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Kinder und Jugendliche brauchen Nähe

Psychiatrische Pflege lebt auch in Zeiten der Pandemie von der Beziehungsgestaltung

Die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Kinder und Jugendliche haben wir im Vitos Blog [1] bereits beleuchtet. Heute schauen wir auf unsere Kolleg/-innen. Was bedeutet diese Situation für die stationäre Pflege in einer psychiatrischen Klinik für Kinder und Jugendliche? Was bedeutet dies als Kinder- und Jugendpsychotherapeut/-in in der Ambulanz? Welche Herausforderungen hält Corona für die Kolleginnen und Kollegen bereit? Unsere beiden Kolleginnen in Riedstadt erzählen uns, wie sie den Alltag in ihren Arbeitsfeldern erleben.

Wer die Station ansteuert, fühlt sich zunächst wie in den Ferien auf dem Bauernhof. Umgeben von Feldern geht es vorbei am Gehege der Esel, Pferde und Ziegen. Links und rechts des Weges stehen Bungalows, dazwischen Spielgeräte und Klettergerüste. Es ist ein entspannendes, ruhiges Umfeld für die Erkrankten. Direkt am Eingang begrüßt Natasa Dinic-Dukic die Patienten. Sie ist leitende Pflegekraft auf Station 5 in der Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Riedstadt [2]. Unter ihrer FFP2 Maske erkennt man ein Strahlen, die Augen funkeln geradezu.

Wir begleiten junge Menschen in psychisch schwierigen Lebensphasen
Leitende Pflegekraft Natasa Dinic-Dukic

Leitende Pflegekraft Natasa Dinic-Dukic

Ich begleite mit meinen 15 Pflegemitarbeiterinnen und -mitarbeitern die jungen Patient/-innen im Alter von zwölf bis 17 Jahren mit schweren seelischen Erkrankungen. Das alles unter Berücksichtigung der Besonderheiten im Übergang von der Adoleszenz in das Erwachsenenalter. Mit Beginn der Pubertät verstärken sich psychische Erkrankungen oftmals dramatisch. Dies führt gemeinsam mit den psychischen und körperlichen Veränderungen der Pubertät dann zu heftigen Verhaltensweisen. Das können Selbstverletzungen sein, Drogenmissbrauch und im Extremfall auch Suzidgedanken. Hier setzt die Arbeit auf der Station an.

Die Pflege auf einer psychiatrischen Station gestaltet sich anders als auf einer Station eines Allgemeinkrankenhauses. Wir begleiten junge Menschen in psychisch schwierigen Lebensphasen. Wir sind in der Klinik deren erster Ansprechpartner. Psychiatrische Pflege lebt von der Beziehungsgestaltung zu den Patienten. Die Aufgabe ist es, herauszufinden, warum der Jugendliche gerade so handelt und einen Weg zu finden, dies zu verändern. Meine Kolleg/-innen und ich verbringen viel Zeit mit den Patient/-innen. Wir gehen auch mal mit ihnen einkaufen oder machen einen Ausflug ins Vivarium, gehen joggen und sind für die Zeit des Aufenthaltes ein kleines bisschen Familie. Die Kinder und Jugendliche benötigen eine feste Bezugsperson, denn sie sind fernab der eigenen Familie und ihrem gewohnten Umfeld und dies über viele Wochen.

Viele psychische Erkrankte benötigen die Unterstützung Angehöriger, Freunde und der medizinischen Ansprechpartner. Sie benötigen Nähe. Gerade Heranwachsende müssen sich einerseits zu ihrer Familie abgrenzen, sich mit anderen Erwachsenen und Gleichaltrigen austauschen können und benötigen die Familie anderseits als Stütze. Ein Spagat, der sich in der Pandemie als noch schwieriger gestaltet. Besuchsverbote, Kontaktbegrenzungen und Abstandsgebote legen hier häufig Steine in den Weg. Die Elterngruppen können seit März 2020 nicht mehr stattfinden, viele andere Angebote und Austauschmöglichkeiten sind weggefallen, was in der Kommunikation und in der Behandlung eine echte Herausforderung darstellt.

Kreative Lösungen sind gefragt

Wir sind seit Start der Pandemie sehr kreativ geworden. Mein Team setzt sich jeden Tag dafür ein, unseren Patientinnen und Patienten auch unter diesen Bedingungen die bestmögliche Versorgung zu geben. Wir haben daher die Station und die Tagesabläufe verändert, um alle Hygienemaßnahmen umzusetzen und die Behandlungen mit so wenig Veränderung wie möglich für die Patienten zu gestalten. Was erst mal nicht zu kompliziert klingt, wird deutlich, wenn man sich die Berufsgruppen anschaut, die hier zusammenspielen – angefangen bei Pfleger/-innen, Erzieher/-innen, Ärzt/-innen, Psycholog/-innen, Ergotherapeut/-innen, Mototherapeut/-innen, Therapeut/-innen für die tiergestützte Therapie, Sozialarbeiter/-innen und Lehrer/-innen. Auch die Kontaktpflege mit den Angehörigen mussten wir integrieren.

Der Zusammenhalt im Team hat uns sehr geholfen

Wir sind selbst überrascht, wie kreativ und flexibel wir alle, aber auch die Jugendlichen und deren Angehörige mit aktuellen Hindernissen umgehen. Räume wurden in kürzester Zeit umstrukturiert, Ein- und Ausgänge neu koordiniert, Gruppen verändert. Ein wichtiger Baustein war auch der von allen Seiten unkomplizierte Umgang mit dem Tragen der Masken und auch den Corona-Test. Alles, um das Risiko einer Erkrankung so gering wie möglich zu halten und um mit den Patient/-innen und deren Angehörigen weiterhin intensiv arbeiten zu können. Was uns dabei geholfen hat, ist unser besonderer Teamzusammenhalt, auch über die Berufsgruppe der Pflege hinaus. Wir sind in dieser so schwierigen Zeit noch enger zusammengewachsen und wir achten und schätzen uns alle sehr.

Ein wertschätzender Job mit langfristiger Perspektive

Gedanken mache ich mir darüber, dass es in diesen Zeiten immer schwieriger ist, qualifizierte, neue Kollegen und Kolleginnen zu gewinnen. Die Corona Krise führt zu einem deutlichen Rückgang bei Bewerbern auf offene Stellen. Einerseits verzichten viele Menschen aktuell auf einen Jobwechsel, andererseits bleibt der Bedarf im Gesundheitswesen konstant hoch. Wir spüren die Zurückhaltung, obwohl es gerade bei uns ein wertschätzender Job mit langfristiger Perspektive ist. Unser Arbeitgeber unterstützt uns sehr, beispielsweise durch Reflexions- und Unterstützungsangebote, wie Supervision und Einzelcoaching, die bei Vitos bereits lange vor der Pandemie fest etabliert waren. Jederzeit haben Kolleg/-innen und Vorgesetzte ein offenes Ohr für die Belange. Das alles geben wir auch an die jugendlichen Patient/-innen weiter. Unsere Grundeinstellung ist: „Behandle deine Patienten so wie Du möchtest, dass Deine Schwester oder beste Freundin behandelt wird.“ Einen Jugendlichen wieder lächeln zu sehen, der sich am Tag der Aufnahme perspektivlos gefühlt hat, macht für mich den Beruf so erfüllend und lässt mich auch unter Pandemiebedingungen mein Funkeln in den Augen nicht verlieren.

In der Vitos Kinder- und Jugendambulanz für psychische Gesundheit Höchst im Odenwald sind die Kolleginnen und Kollegen ähnlich kreativ und motiviert. „Mein Kind wird immer stiller und redet nicht mehr“. Solche Sätze hören die Kolleg/-innen dort, wenn das Telefon klingelt. Und das Telefon klingelt in der Pandemie häufiger. Nicht nur Erwachsene haben Sorgen, leiden vermehrt unter den Folgen der Einsamkeit und den fehlenden sozialen Kontakten. Gerade für Kinder und Jugendliche in ihrer abhängigen Position innerhalb von Familie und Schule nimmt die Belastung stetig zu. Vielfältige Gründe führen dazu, dass Eltern, Ärzte und Ärztinnen oder Erzieher/-innen und Lehrer/-innen die Kontaktaufnahme zu einer psychiatrischen Ambulanz empfehlen. Hier werden die jungen Patienten und Patientinnen mit psychischen Erkrankungen von einem Team aus Kinder- und Jugendpsychotherapeuten, Ärzten und Psychologen, betreut, die aus unterschiedlichen Gründen niedergelassene Psychiater und Psychotherapeuten nicht aufsuchen können. Hier finden sie Hilfe. Zum Beispiel bei Vera Heselhaus, Jugendlichenpsychotherapeutin und Leiterin der Vitos Kinder- und Jugendambulanz für psychische Gesundheit Höchst im Odenwald.

Eine vielseitige Arbeit
Jugendlichenpsychotherapeutin Vera Heselhaus

Jugendlichenpsychotherapeutin Vera Heselhaus

Meine Arbeit ist sehr vielseitig. Patientenkontakte, Elterngespräche, Diagnostiktermine und Helferkonferenzen wechseln sich ab mit Teambesprechungen, Austausch mit stationären Kolleg/-innen und Telefonate mit dem Jugendamt und auch Schulen und Kitas. Eine zusätzliche Herausforderung ist es, dies alles unter den Bedingungen der Pandemie zu gestalten. Wir haben gemeinsam schnell Lösungen gefunden, um den Patient/-innen auch weiterhin nah sein zu können und den notwendigen Halt zu geben. Auch bei uns galt es alle Hygienemaßnahmen umzusetzen und dennoch die Behandlungen mit so wenig Veränderung wie möglich für die Patienten und Patientinnen umzusetzen. Dafür setzen wir beispielweise vermehrt videobasierter Therapie ein.

Familien sind sehr belastet

Wir erleben, dass Familien sehr verzweifelt und belastet sind. Umso schöner ist es, helfen zu können und die Offenheit und Aufnahmebereitschaft von den kleinen und größeren Patient/-innen zu erleben. Die Erkrankungen sind ebenso vielfältig wie die Aufgaben. Zu mir kommen Patient/-innen mit ADHS, selbstverletzendem Verhalten, Depressionen, Essstörungen, Ängsten und vielen mehr. Manche Patient/-innen stellen sich erstmalig vor, andere haben bereits einen langen Leidensweg hinter sich. Manche Familien werden von Einweisern geschickt ohne, dass sie selbst verstehen, wieso. Andere suchen aus eigener Motivation den fachkundigen Rat. Manche Patient/-innen kommen jahrelang, andere nur einmal. Manche Patient/-innen benötigen eine Beratung hinsichtlich eines konkreten psychischen Beschwerdebildes, andere eine umfassende Diagnostik und das Einschätzen des Krankheitsbildes. Wieder andere brauchen eine sofortige Krisenintervention.

Herausfinden, was dem Patienten oder der Patientin hilft

Eine ambulante kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung ist anders als eine Knieoperation, deren Diagnose rasch erstellt ist und einen Einweisungsschein in eine Klinik zu Folge hat. Der Patient ruft dann im Krankenhaus an, um einen Termin zu vereinbaren. Bei mir rufen Mütter und Väter und Jugendliche an, die vielleicht noch gar keinen Arzt haben, die verzweifelt sind. Hier gilt es zunächst einmal die Situation zu erfassen und herauszufinden, was dem Patienten hilft.

Mein Tagesablauf ist auch in der Pandemie anspruchsvoll. Morgens habe ich zwei Patientengespräche. Anschließend findet eine Helferkonferenz statt, bei der gemeinsam mit der Familie überlegt wird, wie diese in der Erziehung und Durchsetzung von Regeln unterstützt werden kann. Am späten Vormittag ist meine Bürozeit, in der ich zum Beispiel Berichte diktiere oder eine Teambesprechung vorbereite. Hier geben wir uns auch gegenseitig Unterstützung, denn der Arbeitsalltag kann durchaus herausfordernd sein.

Was die Patient/-innen benötigen, ist Halt und Nähe. Doch Besuchsverbot, Kontaktbegrenzungen und Abstand machen diese Hilfe häufig unmöglich. Die Angehörigen sind selbst betroffen von der Krankheit der Kinder. Zusätzlich leiden sie natürlich auch unter der allgemeinen Pandemiesituation und der Isolation. Unser gesamtes Ambulanzteam hat von Beginn der Pandemie an seine Arbeitsweise den Bedingungen angepasst. Telefonate und Online-Meetings sind erstaunlich gute Lösungen in diesen ungewöhnlichen Zeiten und werden von den Familien gut angenommen. Außerdem sind direkte Kontakte mit den bekannten Hygienemaßnahmen auch weiterhin möglich. Trotz aller Verantwortung, strenger Einhaltung aller Regelungen und Einschränkungen im Privatbereich, bleibt natürlich die Sorge, sich selbst oder andere anzustecken. Wir merken, dass die Anfragen und der Grad der Beeinträchtigung der Kinder, Jugendlichen und ihren Familien stark angestiegen sind. Das ist belastend, genauso wie die steigenden Zahlen derer, die Hilfe benötigen. Ich möchte keinen Tag missen, auch in dieser schweren Zeit. Ich bin heute noch mit genauso viel Leidenschaft für meine Patient/-innen da wie am ersten Tag.