
02 Apr. Lorena goes India
Meine Reise nach Indien – Ein Blick in die Heimat unserer internationalen Auszubildenden
Eines Tages standen zwei unserer indischen Auszubildenden in meinem Büro und fragten mich, ob ich sie im Dezember in ihre Heimat begleiten möchte. Zunächst war ich sprachlos, denn Indien war bis dahin kein Land, das auf meiner Reiseliste stand. Bilder von überfüllten Straßen, Umweltverschmutzung und einem schwachen Gesundheitssystem schreckten mich eher ab. Doch ihre Leidenschaft und ihr Wunsch, mir ihr Land zu zeigen, ließen mich nicht los.
Mein Name ist Lorena Lauer, ich arbeite als zentrale Praxisanleiterin am Standort Herborn und betreue dort die Krankenpflegehelfer/-innen. Der erste Kurs startete Ende 2023. Unter den Teilnehmenden waren auch zwei indische Auszubildende, die zuvor ein FSJ bei Vitos absolviert hatten. Durch die praktische Anleitung hatte ich viel Kontakt zu ihnen und tauchte tiefer in ihre Mentalität und Kultur ein. Der Austausch wurde intensiver, und ihre Begeisterung für ihr Heimatland war ansteckend.
Schließlich entschied ich mich, diese Reise anzutreten. Nicht nur aus Neugier, sondern auch aus Respekt gegenüber unseren internationalen Auszubildenden und Fachkräften. Ich wollte ihr Heimatland und ihre kulturellen Wurzeln besser verstehen, um sie auf ihrem beruflichen Weg in Deutschland noch gezielter unterstützen zu können.
Vom minus fünf Grad kalten Frankfurt ins 28 Grad warme Bengaluru
Nach der Beantragung eines 30-Tage-Visums und der sorgfältigen Vorbereitung meiner Reiseapotheke war es endlich soweit. Am Abflugtag verließ ich Frankfurt bei frostigen minus fünf Grad. Nach einer Zwischenlandung in Dubai kam ich schließlich in Bengaluru, mitten in der Nacht, bei warmen 28 Grad an. Dort wartete bereits die Familie einer Auszubildenden auf uns. Doch die Reise war noch nicht zu Ende: Nach einer weiteren achtstündigen Autofahrt in den Süden erreichten wir unseren Zielort, ein kleines Dorf mitten im Dschungel.
Schon auf dem Weg dorthin sammelte ich erste Eindrücke: Kühe, die zwischen hupenden Autos umherliefen, Scooterfahrer, die sich durch den chaotischen Verkehr schlängelten, und Menschen, die schwer beladen zu Fuß unterwegs waren. Die Straßen wirkten improvisiert, viele Fahrzeuge hätten in Deutschland niemals eine TÜV-Plakette erhalten. Je weiter wir uns von der Stadt entfernten und dem Dschungel näherten, desto grüner wurde die Umgebung. Der beißende Geruch von Abgasen und Müll verflog, und ich konnte endlich durch das offene Fenster frei atmen, ohne mein Halstuch vor das Gesicht halten zu müssen. Nicht nur die Luft wurde frischer und die Landschaft üppiger, sondern auch die ersten Tiere zeigten sich: Ein Elefant stand etwa 100 Meter von unserem Auto entfernt, ein Schwarzbär lugte zwischen den dichten Bananenbäumen hervor, und zahlreiche Affen huschten über die Straße. Trotz des anfänglichen Kulturschocks spürte ich sofort die Herzlichkeit und Gastfreundschaft der Menschen.
Hier ist man überall herzlich willkommen
Es war Vormittag, als wir endlich nach 22 Stunden am Ziel ankamen. Eigentlich sehnte ich mich nur danach, ins Bett zu fallen und Schlaf nachzuholen. Doch die Gastfamilie hatte verschiedene traditionelle Gerichte gekocht, die wir gemeinsam aßen. Ab diesem Tag gab es für mich kein Besteck mehr, meine rechte Hand wurde mein neues Esswerkzeug, während die linke unter den Tisch gehörte. Anfangs war das eine echte Herausforderung für mich. Die Speisen waren nicht nur heiß und köstlich, sondern auch das Zerkleinern eines Stücks Hühnchen mit nur einer Hand erwies sich als gar nicht so einfach.
Danach lernte ich alle Familienmitglieder kennen, die in verschiedenen Häusern auf demselben Gelände wohnten. Schon an diesem Tag wurde mir klar: Hier ist man überall herzlich willkommen. Gäste werden stets mit einem heißen Tee oder Kaffee und dazu süßem oder herzhaftem Gebäck verwöhnt. Eine Geste der Gastfreundschaft, die man besser nicht ablehnt, da es die Gastgeber sonst sehr traurig macht.
Jeden Tag unternahmen wir viele Aktivitäten. Schon die Busfahrt in die nächstgrößere Stadt, Sultan Bathery, war ein Erlebnis für sich. Hier hält der Bus, wenn man einfach am Straßenrand die Hand hebt – und eine Fahrt kostet gerade einmal 20 Cent. Manchmal saß ich dabei über eine Stunde im Bus.

Abenteuer Busfahrt
Wir besuchten verschiedene Kirchen unterschiedlicher Konfessionen, einen berühmten Tempel und eine Teeplantage. Dort konnte ich beobachten, wie Arbeiterinnen von morgens bis abends per Hand die Teeblätter ernteten.

Malerische Teeplantage
Ein Punkt auf meiner To-Do-Liste war es, verschiedene indische Gerichte kennenzulernen und bei der Zubereitung zu helfen. Dazu gehörte es, auf Palmen zu klettern, um frische Kokosnüsse abzuschlagen, oder Jackfruits zu sammeln. Eine Frucht, die in ihrer reifen Form als Gemüse verwendet wird. Dabei musste man schnell sein, bevor die Elefanten sie nachts entdeckten.
Mit dem Nachtbus nach Kochi – ein Erlebnis, das man einmal gemacht haben sollte
Dann wurde es spannend: Wir buchten uns Schlafplätze in einem Nachtbus, um nach Kochi zu fahren. Um 20:00 Uhr startete die wilde Fahrt, und am nächsten Morgen um 6:30 Uhr erreichten wir unser Ziel. Jeder hatte eine kleine Kabine mit einem Vorhang, einer Fleecedecke und einem Kissen. Doch was ich nicht bedacht hatte, war der Fahrstil – an Schlaf war kaum zu denken! Trotzdem war es ein Erlebnis, das man einmal gemacht haben sollte.

Das Innenleben eines Nachtbusses
Am Morgen machten wir einen Abstecher nach Kottayam, um die anderen indischen Auszubildenden zu besuchen. Dort wartete man bereits auf uns mit frisch gebackenen Bananen, Tee und weiteren Leckereien zum Frühstück. Nach der Stärkung erkundeten wir die Umgebung, besuchten einen Wasserfall und eine besondere Kirche.
Anschließend fuhren wir mit dem Bus zu unserem Hotel in Kochi – und erlebten einen Hauch von Luxus. Ein großes Doppelbett, eine Klimaanlage, eine feste Dusche – fast wie ein Stück Heimat. Denn in Indien wird das Wasser zum Duschen meist auf einer Feuerstelle oder in einem Boiler erhitzt. Shampoo gilt als Luxusartikel. Stattdessen werden oft Hibiskusblüten von Hand zerkleinert. Das entstehende ölige Wasser dient als natürliche Haarpflege, doch beim Trocknen rieseln kleine Blütenreste nach und nach aus dem Haar.
Einen Föhn gibt es in Indien kaum, bei der hohen Luftfeuchtigkeit lohnt sich das einfach nicht. Frauen mit langen Haaren nutzen stattdessen eine spezielle Technik mit einem Handtuch, um ihre Haare zu trocknen. Diese Technik habe ich während meines Aufenthalts gelernt und sie begleitet mich bis heute.
In Kochi befindet sich der Sitz von NOVA Healthcare Professionals – der Agentur, von der aus unsere Pflegekräfte in Anerkennung und FSJ’ler ihren Weg nach Deutschland starten. Ich hatte die Gelegenheit, mir einen Einblick zu verschaffen und bei Tee und Gebäck zwei wunderbare Menschen kennenzulernen, die diese Agentur leiten.

Unterrichtsräume von NOVA
Vor Ort lernte ich einige FSJ’ler kennen, die kurz vor ihrer großen Reise nach Deutschland standen. Sie freuten sich bereits sehr darauf, Deutschland und Vitos kennenzulernen. Es war spannend zu sehen, wo ihre Reise begann und welche Stationen sie bis zu ihrer Ankunft in Deutschland durchlaufen haben.
Am nächsten Tag ging es nach Fort Kochi, und ich bemerkte sofort, dass es hier deutlich moderner zugeht. Viele junge Menschen trugen Jeans und Sneaker, es gab zahlreiche Einkaufsmöglichkeiten, ein lebendiges Stadtbild und Tourist/-innen aus aller Welt. Mit einem Tuk-Tuk fuhren wir zu den bekanntesten Orten. Einer davon war eine traditionelle Wäscherei, in der Hotels ihre Wäsche reinigen lassen. Alles geschieht hier von Hand – selbst das Bügeln, das mit Kohle erhitzten Eisen erledigt wird. Danach besuchten wir ein Gewürzlager, wo eine Frau mit Maske frischen Ingwer auf einer riesigen Fläche mit Kalk bestreute, um die Trocknung zu beschleunigen, bevor er für den Export vorbereitet wurde.

Trocknung von Ingwer
Am Abend gingen wir in ein bekanntes Restaurant, das eine besondere Delikatesse anbot: eingelegten Krebs, der dort komplett mit Schale verzehrt wird. Das war mir dann doch etwas zu gewöhnungsbedürftig, also entschied ich mich für Rindfleisch. Eine weitere Spezialität, die viele Touristen anzieht, ist der Palmwein, ein alkoholisches Getränk, das aus der Zuckerpalme gewonnen wird. Sein Geschmack erinnerte mich an den hier bekannten Federweißer. Später am Abend traten wir die Rückreise mit dem Nachtbus an. Doch diesmal wusste ich, was mich erwartete – und so konnte ich sogar ein paar Stunden die Augen schließen und schlafen.
Ein wahres Potpourri an Eindrücken
Zuhause angekommen, ging es direkt weiter – diesmal zu einer privaten Schule, die vom Kindergarten über die Grund- und Gesamtschule bis hin zur weiterführenden Schule (bis zur 11. Klasse) alles unter einem Dach vereint. Ich war neugierig, wie das Bildungssystem aufgebaut ist, und führte ein interessantes Gespräch mit der Schulleiterin. Es war ihr ein großes Anliegen, dass ich ihre Schule genauer kennenlerne. Also bekam ich eine umfangreiche Führung durch alle Bereiche, lernte verschiedene Lehrkräfte, Klassenräume und Schüler/-innen kennen. Auffällig war, dass hier alle eine Uniform tragen. Zudem wurde mir schnell klar, dass in dieser Schule strenge Regeln herrschen: Wer seine Hausaufgaben nicht gemacht hat, muss die Zeit auf dem Flur verbringen – solange, bis die Aufgabe erledigt ist.

Zu Besuch in einer indischen Schule
Um die Natur noch besser kennenzulernen, ging es hoch hinaus – zuerst mit dem Auto und dann zu Fuß. Der Weg führte vorbei an meterhohen Eukalyptusbäumen hinauf in die Nilgiri-Berge, von wo aus sich ein atemberaubender, weiter Ausblick bot. Anschließend besuchten wir noch ein Familienmitglied, das in der Nähe wohnte. Die ganze Familie war versammelt, und da die Zeit langsam dem Ende entgegenging, hatte die Familie eine Überraschung für mich. In Indien ist es Tradition, dass neue Gäste, die ins Haus kommen und aufgenommen werden, einen Kuchen anschneiden und diesen gemeinsam mit den Bewohnern genießen. Als mir dieser Brauch erklärt wurde, standen mir tatsächlich kurz die Tränen in den Augen. Es war so rührend, wie herzlich und geborgen man sich hier fühlte. Nach dem Kuchen gab es noch ein Fotoshooting mit der ganzen Familie, um diesen besonderen Moment festzuhalten.

Fotoshooting mit der ganzen Familie
In der Gemeinde, in der ich untergekommen bin, gibt es derzeit einen Überschuss an Reis, Linsen und Zucker. Die Regierung hat daher beschlossen, dass alle Familien diese Grundnahrungsmittel einmal im Monat kostenlos erhalten. Es war sehr interessant zu sehen, wie der Prozess abläuft: Jede Familie bekommt eine Karte, auf der die Mitglieder genau aufgelistet sind. Pro Mitglied gibt es eine feste Grammanzahl, die ausgegeben wird. Jeder bringt seine eigenen Tüten mit. Die Ware wird dann direkt vor Ort abgewogen.
Am Abend stand ein großes Fest bei der Familie an. Jeder war sehr aufgeregt und kleidete sich besonders hübsch. Da zu dieser Zeit auch in Indien die Weihnachtszeit gefeiert wird, kam der Pater mit zwei Nonnen für einen Gottesdienst zu der Familie. Auch andere Mitglieder der Gemeinde versammelten sich dort. Ich durfte dabei sein, und es war sehr spannend zu sehen, wie ein Gottesdienst abläuft. Auch, wenn ich kein Wort verstand, war es für mich etwas ganz Besonderes. Alle versammelten sich im Haus. Dort fand das Rosenkanzgebet statt. Im Anschluss gab es eine wunderschöne Zeremonie, bei der verschiedene Mitglieder sangen, tanzten und ein Gedicht aufsagten. Am Ende aßen alle gemeinsam. Während des Festes erfuhr ich, dass die zwei Nonnen in einem Krankenhaus arbeiten. Ich nutzte die Gelegenheit und fragte, ob ich mir dieses Krankenhaus näher anschauen dürfte. Wir vereinbarten direkt einen Termin für den nächsten Tag.

Rosenkranzgebet
Zu Besuch in einem indischen Krankenhaus
Am nächsten Tag ging es für mich zum letzten Mal in die Stadt, um noch ein paar kleine Mitbringsel zu kaufen. Natürlich kaufte ich mir auch einen Kurta, damit ich bei den nächsten Festen bei Vitos passend gekleidet bin. Danach ging es ins Krankenhaus, wo schon auf uns gewartet wurde. Es gab Tee und eine Art Pfannkuchen mit Kokosraspeln. Anschließend wurde ich durch das Krankenhaus geführt.
Es war ein kleines Krankenhaus mit zwei Stockwerken. Im ersten Stock befand sich eine geschlossene Psychiatrie, deren Hauptschwerpunkt auf Suchterkrankungen lag, und im zweiten Stock eine somatische Station. Besonders interessierte mich die Psychiatrie, daher erkundete ich dort ein Patientenzimmer. Das Zimmer war riesig und bot Platz für zehn Patienten. Interessant war, dass es keine Bettwäsche gab – diese wurde von den Patient/-innen selbst mitgebracht. Auch eine Patientenklingel, wie man sie hier kennt, war nicht vorhanden. Die Familien übernehmen einen großen Teil der Pflege und bringen täglich das Essen vorbei. Am Ende gab es noch ein Erinnerungsfoto mit allen Krankenschwestern. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, hätte ich dort sofort anfangen können.

Erinnerungsfoto mit den Krankenschwestern
Nun packte ich meine Sachen, denn die Heimreise stand bevor – und somit war erstmal wieder eine achtstündige Fahrt bis zum Flughafen angesagt. Vor der Abreise kochte die Gastmama noch einmal mein Lieblingsessen. Wie sie so schön sagte: „So etwas wirst du vielleicht erstmal nicht mehr essen.“ Ich verabschiedete mich von allen lieben Menschen, und die acht Autostunden nach Bengaluru begannen. Das war hier eine Selbstverständlichkeit: Alles wurde eingepackt – Kissen, Essen, Getränke. Mitten auf der Autobahn hielten wir kurz an, um die letzte Mahlzeit in Indien zu genießen, und dann war es auch schon soweit. Ich stand mit all meinem Gepäck am Flughafen und verabschiedete mich.

Abschied am Flughafen
Auf dem Rückflug hatte ich viel Zeit, über alles nachzudenken und die Erlebnisse Revue passieren zu lassen. Ich ging mit einem weinenden und einem lachenden Auge. Einerseits freute ich mich auf zuhause, auf meine Familie, meine Arbeit und darauf, allen von meinen Erlebnissen zu berichten. Andererseits war ich traurig, dass diese besondere Zeit zu Ende ging. Die Ängste und Bedenken, die ich anfangs hatte, waren am Ende nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Natürlich gehört es dazu, sich auf ein fremdes Land einzulassen, aber ich konnte sehr viel für mein Arbeitsfeld als Praxisanleiterin und für mich privat mitnehmen.
Indien, ich komme wieder!