Mehr lachen, mehr leben, mehr lieben, mutig sein

Mehr lachen, mehr leben, mehr lieben, mutig sein

Jörg und Stefanie Freiberg sind Gasteltern bei Vitos Familienwohnen

Vitos bietet Menschen mit einer psychischen Erkrankung verschiedene Wohn- und Betreuungsangebote. Dazu zählt das Konzept Vitos Familienwohnen. Dabei leben Klientinnen und Klienten in Gastfamilien, die in ihren Alltag unterstützen und wo sie Zugehörigkeit erfahren.

Jörg Freiberg ist 67 Jahre alt und seit fünf Jahren Gastvater. Im Dezember 2021 hat er einen zweiten Klienten bei sich aufgenommen. Ihre beiden Einliegerwohnungen „klassisch“ zu vermieten, können er und seine Frau Stefanie sich nicht mehr vorstellen. Wie sich ihr Familienalltag gestaltet. Worin sie die Vorteile des Konzepts sehen. Was sie angehenden Gasteltern mit auf den Weg geben möchten. Das erklärt Jörg Freiberg in diesem Beitrag. Er ist aus einem Gespräch bei ihm zuhause in Ahnatal entstanden. Bei Kaffee und Kuchen hatte sich die Familie inklusive der Klienten Richard Böttger, 69 Jahre, und René Pfaff, 28 Jahre, gemeinsam mit Stefan Beez vom Team Vitos Familienwohnen Bad Emstal zusammengefunden.

Freunde werden Familienmitglieder

Mit Richard verbindet mich eine jahrelange Bekanntschaft und Freundschaft. Als wir die Wohnung im Erdgeschoss zum Vermieten renovierten, war schnell klar, dass niemand anderes als er bei uns einziehen wird. Den Zusatz „Gast“ haben wir gedanklich gestrichen. Denn für Richard sind wir seine Familie und umgekehrt – nicht auf Zeit und auch nicht als Ersatz. Zu anderen Verwandten hat er keinen Kontakt. Seit er hier lebt, unterstützen wir ihn im Alltag. Mit dem Status als Gastfamilie bei Vitos erhält unser Zusammenleben einen offiziellen Charakter und sorgt für Sicherheiten auf beiden Seiten. Für meine Frau Stefanie und mich zählt dazu beispielsweise die sozialpädagogische Unterstützung durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die uns wöchentlich besuchen. Auf der anderen Seite sind wir nicht nur Vermieter, sondern haben Teil am Leben unserer Mitbewohner und tragen in gewissem Maße Verantwortung.

Platz für weitere Familienmitglieder schaffen

Im umgebauten Kellergeschoss hat René sein Reich

Im Dezember des vergangenen Jahres zog dann René bei uns ein. Stefan Beez war auf uns zugekommen und hatte sich erkundigt, ob wir es uns vorstellen könnten, noch einen weiteren Klienten bei uns aufzunehmen. Daraufhin bauten wir das Kellergeschoss zum Wohnraum mit eigenem Eingang um. René passt gut zu uns und ist Stück für Stück aufgetaut. Er hatte bereits in einer anderen Gastfamilie gewohnt, aber den Wunsch geäußert, nicht mehr direkt in Kassel leben zu wollen. Wir wohnen hier in Ahnatal eher ländlich. René hat die Möglichkeit, in wenigen Minuten in der Natur zu sein und spazieren zu gehen, was ihn zur Ruhe kommen lässt. Momentan befindet er sich in einem Projekt der Baunataler Diakonie, in dem er seine zukünftigen beruflichen Aussichten und Möglichkeiten erproben kann. Sein Ziel ist es, irgendwann auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Festanstellung zu finden. Montags bis freitags arbeitet er jeweils für sechs Stunden. Mein Part dabei? – Ich bin sein morgendlicher Weckdienst und helfe ihm, pünktlich an der Arbeit zu sein.

Richard und René sind jedoch beide sehr selbstständig und können sich auch ohne weitere Hilfe versorgen. Sie unterstützen sich auch gegenseitig, zum Beispiel wäscht einer für den anderen die Wäsche mit oder kocht das Essen. Als Gasteltern ist unsere Aufgabe daher eher, präsent zu sein und immer ein offenes Ohr für Probleme zu haben. Richard nennt mich seinen „Berater“. Wir führen viele Gespräche und unsere Türen stehen immer offen. Denn eine offene Tür signalisiert, dass man den anderen nicht auf Distanz halten will und sich für sein Leben und vor allem für seine Person interessiert. Es macht einen großen Unterschied, andere wissen zu lassen, dass man ihnen gegenüber nicht gleichgültig ist, sie gesehen und gehört werden – und wer möchte sich schon gern im eigenen Haus verschanzen? Das Projekt „Familienwohnen“ funktioniert nicht, wenn man komplett aneinander vorbeilebt.

Unser Zusammenleben als Familie

Dass wir alle vier auf einer Wellenlänge sind, ist für ein harmonisches Zusammenleben wichtig. Aber auch die Tatsache, dass jeder seine eigene Wohnung mit Bad und Küche hat, lässt so manchen Konflikt erst gar nicht entstehen. Es ist jedoch keine Voraussetzung an eine neue Gastfamilie, eine ganze Wohnung zur Verfügung stellen zu müssen. Je nach Wohnsituation genügt auch ein geräumiges Zimmer.

Musik ist Richards Hobby

Wir verbringen gerne und oft Zeit miteinander, zum Beispiel bei einer Tasse Kaffee nach Feierabend. Stefanie arbeitet als pharmazeutisch-technische Assistentin tagsüber in der Apotheke und mich halten seit der Rente meine Hobbys auf Trab, zu denen auch das Autoschrauben gehört. Außerdem gehe ich noch einer geringfügigen Beschäftigung bei der Stadt nach. Am späten Nachmittag reden wir dann gern in der Runde über unseren Tag, spielen Würfelspiele oder genießen im Sommer das schöne Wetter im Garten – oft auch mit musikalischer Begleitung. Denn die Musik ist Richards Hobby: Seine Stereoanlage ist fast täglich in Benutzung, von ABBA bis Udo Jürgens ist alles dabei. Sogar die Nachbarskatze kommt zum Zuhören an sein Fenster.

Jeden Sonntag um elf Uhr steht bei uns außerdem Sport auf dem Programm. Wir joggen hoch zum Dörnberg oder besteigen die Treppen beim Herkules. Ausgleich ist wichtig. Deswegen gehen wir danach meistens ein Schnitzel essen. Jede Aktivität ist natürlich freiwillig; vorgeschrieben von Seiten des Vitos Familienwohnen ist das nicht. Wir sind einfach gern zu viert unterwegs.

Ein Geben und Nehmen auf beiden Seiten

Wer sich als Gasteltern für Vitos Familienwohnen entscheidet, sollte ein sozial veranlagter Mensch sein. Das Schöne an dem Konzept ist, dass wir nicht nur Helfende sind, sondern auch Empfänger von Hilfe. Wir helfen Menschen, sich an einem Ort richtig zuhause zu fühlen und geben ihnen Halt und Verlässlichkeit. Gleichzeitig sind Richard und René genauso in der Lage, uns zu unterstützen. Zum Beispiel versorgen sie unsere Katzen und hüten Haus und Garten, wenn wir in den Urlaub fahren. Oder einer der beiden kocht eine Mahlzeit für uns alle vier. Genau das ist ja das Prinzip von Familie. Es ist für jeden Menschen essenziell, das Gefühl zu haben, gebraucht zu werden und Vertrauen entgegengebracht zu bekommen. Das ist unser Verständnis von Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

Wer darüber nachdenkt, sich als Gastfamilie zu bewerben, sollte vor allem Offenheit mitbringen und die Bereitschaft, sich realistisch auf das Zusammenleben einzustellen. Denn es wird nicht immer Harmonie und Einigkeit geben, wie in jeder „normalen“ Familie auch. Aber Probleme sind da, um sie zu lösen. In unserer Küche hängt ein Friedensgong für Situationen, in denen wir uns in Diskussionen verrennen – einer schlägt den Gong und jeder nimmt sich daraufhin ein paar Minuten, um sich zu sammeln. Das mag belustigend klingen, aber es funktioniert. Ebenfalls in der Küche hängt ein selbst gemaltes Bild mit unserem Familienmotto, das wir jeden Tag zu beherzigen versuchen: Mehr lachen, mehr leben, mehr lieben, mutig sein!

Unterstützung und Betreuung durch Fachkräfte

Stefan Beez besucht uns in der Regel jede Woche, meist am Donnerstag. Wir sitzen dann entweder hier in unserer Küche zusammen. Es werden aber auch Einzelgespräche geführt. Mit René geht er gern spazieren. Sollte es einmal Unstimmigkeiten geben, ist Stefan Beez der Vermittler. Da meine Frau und ich keine ausgebildeten Sozialarbeiter beziehungsweise -pädagogen sind, freuen wir uns immer über seine Anleitung und Hilfe. Bei Richard war es ja ein Sonderfall, da wir ihn bereits kannten, bevor wir Gasteltern wurden. Aber als René zu uns kam, haben wir gleich gemerkt, dass im Vorfeld genau geschaut wurde, wer zu uns passt. Ein Mitspracherecht bei der Auswahl der passenden Person hatten wir selbstverständlich auch. Das Team von Vitos Familienwohnen bringt dabei seine jahrelange Erfahrung ein und steht uns immer souverän zur Seite.

Manche Klientinnen und Klienten haben einen erhöhten Betreuungsbedarf und/ oder medizinischen Bedarf. Auch in diesem Fall müssen Gasteltern keine entsprechende Berufsausbildung haben. Denn die Angebote von Vitos Familienwohnen und Vitos Behandlung Zuhause lassen sich beispielweise ergänzen. So ist jeden Tag Pflegepersonal oder therapeutisches Personal vor Ort. Ein weiteres Selbstverständnis ist es, dass Menschen mit selbstaggressivem oder fremdaggressivem Verhalten, Drogen- oder Alkoholsucht sowie selbstverletzendem Verhalten nicht innerhalb einer Gastfamilie leben können. Für sie stellt Vitos andere Formen des Wohnens zur Verfügung.

Mutig zu sein und etwas Neues zu wagen, sich aus der eigenen Komfortzone hinaus zu trauen und sein Haus für fremde Menschen zu öffnen, kann für beide Seiten eine sehr bereichernde Erfahrung sein und im besten Fall dazu führen, „Familie“ ganz neu zu definieren.

Weiterführende Informationen finden Sie hier: https://www.vitos.de/gesellschaften/vitos-haina/einrichtungen/vitos-familienwohnen-bad-emstal

Autor/-in
Joerg Freiberg