Auswirkungen der Pandemie auf Kinder und Jugendliche
Vor zwei Jahren, Ende März 2020, führte die Corona-Pandemie in Deutschland zu einem ersten Lockdown. Seither fehlen soziale Nähe und Normalität im Alltag. Darunter leiden Kinder und Jugendliche ganz besonders. Was machen zwei Jahre Pandemie mit den Jüngsten der Gesellschaft? – Nachgefragt bei Dr. med. Dietmar Eglinsky, Klinikdirektor der Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Kassel.
Wie stecken Kinder und Jugendliche die Folgen der Pandemie weg?
Dr. med. Dietmar Eglinsky: Nach zwei Jahren Pandemie geht es Kindern und Jugendlichen wirklich nicht gut. Im vergangenen Sommer dachte ich noch, dass sie nach einigen Monaten sehr gute Anpassungsleistungen zeigen würden. Vor allem, da seit den Sommerferien die Schulen wieder ziemlich kontinuierlich geöffnet haben. Diese Einschätzung muss ich etwas relativieren. Das hat nicht zuletzt mit dem Auftreten der Omikron-Variante zu tun, die den Schulalltag und eine Rückkehr zu einem weitgehend normalen sozialen Umgang erschwert.
Haben sich Kinder und Jugendliche nicht mittlerweile daran gewöhnt?
Dr. Eglinsky: Kinder und Jugendliche sind sehr anpassungsfähig und können mit vielen neuen Situationen gut umgehen. Wir alle wünschen uns, dass viele von ihnen zwei Jahre Pandemie überstehen, ohne ausgeprägte Symptome zu entwickeln. Wir, die in dem psychosozialen Bereich arbeiten – also die kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken, aber auch die Jugendhilfe – müssen uns allerdings darauf einstellen, dass nicht alle Kinder und Jugendlichen gute Anpassungsleistungen zeigen und dass sie unsere Unterstützung brauchen werden.
Welche Störungsbilder treten seit Beginn der Pandemie verstärkt auf?
Dr. Eglinsky: Wir haben in unserer Klinik natürlich keinen repräsentativen Querschnitt, sondern können nur Rückschlüsse ziehen ausgehend von den Familien, die bei uns Hilfe suchen. Und diesen Familien müssen wir vor allem eines sehr positiv zu Gute halten: Dass sie ihre Probleme nicht aussitzen, sondern sich aktiv Unterstützung suchen und Hilfe annehmen. Das sind Eltern, die sagen: Ich mache mir Sorgen um mein Kind und möchte einen Weg finden, damit es ihm bessergeht.
Mit welchen Problemen kommen die Familien zu Ihnen?
Dr. Eglinsky: Es gibt eine Zunahme von depressiven Störungen sowie von Angst-, Zwangs- und Essstörungen. Dass Kinder und Jugendliche eine Depression entwickeln, überrascht sicherlich am wenigsten. Sie haben Lockdown, Quarantäne und Isolation erlebt. Ihre Freiheit, ihre Lebensräume und damit auch ihre Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten wurden zeitweise sehr stark eingeschränkt. Es ist völlig naheliegend, dass Kinder und Heranwachsende darauf mit tiefer Niedergeschlagenheit, Traurigkeit und Antriebslosigkeit reagieren.
Warum gibt es eine Zunahme von Angststörungen?
Dr. Eglinsky: Ängste und deren Überwindung gehören zur kindlichen Entwicklung dazu. Kinder lernen ständig Neues, machen neue Erfahrungen. Das Neue ist zunächst immer mit Ängsten verbunden und der Frage: Bekomme ich das hin? Mit zunehmendem Alter, in der Schulzeit und in der Pubertät kommen soziale Ängste dazu. Die Interaktion mit Lehrern und Gleichaltrigen, der Sportunterricht oder Situationen, in denen es um das eigene Selbstbild geht – das alles ist für junge Menschen mit Ängsten verbunden. Kinder und Jugendliche müssen sich darin üben, diese Ängste zu überwinden. Während der Pandemie sind allerdings Situationen ausgeblieben, in denen sie dies hätten tun können. Das fördert ein Vermeidungsverhalten und hat zur Folge, dass Ängste wachsen können. Bis hin zu dem Punkt, an dem sie monströs werden, die Kinder und Jugendlichen lähmen und ihr Denken bestimmen.
Warum haben Kinder und Jugendliche in der Pandemie Zwänge entwickelt?
Dr. Eglinsky: Die Zunahme von Zwangsstörungen ist ein interessantes Phänomen. Denn in dieser Pandemie mussten wir ja alle geradezu zwanghaft auf Hygiene und Abstand achten. Insofern haben Zwangsstörungen fast schon eine offizielle Legitimation erhalten. Bei Zwangsstörungen gilt allerdings das gleiche wie bei Angststörungen: Werden sie im Verborgenen gelebt, so können sie wie ein Krebsgeschwür wachsen und wachsen.
Können Sie hierfür ein Beispiel nennen?
Dr. Eglinsky: Wenn ein Kind einen Wasch- oder Ordnungszwang entwickelt, dann würde das unter normalen Umständen irgendwann auch Außenstehenden auffallen. Aber in Phasen der Isolation ist dieses Kind möglicherweise viel alleine, hält sich in seinem Zimmer auf, zieht sich auch von der Familie zurück. Und dann bemerken zunächst vielleicht nicht einmal die Eltern, was mit dem Kind los ist. Vor allem, wenn sie durch eigene Herausforderungen gebunden sind. In dieser Situation entwickelt sich die Zwangsstörung im Verborgenen praktisch ungebremst.
Gilt ähnliches auch für Essstörungen, die seit Beginn der Pandemie ja ebenfalls vermehrt auftreten?
Dr. Eglinsky: Für die Entwicklung einer Anorexie, also einer Magersucht, gilt das sicherlich. Sie entsteht im Nebel, im Geheimnisvollen. Oft ist den Familien gar nicht klar, warum eine Jugendliche – die betrifft es ja zumeist – damit anfängt, weniger zu essen, auf Kalorien zu achten oder übermäßig Sport zu treiben. In einer Zeit, in der alle sehr zurückgezogen lebten, fehlte diesen Jugendlichen das soziale Regulativ. Es fehlten die Eltern von Freunden, die Lehrerinnen und Lehrer, die Trainer und Trainerinnen im Verein oder andere, die fragen: Warum bist Du so dünn geworden? Bist Du krank? Oder die die Eltern sensibilisieren, dass da möglicherweise gerade eine Essstörung entsteht.
Gibt es Kinder und Jugendliche, die besonders gefährdet sind?
Dr. Eglinsky: Ja, die gibt es. Ganz besonders gefährdet sind Kinder, die in ihren Familien häuslicher Gewalt oder sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind. Häusliche Gewalt hat in der Pandemie zugenommen, gleichzeitig haben Jugendämter zum Beispiel ambulante Hilfen zeitweise zurückgefahren.
Gibt es weitere Risikogruppen?
Dr. Eglinsky: Es gibt Menschen, für die ohnehin ein höheres Risiko besteht, körperlich oder psychisch zu erkranken. Und in der Pandemie waren gerade diese Menschen besonders belastet und gefordert. Das sind zum Beispiel Familien, die wirtschaftlich schlechter aufgestellt sind oder einen Migrationshintergrund haben. Alleinerziehende, die es ohnehin oft schwer haben, waren ebenfalls stark belastet und dabei auch noch sehr auf sich gestellt. In Phasen, in denen wir uns alle isoliert haben, blieb in diesen Familien vielleicht sogar nur die Hauptbezugsperson und das Kind übrig. Eigentlich braucht es für das gesunde Aufwachsen eines Kindes aber ein ganzes Dorf, eine ganze Gemeinde, ein funktionierendes soziales Gefüge. Es braucht den Sporttrainer, die Mathelehrerin, die lustige Jugendleiterin. Wenn alles nicht mehr stattfindet, sind viele Entwicklungsanreize nicht da.
Wie wirkt sich die Pandemie auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen aus?
Dr. Eglinsky: Wir erleben durch die Pandemie eine völlige Verkehrung von Normalität. Beispielsweise sollte die Pubertät eine Phase im Leben sein, in der Teenager sich ausprobieren und ihre Eltern auf ihre Belastbarkeit prüfen. Stattdessen sind Jugendliche gezwungen, viel Zeit zu Hause zu verbringen. Die Pubertät findet vor einem Bildschirm statt. Die Erfahrungsmöglichkeiten sind enorm eingeschränkt: Jugendfreizeiten, größere Schulveranstaltungen, Treffen mit anderen Jugendlichen, der erste Kuss, die ersten Liebesdramen – das gehört zum Aufwachsen dazu und hat phasenweise über lange Zeiträume nicht stattfinden können.
Was bedeutet es, wenn diese Erfahrungen fehlen?
Dr. Eglinsky: Heranwachsende können ihre Potenziale nur dann entwickeln, wenn sie Probierfelder bekommen, in denen sie Erfolge und Misserfolge erleben können. Wenn sie die Möglichkeit haben herauszufinden, was zu ihnen passt. Nur so finden sie ihren Weg. Durch die Pandemie fehlen ihnen wichtige Erfahrungen. Die Welt ist für Kinder und Jugendlichen in den vergangenen Monaten und Jahren viel zu klein geworden.
Lassen sich manche Entwicklungsschritte nachholen?
Dr. Eglinsky: Manche vielleicht, aber sicherlich nicht alle. In der Grundschulzeit spielen Kinder beispielsweise noch sehr ausgeprägt. Mit Beginn der Pubertät ist das Gehirn allerdings mit anderen Dingen befasst. Als Kinder- und Jugendpsychiater würde ich immer sagen: Zum Spielen ist man nie zu alt. Es hindert die Kinder natürlich niemand daran, auf dem Spielplatz zu schaukeln oder sich beim Klettern auszuprobieren. Aber wenn sich ein bestimmtes Zeitfenster aufgrund der körperlichen und psychischen Weiterentwicklung geschlossen hat, dann ist das einfach vorbei. Das hat schon eine große Tragik. Vielleicht hilft es, sich klarzumachen, dass nicht alle Kinder und Jugendliche unter diesen Umständen alle Entwicklungsschritte vollziehen können. Wir sollten den Fokus darauf lenken zu schauen: Was fehlt ihnen jetzt möglicherweise? Was können sie noch ein wenig nachholen? – Bei dem genannten Beispiel eines Grundschulkindes könnte das vielleicht eine motorische Förderung sein.
Was brauchen Kinder und Jugendliche jetzt?
Dr. Eglinsky: Wir sollten sie vor allem nicht überfordern, sondern ihnen Hilfe und Unterstützung anbieten. Diese zwei Jahre Pandemie sind im Leben von Heranwachsenden ein gravierender Einschnitt gewesen. Kinder und Jugendliche verdienen jetzt unser Augenmerk. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat das vor einem Jahr schon zur Sprache gebracht, nachdem die Impfkampagne gestartet war und die vulnerablen Gruppen die Möglichkeit hatten, sich durch Impfung zu schützen. Er sagte damals sinngemäß: Jetzt sei es an uns Älteren, Solidarität mit den Kindern und Jugendlichen zu zeigen. Ich finde: Da hat er recht. Die Jüngsten in der Gesellschaft, die ja selbst ein vergleichsweise geringes Risiko haben, ernsthaft an Covid-19 zu erkranken, haben einen hohen gesellschaftlichen Beitrag geleistet. Insofern finde ich es sehr gut, dass in der öffentlichen Diskussion das Offenhalten der Schulen als ein hochwertiges Ziel wahrgenommen wird.
Zur Person: Dr. Dietmar Eglinsky ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie. Seit Januar 2021 leitet er die Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Kassel, zu der fünf Tageskliniken und sechs Ambulanzen in Kassel und den nordhessischen Landkreisen gehören. Die Klinik behandelt pro Jahr etwa 6.000 Kinder und Jugendliche ambulant und mehr als 800 teilstationär und stationär.
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