„Inklusive Medizin braucht Teamwork“

„Inklusive Medizin braucht Teamwork“

Ein Blick hinter die Kulissen des Symposiums zu Teilhabe und psychiatrischer Versorgung von Menschen mit Intelligenzminderung

Was braucht es, damit Menschen mit Intelligenzminderung die psychiatrische Hilfe erhalten, die sie wirklich benötigen? Beim gemeinsamen Symposium von Vitos Teilhabe und der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Hadamar wurde deutlich: Es braucht mehr Kooperation, gemeinsame Sprache – und den festen Willen, Barrieren zu überwinden.

Interview mit Prof. Dr. Christoph Fehr, Klinikdirektor Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Hadamar und Jens Mengel-Vornhagen, Regionalleiter Vitos Behindertenhilfe Region Haina-Bad Emstal. Zwei Perspektiven, ein Ziel.

Welche Herausforderungen gib es für Menschen mit Intelligenzminderung hinsichtlich medizinischer Angebote insbesondere in der Psychiatrie?

Prof. Dr. Christoph Fehr: Eine zentrale Herausforderung ist, dass viele Menschen mit Intelligenzminderung Schwierigkeiten haben, ihre Beschwerden mitzuteilen. Komplexe körperliche und psychische Erkrankungen bleiben dadurch oft unerkannt. Der Einweisungsanlass ist dann häufig sogenanntes herausforderndes Verhalten, dem im Alltag nicht mehr begegnet werden kann. In Krisensituationen fehlen uns oft Vorinformationen, die für eine adäquate Einschätzung wichtig wären.

Jens Mengel-Vornhagen: Menschen mit Intelligenzminderung stoßen vielfach auf Barrieren beim Zugang zur medizinischen Versorgung. Das betrifft sowohl die Kommunikation, als auch das Verständnis für ihre individuellen Lebenslagen. Im psychiatrischen Bereich fehlen oft passgenaue, niedrigschwellige Angebote, die auf die kognitiven und emotionalen Voraussetzungen der Betroffenen abgestimmt sind. Das führt dazu, dass diese Klientengruppe im Schnitt kürzer behandelt wird und mehr Medikamente, aber weniger Therapie erhält als Menschen ohne Intelligenzminderung.

Was bedeutet inklusive Medizin für Menschen mit Intelligenzminderung?

Prof. Dr. Christoph Fehr: Inklusive Medizin bedeutet für mich, dass Menschen mit Intelligenzminderung denselben Zugang zu Diagnostik und Therapie erhalten wie alle anderen. Die Befunderhebung ist oft aufwendiger und erfordert auch umfangreiche Zusatzuntersuchungen, aber das darf kein Hindernis sein.

Jens Mengel-Vornhagen: Es geht um medizinische Versorgung auf Augenhöhe. Dazu zählen barrierefreie Kommunikation, die enge Zusammenarbeit aller beteiligten Berufsgruppen, die Einbindung von vertrauten Bezugspersonen und ein Verständnis für das unterschiedliche körperliche, geistige und emotionale Entwicklungsniveau der Menschen mit Intelligenzminderung. Ziel ist eine gleichberechtigte Teilhabe am Gesundheitssystem.

Gibt es psychische Störungen, die bei Menschen mit Intelligenzminderung besonders häufig vorkommen? Gibt es besondere Symptome?

Prof. Dr. Christoph Fehr: Es treten nahezu alle Formen psychischer Erkrankungen bei Menschen mit Intelligenzminderung auf, die wir auch bei anderen Menschen sehen.

Eine besondere Herausforderung stellen Autismusspektrumsstörungen oder auch hyperaktives und impulsives Verhalten im Rahmen eines ADHS in der Behandlung dar. Oft beobachten wir auch Depressionen und Angststörungen.

Was ist bei der Diagnostik von psychischen Störungen bei Menschen mit Intelligenzminderung zu beachten?

Prof. Dr. Christoph Fehr: Eine sorgfältige körperliche und psychiatrische Untersuchung ist essentiell. Dabei sollten immer auch Bezugspersonen einbezogen werden. Vorhandene Vorbefunde sollten angefordert und genau gesichtet werden. Bei sogenannten genetischen Syndromen ist es wichtig, anhand von Datenbankrecherchen auf bereits vorhandenes Wissen zurückgreifen.

Auch standardisierte Tests zur Ermittlung des kognitiven und emotionalen Entwicklungsstandes sind wertvoll. Das hilft auch der Planung der Therapie.

Wie gestaltet sich der Zusammenarbeit zwischen Psychiatrie und Teilhabe?

Prof. Dr. Christoph Fehr: Es gibt eine enge Zusammenarbeit zwischen der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie und der Teilhabe. Ärztliche und pflegerische Mitarbeiter/-innen der psychiatrischen Ambulanz besuchen aufsuchend die Wohn- und Tagesbetreuung der Teilhabe. In Krisensituationen werden Bewohner und Bewohnerinnen der Teilhabe intensiviert behandelt. Das kann in Form einer sogenannten aufsuchenden stationsäquivalenten Behandlung erfolgen oder aber auch im Rahmen einer stationären Krisenintervention.

Die Teilhabe ihrerseits betreut längerfristig Patienten die an einer Intelligenzminderung leiden und bisher keinen Zugang zur Teilhabe am Wohnen, sozialen und Arbeitsleben haben. Es besteht eine Regelkommunikation zwischen verschiedenen Mitarbeitenden der Teilhabe und der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie.

Jens Mengel-Vornhagen: In vielen Fällen funktioniert die Zusammenarbeit bereits gut – vor allem, wenn auf beiden Seiten ein Bewusstsein für die Besonderheiten besteht. Bei Vitos profitieren wir davon, dass Eingliederungshilfe und Klinikangebote unter einem Trägerdach agieren. Dennoch gibt es Verbesserungspotenzial – zum Beispiel bei der gemeinsamen Gestaltung der Übergänge, bei der Abstimmung von Behandlungszielen und deren Transfer in das Wohnsetting. Gemeinsame Fortbildungen, etwa in Form von Kasuistiken, könnten hier viel bewirken.

Was sind die größten Herausforderungen?

Prof. Dr. Christoph Fehr: Die Bewältigung von akuten Krisensituationen ist oft die größte Hürde. Was machen wir, wenn der Bewohner sich plötzlich aggressiv verhält und die gewohnten Betreuungsmechanismen nicht mehr greifen? Dann muss eine sorgfältige Untersuchung erfolgen und gegebenenfalls auch eine stationäre Krisenintervention. Im Krankenhaus muss auf die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Intelligenzminderung Rücksicht genommen werden.

Jens Mengel-Vornhagen: Grundsätzlich gilt es, zwischen Psychiatrie und Teilhabe mehr miteinander als übereinander zu sprechen, auch wenn oft die nötige Zeit dafür auf beiden Seiten fehlt. Multiprofessionelle Zusammenarbeit auf Augenhöhe und Zusammenführung der psychiatrischen und heilpädagogischen Expertise zum Wohle der Klientinnen und Klienten lautet die Erfolgsformel. Sobald wir das tun, profitieren die betroffenen Menschen mit Intelligenzminderung unmittelbar.

Wie könnte das ideale Behandlungsszenario für den/die Klient/-in aussehen?

Prof. Dr. Christoph Fehr: Eine optimale Versorgung wäre eine gemeinsame Betreuung der Klientin / des Klienten im Rahmen einer spezialisierten Sprechstunde in der psychiatrischen Ambulanz sowie in der Vitos Teilhabe. Daneben eine enge Zusammenarbeit mit einem Allgemeinmediziner, der den Patienten somatisch betreut. Bei speziellen diagnostischen Fragestellungen wird der psychologische Dienst der Institutsambulanz hinzugezogen.

Jens Mengel-Vornhagen: Das ideale Szenario beginnt mit einer vertrauensvollen Begleitung durch die Eingliederungshilfe, die eng mit medizinischen Angeboten vernetzt ist. Bereits im Vorfeld einer Behandlung sind die Bedarfe und Besonderheiten der Klientin oder des Klienten bekannt – zum Beispiel durch gemeinsame Gespräche oder eine abgestimmte Aufnahmeplanung. Während des Klinikaufenthalts bleibt der Kontakt zur bekannten Betreuung erhalten, Übergänge sind gut vorbereitet. Nach der Behandlung gibt es eine verlässliche Nachsorge, die von beiden Seiten getragen wird.

Wie ließe sich die Zusammenarbeit zwischen Psychiatrie und Teilhabe langfristig optimal gestalten?

Prof. Dr. Christoph Fehr: Von Seiten der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie sollte eine aufsuchende Spezialsprechstunde für Menschen mit Intelligenzminderung angeboten werden. Gemeinsame Fortbildungen und Fallkonferenzen können dazu dienen, das Fachwissen zu verbessern. Wechselseitige Hospitationen helfen für den Perspektivwechsel und verbessern die Umsetzung des Wissens in den Alltag.

Jens Mengel-Vornhagen: Langfristig braucht es feste Strukturen der Kooperation – etwa regelmäßige interdisziplinäre Fallkonferenzen, wechselseitige Hospitationen, gemeinsame Fortbildungen und klare Ansprechpersonen. Entscheidend ist auch, dass beide Systeme ihre jeweiligen Perspektiven wertschätzen und voneinander lernen. Ein gemeinsames Pilotprojekt, wie es aktuell in der Diskussion ist, könnte hier ein wichtiger Baustein sein, um neue Modelle für noch besser gelingende Zusammenarbeit zu erproben.

Autor/-in
Vitos Blog