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Krankenpflege ist Kommunikation auf hohem Niveau

Interview mit Krankenpflegedirektor Bernd Kuschel

An die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Berufsgruppe Pflegedienst werden Tag für Tag hohe Anforderungen gestellt. Bernd Kuschel ist Krankenpflegedirektor im Vitos Klinikum Hochtaunus. Im Interview gibt er Einblicke in den Alltag der Pflegekräfte und zeigt auf, warum ihre Arbeit so wichtig für den Behandlungserfolg ist.

Frage: Welche Krankheiten behandeln Sie im Vitos Klinikum Hochtaunus?

Bernd Kuschel: Mehr als die Hälfte unserer Patientinnen und Patienten sind wegen einer Suchterkrankung bei uns. In zwei Stationen am Standort Friedrichsdorf-Köppern und einer weiteren Station am Standort Hasselborn behandeln wir Patient/-innen mit Abhängigkeiten von Alkohol – und/oder Medikamenten sowie Patienten mit Abhängigkeiten von illegalen Drogen. Und wir behandeln Patienten mit Depressionen, Schizophrenien, demenziellen Erkrankungen und hirnorganischen Störungen, bipolaren Erkrankungen, neurotischen Störungen und Persönlichkeitsstörungen in unserem Haus.

Frage: Welche Rolle übernimmt der Pflegedienst in der Behandlung?

Mädchenstation der Vitos Orthopädischen Klinik Kassel 1920er

Bernd Kuschel: Lassen Sie mich ein wenig ausholen: In der Historie verstand man unter Pflege die unterstützende Fürsorge. Die Pflege war von christlichen Werten geprägt. Vor allem junge Damen aus gutem Hause kümmerten sich aufopfernd um die Patienten. In den Psychiatrien gab es die Wärter. Diese hatten eine reine „Schließerfunktion“ – ähnlich wie im Gefängnis. Das waren ungelernte Kräfte, randständige Menschen, die keine andere Chance zum Broterwerb hatten. [1]

Heute haben wir ein komplett anderes Bild. Das Pflegeberufegesetz regelt die umfassenden und facettenreichen Aufgaben der Pflegeberufe. Demnach sind die examinierten Mitarbeiter/-innen im Pflegedienst für präventive, kurative, rehabilitative, palliative und sozialpflegerische Maßnahmen verantwortlich.

 

Frage: Was bedeutet das konkret?

Bernd Kuschel: Eine der Aufgaben der Mitarbeiter im Pflegedienst ist es, den ihr anvertrauten Menschen in seinem Anpassungsprozess zu begleiten, ihn zu unterstützen, in einem psychisch, physisch und sozialen Gleichgewicht zu bleiben und/oder ein neues zu finden (wenn er oder sie mit Einschränkungen leben muss).

Auf der Station sind die Mitarbeiter des Pflegedienstes 24 Stunden am Tag, an sieben Tagen in der Woche für die Patient/-innen da. Sie sind es, zu denen die Patienten am meisten Kontakt haben. Sie sind für sie die ersten Ansprechpersonen. Das ist auch logisch: Die Pflegekräfte sind für Patienten sichtbar. Entweder sie befassen sich mit Aufgaben im Pflegestützpunkt, der in der Regel verglast und deshalb von den Patienten gut einsehbar ist. Oder sie erledigen vielfältige Aufgaben in den Räumen der Station.

Frage: Welche Rolle spielt die Kommunikation im Behandlungsprozess?

Bernd Kuschel: In der Psychiatrie ist der Faktor Kommunikation noch viel wichtiger als in einem Krankenhaus, das sich auf somatische Erkrankungen spezialisiert hat. Bei uns spielen entlastende Gespräche eine große Rolle. Die Mitarbeiter/-innen im Pflegedienst sind häufig diejenigen, an die sich die Patienten mit ihren Problemen zuerst wenden. Zum Repertoire unserer Mitarbeiter gehört das empathische, aktive Zuhören und die Beratung der Patienten.

Psychiatrische Erkrankungen gehen immer auch mit einer Beziehungsstörung einher. Diese bewirkt, dass viele psychisch erkrankte Menschen in großer Isolation leben. Sie sind nicht mehr in der Lage, für sie lebensnotwendige Kontakte zu knüpfen. In der psychiatrischen Pflege ist der Beziehungsprozess sowohl notwendige Basis als auch Methode.

Frage: Neben dem Zuhören und Reden: Welche weiteren Angebote machen die Pflegekräfte den Patientinnen und Patienten noch?

Bernd Kuschel: Nehmen wir zum Beispiel die Abhängigkeitserkrankungen. Patient/-innen, die von einem Suchtstoff entgiften, möchten häufig die „Entzugssymptome“ mit Medikamenten abmildern. Die Mitarbeiter im Pflegedienst empfehlen den Patienten dann, vor einer Medikamenteneinnahme, zunächst andere Lösungsansätze auszuprobieren. Dazu zählen Entspannungsverfahren, Entspannungsbäder, oder das Setzen von Akupunkturnadeln. Alle unsere Pflegekräfte, die mit Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen zu tun haben, sind in Akupunktur geschult.

Einige der Kolleginnen und Kollegen bieten Sportgruppen an. Gemeinsam mit den Patienten gehen sie in unseren gut ausgestatteten Fitnessraum. Oder aber es heißt: Laufschuhe an und ab in den Wald. Oder sie fordern die Patienten zu einem gemeinsamen Spaziergang auf. Sportliche Aktivitäten haben auf viele Symptome von psychischen Erkrankungen einen positiven Einfluss.

Im Pflegedienst können Mitarbeitende ihre persönlichen Interessen gut mit fachlichen Angeboten verknüpfen. Wir haben zum Beispiel einen Kollegen, der sehr musikalisch ist und selbst mehrere Instrumente spielt – er leitet eine Patientengruppe an, in der gemeinsam musiziert wird.

Aromatherapie, therapeutisches Boxen, Stresstoleranzübungen, Achtsamkeitsübungen und die Co-Therapie in CBASB (Cognitive Behavioural Analysis System of Psychotherapy) sind einige weitere Angebote der Berufsgruppe Pflege innerhalb der multiprofessionellen Behandlung unserer Patienten. Das CBASB ist ein innovatives individuelles Therapiekonzept, von dem besonders chronisch-depressive Patienten profitieren können.

Frage: Was hat es mit den sogenannten Notfallkoffern auf sich?

Bernd Kuschel: Bei der emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung des Borderline-Typs kann selbstverletzendes Verhalten eines der vielfältigen, individuellen Merkmale

sein. Betroffene berichten mitunter, dass sie sich Schmerzen zufügen, um ihr Gefühl der Leere zu vertreiben. Der körperliche Schmerz lenkt sie von ihrer seelischen Pein ab.

Eine gängige Intervention ist das Erstellen eines Notfallkoffers. Die Patient/-innen lernen von der Pflege, sich ihren persönlichen Notfallkoffer zu packen. Er enthält drei bis vier Stresstoleranz-Skills, die die Patienten im Notfall anwenden. Ihr Koffer enthält z. B. Utensilien wie Chilischoten, ätherische Öle, Coolpacks oder einen Igelball. Die Anwendung dieser Skills genannten Gegenstände soll den Patienten als eine Alternative zur Selbstverletzung oder anderen destruktiven Verhaltensweisen dienen.

Frage: Welche weiteren praktischen Beispiele aus dem Pflegealltag gibt es?

Bernd Kuschel: Wir haben auch Patienten, die Schwierigkeiten haben, Bus oder Bahn zu fahren. Im ambulanten Setting erhält der Betroffene zum Beispiel die Aufgabe, eine kurze Strecke mit dem Bus zu fahren. Begleitet wird er von einer im Expositionstraining geschulten Pflegekraft, die weiß, was zu tun ist, wenn es einmal kritisch werden sollte.

Die Pflegekräfte beraten die Patienten darüber hinaus in Ernährungsfragen. Auch die Psychoedukation übernehmen sie: Das bedeutet, sie übersetzen komplizierte medizinisch-wissenschaftliche Fakten so, dass der betroffene Patient und seine Angehörigen sie gut verstehen können. Dadurch helfen sie ihnen dabei, die wichtigsten Informationen über die Erkrankung und die erforderlichen Behandlungsmaßnahmen nachvollziehen zu können.

Und natürlich verteilt der Pflegedienst die notwendigen Medikamente. Er erklärt den Patienten, wann sie später welche Medikamente einnehmen müssen und trainiert bei Bedarf mit ihnen die Medikamentenstellung. Die Pharmakotherapie gehört zur Ausbildung. So können unsere Mitarbeiter/-innen in der Pflege auch Fragen von Patienten beantworten, die wissen wollen, ob bestimmte Phänomene, die sie an sich plötzlich bemerken, mit der Einnahme der Medikamente zusammenhängen könnten.

Frage: Wie sieht ein typischer Tagesablauf in der Pflege aus?

Bernd Kuschel: Der Pflegedienst arbeitet im Drei-Schicht-Betrieb. Es gibt einen Frühdienst, einen Spätdienst und einen Nachtdienst. Tagsüber haben wir in der Regel je Schicht zwei oder drei Pflegekräfte auf der Station. Weiterhin unterstützen Auszubildende und jungen Menschen, die ihr freiwilliges soziales Jahr (FSJ) bei uns absolvieren, die examinierten Kräfte. Im Nachtdienst sind dann je nach Station, eine oder zwei Mitarbeiter/-innen im Pflegedienst eingesetzt. In den Stationen, in denen Patienten intensiv betreut werden müssen, werden Doppel-Nachtwachen eingesetzt.

Neben der Betreuung der Patientinnen und Patienten fallen im Nachtdienst auch viele administrative Aufgaben an, die die Pflege während der Tagschichten häufig nicht erledigen kann. Dafür fehlen schlichtweg der Raum und die Zeit.

Ein Arzt vom Dienst, der sich in Bereitschaft hält, unterstützt den Pflegenachtdienst. Als Pflichtversorger nehmen wir Patienten rund um die Uhr auf. Da gibt es also nachts immer etwas zu tun in den Stationen.

Frage: Wie funktioniert die Zusammenarbeit von Pflege- und Ärzteteam?

Bernd Kuschel: Die Zusammenarbeit erfolgt in multiprofessionellen Behandlungsteams. In den regelmäßigen Teamsitzungen trägt jeder gleichberechtigt seine Erfahrungen mit den Patient/-innen vor. In der Psychiatrie geht es nicht hierarchisch zu – wir haben kein Berichts- sondern ein Besprechungswesen. Die Behandlungshoheit liegt natürlich trotzdem bei den Ärzten und Ärztinnen. Unsere Behandlungsdokumentation ist rein digital. Das komplette Behandlungsteam, das neben Ärzt/-innen und Pfleger/-innen aus Psycholog/-innen, Ergo- und Physiotherapeut/-innen sowie Mitarbeiter/-innen im Sozialdienst besteht, hält seine Beobachtungen in einem zentralen, digitalen Dokumentationssystem fest. So ist jeder immer auf dem aktuellen Stand.

 Frage: Was bietet der Pflegeberuf in der Psychiatrie jungen Nachwuchskräften?

Bernd Kuschel: Menschen, die sich für eine Beschäftigung in der Psychiatrie entscheiden, treffen diese Entscheidung ganz bewusst. Sie bringen ein großes Interesse für psychische Erkrankungen mit.

In der Psychiatrie oder auch Psychosomatik sind Menschen gut aufgehoben, die kommunikativ sind, gut zuhören können, empathisch sind und auch etwas von der eigenen Persönlichkeit einbringen möchten.

 Es gibt sehr gute Möglichkeiten, sich fachlich zu entwickeln. Es gibt die Weiterbildungen zum Praxisanleiter, zur Stationsleitung und zur Fachpflege Psychiatrie. Darüber hinaus haben examinierte Pflegekräfte bei Vitos die Möglichkeit, den Studiengang Bachelor of Arts in Social-Healthcare/Psychiatric Nursing und in der dualen Ausbildung den BA Studiengang Advanced Nursing Practice zu absolvieren.

Natürlich ist es nicht immer einfach in der psychiatrischen Pflege. Die Kolleginnen und Kollegen begegnen Menschen in Ausnahmesituationen, die sehr angespannt sind und verbal aggressiv werden können. Dabei wollen die Pflegekräfte nur helfen! Deshalb ist es wichtig, dass sie sich im Privatleben Freizeitaktivitäten suchen, die mit dem Beruf nichts zu tun haben. Unterstützung erhalten sie selbstverständlich auch auf der Station. Es gibt regelmäßige, aber auch spontane Termine zur Supervision. Gemeinsam mit unseren Supervisoren erarbeiten sie dann Handlungsstrategien. Hilfreich ist auch der Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen. Sie unterstützen sich gegenseitig und überlegen gemeinsam: Was können wir in unserem Sinne und im Sinne der Patienten verändern?

 

Infobox – Behandlungsschwerpunkte des Vitos Klinikums Hochtaunus: Zum Vitos Klinikum Hochtaunus gehört das Vitos Waldkrankenhaus Köppern mit seinen Standorten in Köppern und Bad Homburg, die Vitos Klinik Bamberger Hof in Frankfurt und die Vitos Klinik Hasselborn. Dort behandeln wir Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen. Das Behandlungsspektrum umfasst die Krankheitsbilder der Allgemeinen Psychiatrie, der Abhängigkeitserkrankungen und der Gerontopsychiatrie. Das Behandlungs-Setting variiert je nach Bedarf zwischen stationär und teilstationär sowie ambulant in unseren Ambulanzen oder im Hometreatment als Akutbehandlung Zuhause.

Unser Angebot im Bereich Abhängigkeitserkrankungen werden wir übrigens auf Friedrichsdorf-Köppern konzentrieren. In naher Zukunft, nachdem der Neubau in Bad Homburg bezogen ist, verlagern wir sowohl die Fachklinik, wie auch die Übergangseinrichtung aus Hasselborn an unseren Standort Friedrichsdorf-Köppern. In Friedrichsdorf Köppern entsteht so ein Suchtkompetenzzentrum.

Neubau in Bad Homburg

Die Stationen der Allgemeinen Psychiatrie und der Gerontopsychiatrie ziehen in unsere neue, topmoderne Vitos Klinik auf dem Gesundheitscampus in Bad Homburg ein. Der Bau wird gerade fertiggestellt. Zum Behandlungsangebot in Bad Homburg wird außerdem

unsere neue Klinik für Psychosomatik sowie eine Wahlleistungsstation gehören. Und wir schlagen Brücken im Wortsinn: Unser Neubau ist durch eine Brücke mit den Hochtaunus-Kliniken verbunden. So können wir unseren Patientinnen und Patienten auch bei eventuell vorhandenen somatischen Erkrankungen kompetente Unterstützung bieten.

Zum Autor: Bernd Kuschel, 54 Jahre, ist Krankenpflegedirektor im Vitos Klinikum Hochtaunus. Diese Position hält er seit 2000 inne, nachdem er zuvor fünf Jahre lang die Pflegedienstleitung verantwortete. Seine berufliche Karriere startete Kuschel mit einer dreijährigen Ausbildung zum Krankenpfleger, die er von 1985 bis 1988 in Marburg absolvierte. Von 1994-1995 absolvierte er die zweijährige Weiterbildung zur Pflegedienstleitung, 2013 schloss Kuschel ein BWL Studium BA ab.