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Konflikte auf Station vermeiden

Implementierung des Safewards-Konzepts bei Vitos Herborn

Auf den Stationen sechs und sieben der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Herborn hängen seit einiger Zeit zwei Gemälde. Sie erinnern stark an Kunstwerke von Gustav Klimt. Für die Patientinnen und Patienten symbolisieren die dargestellten Bäume Hoffnung. Daher werden sie auch Hopetrees genannt.

Die Hoffnungsbäume gehören zu den Interventionstechniken des Safewards-Konzepts. Das Konzept beinhaltet zehn Interventionstechniken, die für mehr Sicherheit auf Station sorgen. In diesem Blogbeitrag möchte ich, Dorothea Happel, Sie mit auf eine imaginäre Reise durch unsere Stationen nehmen, um Ihnen die Techniken des Safewards-Konzepts vorzustellen.

Im Bild zu sehen: v. li. Kunsttherapeutin Karolin Bender, Stationsleiterin Dorothea Happel und Christina Bitter, Gesundheits- und Krankenpflegerin.

Der Hoffnungsbaum

Wenn Sie am Eingang der Station sechs oder sieben bei uns in Herborn stehen, schauen Sie direkt auf den Hoffnungsbaum. Gemalt wurde er von unserer Kunsttherapeutin Karolin Bender. Der Baum bietet Platz für sogenannte Entlassnachrichten. Am Tag vor der Entlassung werden Patient/-innen ermutigt aufzuschreiben, was ihnen bei ihrem Aufenthalt gefallen hat, was sie über das Team denken und was auf der Station während ihrer Therapie geschehen ist. Sie werden gebeten, einen positiven, hilfreichen Rat für neue Patient/-innen zu hinterlassen. Statt sich etwas vom Baum zu pflücken, pflanzen sie quasi Hoffnung für diejenigen, die nach ihnen kommen. Denn häufig ist es so, dass neue Patient/-innen bei ihrer Aufnahme stark deprimiert oder verzweifelt sind. Unsere Pflegemitarbeiter/-innen haben immer ein offenes Ohr. Das hilft aber natürlich nur, wenn Gesprächsangebote angenommen werden. Manchmal versteckt sich Angst hinter Gewalt oder Aggression. Solchen Patient/-innen fällt es oft schwer, Hilfe anzunehmen.

[1]Wenn sie die positiven Erfahrungen am Hopetree lesen, kann ihnen das Perspektiven eröffnen und eben Hoffnung für ihre Behandlung geben. Daher ist es wichtig, dass die Karte mit Vornamen unterzeichnet werden. Insbesondere wenn die Patient/-innen sich gekannt haben, wissen Sie, dass das Feedback ehrlich ist.

Der Weg zur sicheren Station

Der Hopetree ist eine von zehn Interventionstechniken des sogenannten Safewards-Modells. Ursprünglich wurde das Konzept in England entwickelt. In Deutschland ist es durch Prof. Dr. Michael Löhr bekannt geworden. Er leitet den Lehrstuhl für Psychiatrische Pflege an der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld. Ziel des Safewards-Modells ist es, Konflikte auf akutpsychiatrischen Stationen einzudämmen. Auf solchen Stationen werden Menschen aufgenommen, die akute psychische Probleme haben. Das können Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen, bipolare Störungen und Psychosen, Persönlichkeitsstörungen und Suchterkrankungen sowie psychische Störungen sein. Auch akute Lebenskrisen, die mit suizidalen Gedanken einhergehen, gehören dazu. Aufgrund dieser Erkrankungen können Patient/-innen leicht reizbar sein, was zu Konflikten und auch zu Gewalt führen kann. In solchen Situationen ist es wichtig, Maßnahmen zur Deeskalation einzuleiten – also dafür Sorge zu tragen, dass niemand verletzt wird und der Konflikt aufgelöst werden kann. Ich bin Deeskalationstrainerin in unserer Klinik und nehme regelmäßig an Fortbildungen und Kongressen teil, um mich zu den neuesten Methoden auf dem Laufenden zu halten. So bin ich auch auf das Safewards-Konzept aufmerksam geworden.

„Safe ward“ bedeutet auf Englisch „sichere Station“. Daher kommt die Bezeichnung Safewards. Sinngemäß also: hin zu einer sicheren Station. Insgesamt umfasst das Modell zehn Interventionstechniken. Wir setzen diese Techniken ein, um allen Beteiligten, also Patient/-innen und Pflegenden, eine größtmögliche Sicherheit auf Station zu bieten. Das Konzept ist eine passende Ergänzung zu unserem PART-Programm, einer weiteren Deeskalationstechnik. Um Safewards den unterschiedlichen Berufsgruppen auf Station vorzustellen, habe ich Professor Löhr bereits dreimal nach Herborn eingeladen. Richtig Fahrt hat die Umsetzung mit Christina Bitter aufgenommen. Die Gesundheits- und Krankenpflegerin hat nach ihrem Studium Bachelor of Arts Social Management die Projektleitung für die Umsetzung übernommen. Mit einem Dreijahresplan steuert sie die Einführung des Safewards-Konzepts. Der Plan sieht vor, jedes Jahr etwa drei neue Methoden einzuführen. Für jede Technik gibt es eine designierte Person, die von zwei bis drei weitere Kolleg/-innen unterstützt wird. Gemeinsam befassen sie sich mit den Details der Technik und überlegen, wie wir sie für uns übersetzen können. Eine der ersten Techniken, die wir eingesetzt haben, sind die der gegenseitigen Erwartungen. Wenn wir also unsere gedankliche Reise über die Station fortsetzen, kommen wir zu einem Bilderrahmen an der Wand.

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Die gegenseitigen Erwartungen

Konflikte können entstehen, weil zwei Parteien eine unterschiedliche Auffassung davon haben, was erlaubt ist und was nicht. Auf Station kann das beispielsweise passieren, wenn zwei Pflegemitarbeiter einem Patienten unterschiedliche Dinge erlauben. Dabei kann es um die Nachtruhe gehen oder das Rauchen im Gebäude.

Daher ist es auf Station wichtig, dass die gegenseitigen Erwartungen geklärt und gelebt werden. Das gilt für Erwartungen, die Patient/-innen an die Pflegemitarbeiter/-innen haben und umgekehrt. Bei dieser Interventionstechnik geht es um einen respektvollen Umgang miteinander. Jede und jeder soll mit seinen Bedürfnissen gesehen und angenommen werden. Daher haben wir unsere Erwartungen in einem Bilderrahmen festgehalten.

Diese wenigen simplen Erwartungen decken alle Regeln ab, die wir vorher hatten. Es war uns sehr wichtig, weg von einem Regelkatalog und hin zu einem Verständnis füreinander zu gelangen. Denn wenn ein Pflegemitarbeiter, der Mitte zwanzig ist, einer 50-jährigen Patientin erklärt, was sie zu tun und zu lassen hat, kann das auf die Patientin erniedrigend wirken. Durch Regeln und Verbote entsteht ein Machtgefälle. Das wiederum kann ein Auslöser für Missmut oder eben Gewalt sein. In diese Situation haben wir uns hineinversetzt, während wir die Methode vorbereitet haben. Es ist wichtig von sich zu abstrahieren und sich in das Gegenüber hineinzuversetzen. Das ist die Basis der gegenseitigen Erwartungen.

Ich möchte Ihnen gerne ein konkretes Beispiel nennen. Die erste Erwartung lautet: „Wir begegnen uns mit Respekt.“ Gegenseitiger Respekt bedeutet zum Beispiel auch, dass ich als Patient oder Patientin akzeptiere, wenn eine Pflegemitarbeiterin gerade keine Zeit für mich hat, weil sie eine andere Aufgabe erledigen muss. Die Pflegemitarbeiterin wiederum sollte das natürlich auch kommunizieren: „Gerade ist ein schlechter Zeitpunkt, ich komme später noch einmal zu ihnen.“ Klar formulierte Erwartungen helfen beiden Seiten, die Bedürfnisse der anderen Person besser zu verstehen. Das reduziert Stress und beugt Gereiztheit vor. Außerdem können so Angstauslöser vermieden werden, was den Heilungsprozess beschleunigen kann.

Die Methoden zur Beruhigung

[3]Wenn Emotionen doch einmal hochkochen, bieten die Methoden zur Beruhigung eine tolle Möglichkeit, aufgestaute Energie umzuleiten. Hierfür setzen wir unsere kleine Reise Richtung Pflegebüro fort. Dort steht ein großer Schrank mit vielen durchsichtigen Kisten. In einer Kiste finden Sie zum Beispiel Papier und Stifte. Es gibt Malvorlagen und auch Zubehör für unseren Hopetree. In einer anderen Kiste liegen kleine Igelbälle und Luftballons, die man mit Sand füllen kann, um sie zu kneten. Eine neue Anschaffung ist eine Shakti-Matte. Die sieht aus, wie eine Yogamatte mit kleinen Stacheln. Wenn man sich darauflegt, pieken die Stacheln einen ganz sanft. Diese Akupressur hilft zu entspannen und kann sogar Schmerzen lindern. Außerdem gibt es in dem Schrank Spiele und Becher. Ja, Becher. Eine unserer Kolleginnen ist nämlich begeisterte Sport Stackerin. Das Sport Stacking ist ein Geschicklichkeitssport, bei dem man Becher in hohem Tempo aufeinanderstapelt und wieder abbaut. Googeln Sie es mal. Es ist wirklich faszinierend und fordert vollkommene Aufmerksamkeit.

Wie Sie merken, ist dieser Schrank voller Möglichkeiten. Und das ist auch ganz wichtig. Denn jeder Mensch entspannt auf eine andere Art und Weise gut. Auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gibt es diese Möglichkeiten. Alle haben eine personalisierte Schublade mit persönlichen Gegenständen, die zur eigenen Entspannung und Regulierung beitragen.

Zwischenfazit und Blick in die Zukunft

Der Hoffnungsbaum, die gegenseitigen Erwartungen und die Methoden zur Beruhigung werden sehr gut von unseren Patient/-innen angenommen. Und auch die Kolleg/-innen sind begeistert davon. Frau Bitter hat das Projekt bisher sehr erfolgreich umgesetzt. Das funktioniert aber natürlich nur, wenn alle Berufsgruppen mitziehen. Zu Beginn waren diese Methoden, vor allem die der gegenseitigen Erwartung, für alle Neuland. Es ist ein ständiger Lernprozess, den es zu leben gilt. Das ist auch wichtig, wenn wir neue Kolleg/-innen auf Station bekommen. Natürlich erklären wir ihnen die Methoden genauso wie den Patient/-innen. Viel wichtiger ist aber das tägliche Vorleben. Außerdem ist das Safewards-Modell eine perfekte Ergänzung zu unserem bestehenden Deeskalationskonzept.

Natürlich feilen wir aktuell schon an der Umsetzung der nächsten Methoden. Für die Zukunft planen wir zum Beispiel eine gemeinsame Unterstützungskonferenz für Patientinnen und Patienten. Ziel ist es, dass sie sich gegenseitig helfen und unterstützen. Sei es, dass jemand für eine andere Person einkauft oder den Neuen die Räume zeigt. Neue Patient/-innen werden so direkt in die Gruppe integriert und diejenigen, die sie herumführen merken, wie viel sie bereits wissen bzw. geschafft haben. Patient/-innen, denen nicht bewusst war, wie viele Fortschritte sie in der Behandlung gemacht haben, spüren dies plötzlich. Das kann für den Heilungsprozess sehr förderlich sein.

Und wenn ich Sie jetzt gedanklich wieder zum Ausgang der Station bringe und durch unseren Flur führe, stelle ich mir dort die Umsetzung einer weiteren Methode vor. Gerne würde ich hier Bilderrahmen für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufhängen. Dann könnten alle ein Bild von sich hineintun und ein paar Informationen dazuschreiben. Zum Beispiel Hobbys oder ein Lieblingsbuch. So können die Patient/-innen die Mitarbeiter/-innen auf eine persönlichere Art und Weise kennen lernen. Vielleicht stellt man dann sogar Gemeinsamkeiten fest, von denen man sonst nicht erfahren hätte. Das sorgt für positiven Gesprächsstoff und senkt die Konfliktbereitschaft.

Seitdem wir das Safewards-Konzept leben, haben wir deutlich weniger Verletzungen auf den Stationen zu verzeichnen. Das motiviert weiterzumachen. Außerdem gibt es eine internationale Community, die das Konzept nutzt. Wir pflegen einen regelmäßigen Austausch und inspirieren uns gegenseitig. Denn genau wie wir, interpretiert jede Einrichtung die Methoden ganz individuell für sich.

Bildquelle: Vitos Herborn