Interview mit Bewegungs- und Tanztherapeutin Birgit Kretzschmar
Wir treffen uns mit der Tanz- und Bewegungstherapeutin Birgit Kretzschmar an ihrer Wirkungsstätte. Tanzen und sich zu Musik zu bewegen klingt zunächst einmal nach jeder Menge Spaß. Aber das ist sicher nicht alles. Wir sind neugierig: Was kann diese körperorientierte Therapieform bewirken?
Sie sind Tanz- und Bewegungstherapeutin. Was ist Ihr Hintergrund? Wie kamen Sie zu diesem Beruf?
Kretzschmar: Angefangen habe ich hier als Sport- und Gymnastiklehrerin. Berufsbegleitend habe ich dann eine Ausbildung zur Tanz- und Bewegungstherapeutin gemacht. Die Tanztherapie ist eine anerkannte Körperpsychotherapie mit mindestens 100 Stunden Eigentherapie. Später habe ich meine Ausbildungen noch um ein Studium der Gesundheitswissenschaften ergänzt, das ich mit einem Bachelor abschloss.
Welche Patienten sind in Ihren Gruppen? Und welche Gruppen leiten Sie an?
Kretzschmar: Die Gruppen sind sehr gemischt, sowohl was das Alter und das Geschlecht als auch die Erkrankung angeht. Manche leiden unter Schmerzen, für die es keinen organischen Befund gibt. Alle Körperbereiche, ob Herz, Magen oder Gelenke, können betroffen sein. Andere haben Ängste, Depressionen oder Essstörungen.
Ich leite vier Gruppen an. Zum einen gibt es die Yoga-Gruppe. Hier erleben die Teilnehmenden ihren Körper in Bewegung. Sie spüren die Veränderungen unmittelbar, die die Bewegung ihrem Körper bringt. Zum anderen leite ich eine Achtsamkeitsgruppe. In Anlehnung an die wissenschaftlich anerkannte MBSR-Methode (Mindfulness-Based Stress Reduction) von Jon-Kabat Zinn lernen die Gruppenmitglieder ein Bewusstsein für den eigenen Körper, den Atem und die oft so störenden Gedanken zu entwickeln. Sie erleben, dass sie ihre Gedanken selbst beeinflussen und bewusst unterbrechen können. Wichtig ist mir dabei, dass sie erkennen: es geht nicht um Ablenkung. Das wäre ein rein passives Geschehen, wie zum Beispiel beim Fernsehen. Selbst etwas zu kochen, dem Geschmack auf der Zunge nachzuspüren oder beim Duschen die Tropfen auf der Haut zu fühlen, ist dagegen ein aktiver Vorgang. Und den können sie selbst auslösen. Ich sehe es als meine Aufgabe, die Patientinnen und Patienten in der Achtsamkeit zu schulen. Darüber hinaus biete ich Entspannungsverfahren sowie körperpsychotherapeutisch ausgerichtete Tanz- und Bewegungsstunden an. Für Patienten, die weitere Bewegungsmethoden ausprobieren möchten, gibt es das Angebot meiner Kollegin Nadine Laur, einer speziell ausgebildeten Motologin.
Was machen die Gruppenteilnehmer nun konkret in der Tanz- und Bewegungstherapie? Lernen sie Paartanz? Oder bestimmte Schritte?
Kretzschmar: Viele Patienten stellen mir ähnliche Fragen. Sie haben Angst, sich zu blamieren und sind gehemmt. Sie sagen, dass sie nicht tanzen können. Ich antworte ihnen dann: „Jeder Mensch kann tanzen.“ Der Tanz ist etwas Natürliches, er ist in uns. Alle Körperprozesse passieren rhythmisch. Der gesamte Körper besteht aus Rhythmen: das Herz, die Lunge, die Zellen. Wir werden mit Rhythmen geboren.
Ich führe die Teilnehmenden behutsam an den Tanz heran. Zum Beispiel, indem ich die Patienten bitte durch den Raum zu gehen. Dabei können sie erst einmal den Kontakt zum Boden wahrnehmen. Dann gehen sie zur Musik, probieren verschiedene Gangformen aus, gehen in Schlangenlinien oder rückwärts. So lernen sie den Raum kennen, was ihnen Sicherheit gibt. Wenn wir über den Boden gehen ist das vertraut und Halt gebend. Wie ein Baum bauen wir das Gleichgewicht von unten her auf.
Okay, das leuchtet ein. Was kommt nach dem Gehen?
Kretzschmar: Neben den Füßen und Beinen sind ja noch weitere Körperpartien beim Tanzen beteiligt: die Hüften, der Rumpf, die Arme, die Hände, die Schultern, der Hals und der Kopf. Alle Körperteile werden durchbewegt und so bewusstgemacht. So können sich thematische Schwerpunkte entwickeln. Das Thema Aggression beispielsweise lässt sich körperlich gut durch Kratzen, Boxen, Stechen oder Treten erleben, ausdrücken und situativ einordnen. Um klar zu machen, was Miteinandersein bedeutet, lasse ich die Patienten in Kontakt gehen. Zum Beispiel durch gemeinsame Ballspiele. Bälle zu werfen und zu fangen ist ein sichtbarer Ausdruck für Geben und Nehmen.
All das ist Bewegung.
Gerne setze ich auch eine tanztherapeutische Methode, den Chace-Kreis ein. Dabei bilden die Patienten einen Kreis und bewegen sich zur Musik. In meiner Rolle als Therapeutin greife ich die eine oder andere Bewegung auf. Zum Beispiel eine schöne Armhaltung, eine Bewegung der Hände, ein schwungvolles Hüftkreisen oder ein kraftvolles Stampfen. Eventuell benenne ich die Bewegung und rege an, diese zu vergrößern, zu verkleinern oder zu verändern. So machen wir übergeordnete Themen wie Kraft, Dynamik, Eleganz, Stolz oder Würde sichtbar.
Leider ist der Tanz nicht mehr selbstverständlicher Bestandteil unserer Kultur in Deutschland. In Ländern wie Spanien, der Türkei oder Griechenland sieht es anders aus. Die Spanier haben ihren Flamenco, die Türken und Griechen ihre rituellen Kreistänze. Durch die Tanzmusik überwinden wir mit Leichtigkeit kultureller Schranken. Wenn ein Mann mit türkischen oder griechischen Wurzeln die Musik seines Herkunftslandes auflegt und dazu tanzt, können plötzlich auch die Männer tanzen.
Ein wichtiges Kontaktmedium ist auch das absichtslose Spiel, mit dem wir neue Patienten in die Gruppe integrieren. Wenn wir spielen, wie wir früher als Kinder gespielt haben, sind wir ganz bei uns, voll konzentriert und in den Moment versunken. Unsere Gefühle können wir dabei hervorragend zum Ausdruck bringen.
Wie groß sind die Gruppen? Und gibt es die Tanz- und Bewegungstherapie auch im Einzelsetting?
Kretzschmar: Aktuell müssen wir die Gruppengröße auf sechs Patienten reduzieren, um den nötigen Abstand einhalten zu können. In unseren großzügigen Räumen ist das aber problemlos möglich.
Die Patienten haben auch die Möglichkeit Einzeltherapien zu nutzen. Wenn der Wunsch besteht, spreche ich das beim Bezugstherapeuten an. Die Einzeltherapie eignet sich gut, um individuelle Themen intensiver zu bearbeiten, zumal sie einen schützenden Rahmen bietet.
Die Bewegungs- und Tanztherapie ist ein Bestandteil der gesamten Therapie. Sprechen Sie mit anderen Therapeuten und Ärzten über die Patienten?
Kretzschmar: Wir haben regelmäßige Teamsitzungen mit den Ärzten, den psychologischen und ärztlichen Psychotherapeuten, den Musik-, Ergo- und Kunsttherapeuten. Jede Entwicklung und Veränderung wird schriftlich dokumentiert. Manchmal finde ich es schade, dass Bewegungen so flüchtig sind. Wir haben es mit Momentaufnahmen zu tun. In der Kunsttherapie oder der freien Kunst ist das anders. Die Veränderung bleibt sichtbar, sie ist festgehalten. Dennoch ist im Körpergedächtnis jede Erfahrung verankert. Und ich nehme die Veränderung der Patienten während der Therapie deutlich wahr.
Was können die Menschen über ihren Klinikaufenthalt hinaus von der Tanz- und Bewegungstherapie in ihren Alltag für sich mitnehmen?
Kretzschmar: Beim Abschlussgespräch frage ich genau das. Manche betonen dann, dass sie Freude an der Gemeinschaft mit anderen gewonnen haben. Andere nehmen sich vor, wieder häufiger tanzen zu gehen oder sich einer Yoga-Gruppe anzuschließen. Einige freuen sich schlicht darüber, sich wieder mehr bewegt zu haben. Sie fühlen sich stabiler und empfinden mehr Lebensfreude. Der Tanz kann helfen, Zusammenhänge zu erkennen und sorgsamer mit der eigenen Energie umzugehen.
Manche erkennen, wie sehr sie sich immer angestrengt haben und wie kräftezehrend das für sie ist. Mühe und Anstrengung sind zur Normalität geworden. Normalität kann aber anders aussehen. Leichtigkeit ist für den Organismus viel gesünder. Bei uns lernen die Patienten ihren Körper besser kennen. Sie entdecken seine Ausdrucksmöglichkeiten und erfahren, wie Körper und Psyche zusammenhängen.
Was kann die Tanz- und Bewegungstherapie in Ergänzung zur Psychotherapie bewirken?
Kretzschmar: Manchen Menschen fällt es schwer, ihre inneren Blockaden im Gespräch zu überwinden. Sie finden den Zugang leichter über den Körper. Ich lasse sie zum Beispiel für jedes ihrer Probleme ein Material aussuchen und damit experimentieren. Oder ich drehe das Ganze um und gehe weg von der Problemorientierung hin zur Lösungsorientierung: Was funktioniert in Ihrem Leben? Dann legen Patienten zum Beispiel ein Meditationskissen als Symbol für ihren Hund vor sich, eine Decke für den Vater und einen Yogablock für die eigene Wohnung. Diese Gegenstände sind be-greifbar, sie sind sichtbar und nehmen Raum ein. Den Patienten wird dann bewusst, wie viel Gutes sie in ihrem Leben haben.
Wieso sprechen Sie dann überhaupt in der Tanz- und Bewegungstherapie?
Kretzschmar: Tanztherapie – eine Therapie ohne Worte? Nein, das geht nicht. Die Sprache der Tanztherapie ist eng verknüpft mit der Wahrnehmung von Bewegung, Körpergeschehen und Sinneserleben. Die Tanz- und Bewegungstherapie (TBT) nutzt den „doppelten Sinn des Wortes“.
Ich arbeite deshalb sehr gerne mit körperorientierten Sprichwörtern oder Redewendungen. Ich lasse die Patienten welche finden oder biete sie selbst an. Dann experimentieren wir damit. Beispiele gibt es viele. Jeder kennt Redewendungen wie „Mir schnürt es den Hals zu.“, „Ich verliere den Boden unter den Füßen“ oder „Es bricht mir das Herz.“ Sprichwörter und Redewendungen liefern uns eindeutige Orte im Körper: Hals, Füße, Herz.
Gemeinsam mit den Patienten gehe ich dann in die Verkörperung. Im Fachjargon nennen wir das Embodiment. Wir beobachten, was im Körper passiert und wo. Fallen uns vielleicht passende Ereignisse zum Sprichwort ein? Über diesen Prozess lernen die Patienten, den Transfer vom Körper zur Psyche zu leisten und finden so meist zu einer kreativen Lösung.
Zur Person: Birgit Kretzschmar arbeitet seit 35 Jahren bei Vitos Rheingau.
An ihrer Tätigkeit bei Vitos schätzt sie vor allem die tolle Zusammenarbeit mit ihren Fachkolleg/innen und die Vernetzung zu anderen Berufsgruppen. Die Arbeit mit unterschiedlichen Patient/innen, die sie über einen längeren Zeitraum begleitet, mag sie sehr. An der psychosomatischen Fachrichtung gefällt ihr, dass sie nach den Ursachen und Zusammenhängen der Erkrankung fragt.
Bildquelle: Vitos
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