der Station. Nach anfänglichen Zweifeln hatte sie erlebt, dass sie ihre Verhaltensmuster in der Gruppe auch durch andere Mitpatientinnen zurückgemeldet bekam. Sie konnte erleben, wie sich Probleme wie die ihren bei anderen anfühlen und von außen betrachtet wirken. Deshalb ist die Gruppentherapie meist unersetzlich. Hier lassen sich Interaktionen mit anderen Menschen zielgerecht erarbeiten. Man kann sich durch die Vertrautheit, die verabredete Schweigepflicht nach außen und den grundsätzlichen Respekt voreinander anderen öffnen und sich selbst in diesen Interaktionen erleben. So kann man auch ungewohnte Verhaltensmuster bei sich ausprobieren und zulassen. Das alles ist nur durch das Einlassen in eine Gruppentherapie möglich. Es kann zwar in einer Selbsthilfegruppe teilweise fortgeführt werden, aber die fachliche Kompetenz der Gruppentherapeutin oder des Gruppentherapeuten kann dort nicht wirklich ersetzt werden.

Titelfoto: Hannah Lebershausen

Klinikdirektor Prof. Dr. Uwe Gieler