- Vitos Blog - https://blog.vitos.de -

„Mein Ziel ist es, überflüssig zu werden“

Als Migrationsbeauftragte möchte Dr. Barbara Bornheimer für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte den Zugang zur Behandlung erleichtern

Für Menschen mit Migrationsgeschichte, die psychisch erkranken, ist es besonders schwer, die notwendige medizinische und therapeutische Hilfe zu erhalten. Es gibt viele Hürden, die den Zugang zur Behandlung erschweren. Die Sprachbarriere ist nur eine davon. Diese Hürden abzubauen, gehört zu den Aufgaben von Dr. Barbara Bornheimer. Sie ist seit Jahresbeginn Konzernmigrationsbeauftragte von Vitos. Für diese neue Aufgabe hat sie sich viel vorgenommen. Ihr langfristiges Ziel: Überflüssig werden.

Frau Dr. Bornheimer, warum haben Sie diese neue Aufgabe übernommen?

Dr. Barbara Bornheimer: Migrationsarbeit ist für mich ein Herzensthema. Ich bin damit schon lange vertraut, denn es begleitet mich beruflich seit vielen Jahren. In der Vitos Klinik Bamberger Hof, in der ich 23 Jahre gearbeitet habe, brachte jeder zweite Patient bzw. jede zweite Patientin eine Migrationsgeschichte mit. Die Klinik liegt in der Frankfurter Innenstadt und damit in einem entsprechend multikulturell geprägten Umfeld. Sowohl in unserem Team, als auch in der Behandlung war das interkulturelle Arbeiten also ein Schwerpunkt.

Es hat mich sehr gefreut, dass ich gefragt wurde, ob ich diese Aufgabe übernehmen möchte. Prof. Dr. Eckhardt Koch, mein Vorgänger als Konzernmigrationsbeauftragter, hat sehr wertvolle Arbeit geleistet. Daran möchte ich gerne anknüpfen.

Welche Erfahrungen haben Sie mit Patient/-innen gesammelt, die eine Migrationsgeschichte mitbringen?

Dr. Barbara Bornheimer

Dr. Barbara Bornheimer möchte als  Konzernmigrationsbeauftragte Hürden abbauen.

Dr. Bornheimer: Ich habe es als bereichernd erlebt, weil ich dadurch mit anderen Lebensweisen und Gedankenwelten in Berührung gekommen bin. Wie die Herkunftskultur die persönliche Entwicklung prägt, ist hoch spannend. Wer nicht im globalen Norden aufgewachsen ist, hat mitunter ganz andere Vorstellungen davon, was die „Psyche“ ist oder welche Zusammenhänge es zwischen Körper und Psyche gibt. Im arabischen Raum gibt es beispielsweise für „Psyche“ keine passende sprachliche Entsprechung. Es gibt natürlich ähnliche Begriffe, aber sie meinen nicht ganz dasselbe. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir hierzulande von „Psyche“ sprechen, gibt es in anderen Kulturkreisen nicht unbedingt.

Was bedeutet das für den Umgang mit Hilfesuchenden?

Dr. Bornheimer: Wir müssen im Umgang mit Patientinnen und Patienten aus anderen Kulturkreisen viele Selbstverständlichkeiten in Frage stellen. Das erfordert eine andere Herangehensweise. Ich frage die Patienten oft: „Was meinen Sie denn, wo die Ursache für Ihre Erkrankung liegt?“ – Die Vorstellung, dass es bei einer bestimmten Symptomatik, beispielsweise Schmerzen, unbedingt eine körperliche Ursache geben muss, ist schon sehr verbreitet.

Welche Hürden gibt es für Menschen mit Migrationsgeschichte auf dem Weg zu einer passenden Behandlung?

Dr. Bornheimer: Die Angst vor einem Stigma spielt eine große Rolle. Psychische Erkrankungen sind in manchen Kulturen noch deutlich stärker stigmatisiert als bei uns. Deshalb schämen sich viele Betroffene so sehr, dass wir für die Behandlung keine Basis finden. Ich erinnere mich an einen jugendlichen Geflüchteten aus Syrien, der mit einer posttraumatischen Belastungsstörung zu uns kam. Der Bürgerkrieg in seinem Heimatland und die Flucht hatten ihn traumatisiert. Die Hürde, sich helfen zu lassen, war für ihn allerdings zu hoch. Es war aus Scham für ihn nicht möglich, mit uns darüber zu sprechen.

Gibt es weitere Hürden?

Dr. Bornheimer: Unser Gesundheitswesen ist komplex: Wie sind die Wege? Was ist die Aufgabe eines Allgemeinmediziners, was die des Facharztes? Welche Behandlungsformen gibt es? Wo liegen Unterschiede zwischen Klinik, Tagesklinik und Ambulanz? – Wer aus einem anderen Land oder einem anderen Kulturkreis zu uns kommt, muss sich erst einmal zurechtfinden. Nicht unterschätzen darf man auch, dass Menschen mit Migrationsgeschichte oft schon einmal Ausgrenzung erlebt haben. Dann sind Ängste entstanden. Und es fehlt vielleicht auch das Vertrauen, dass es nun jemand gut mit ihnen meint und ihnen helfen möchte.

Welche Rolle spielt die Sprachbarriere?

Dr. Bornheimer: Wenn es um die sprachliche Verständigung geht, sind wir bei Vitos schon sehr gut aufgestellt. In der stationären Behandlung können wir auf Dolmetscherdienste – entweder hausinterne oder externe – zugreifen. Außerdem steht uns das Video-Dolmetschen zur Verfügung, bei dem wir einen Dolmetscher per Video-Telefonie dazu holen können. In der ambulanten Behandlung fehlt vielleicht noch etwas die Selbstverständlichkeit, Dolmetscher einzubinden. Eine wirklich hohe Hürde ist die Sprachbarriere für die Behandlung aber nicht. Das funktioniert für mein Empfinden bei Vitos bereits ganz gut.

Vitos lobt erstmals einen Preis für Initiativen aus, die Menschen mit Migrationsgeschichte den Zugang zur Gesundheitsversorgung erleichtern. Was versprechen Sie sich von der Auslobung des Transkulturellen Vitos Preises?

Dr. Bornheimer: Ich erhoffe mir, dass wir mit diesem Preis mehr Aufmerksamkeit auf dieses Thema lenken. Wie gehen wir eigentliche mit der kulturellen Vielfalt in unserer Gesellschaft um? – Das ist eine Frage, die mir persönlich wichtig sind. Mit dem Preis wollen wir Modelle loben, die etwas Gutes für die Gesundheitsversorgung von Menschen mit Migrationsgeschichte tun. Mit dem Preis leisten wir hoffentlich einen Beitrag dazu, dass diese wichtige Arbeit stärker wahrgenommen wird.

Als Konzernmigrationsbeauftragte möchten Sie in Ihrer Arbeit auch einen Fokus auf die interkulturelle Vielfalt der Vitos Mitarbeitenden richten. Warum?

Dr. Bornheimer: Bei Vitos gibt es viele Mitarbeitende, die einen anderen kulturellen Hintergrund haben. Erleben Sie Ausgrenzung oder Fremdheit? Brauchen Sie vielleicht noch mehr Unterstützung oder Begleitung, um bei uns anzukommen und sich wohlzufühlen? – Sich das genauer anzuschauen, ist mir ein großes Anliegen. Ich glaube, es fehlt uns vielfach noch der Blick dafür, dass Menschen aus einem anderen Kulturkreis eine Bereicherung sind. Und letztlich sind wir eine Einwanderungsgesellschaft. Das ist eine Realität, mit der wir uns befassen müssen.

Wie kann kulturelle Vielfalt die Behandlung bereichern?

Dr. Bornheimer: Wer als behandelnde Person selbst Ausgrenzung erfahren hat oder denselben religiösen oder kulturellen Hintergrund wie ein Patient oder eine Patientin besitzt, kann eine andere Sensibilität einbringen. Wir brauchen deshalb in der Behandlung unbedingt Kolleginnen und Kollegen mit Migrationshintergrund. Sie sind zwischen Patienten mit Zuwanderungsgeschichte und dem Behandlungsteam wertvolle Mittler.

Ayse Kaya, Migrationsbeauftragte von Vitos Gießen-Marburg.

Auch bei den Vitos Gesellschaften gibt es Migrationsbeauftragte: Ayse Kaya nimmt diese Aufgabe für Vitos Gießen-Marburg wahr. (Foto: LWV Hessen / Fotograf: Rolf K. Wegst)

Was sind Ihre Ziele in Ihrer Arbeit als Konzernmigrationsbeauftragte?

Dr. Bornheimer: Langfristig wäre mein Ziel, überflüssig zu werden. Wenn es uns gelingt, viele Hürden abzubauen und die interkulturelle Verständigung gut funktioniert, brauchen wir letztlich keine Migrationsbeauftragten mehr – weder auf Konzernebene noch bei den Vitos Gesellschaften. Vielleicht haben wir irgendwann dann eher einen Beauftragten oder eine Beauftragte für Diversität. Es gibt jenseits des kulturellen Hintergrunds ja auch noch andere Themen, bei denen Menschen Ausgrenzung erleben.

Zur Person:

Dr. Barbara Bornheimer ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Sie arbeitet seit 23 Jahren an der Vitos Klinik Bamberger Hof [1] in Frankfurt, deren Leitung sie 2010 übernahm und 2022 abgab. Die Vitos Klinik Bamberger Hof hat sich als „Klinik ohne Betten“ auf die ambulante Behandlung von akut psychisch kranken Menschen spezialisiert. Seit 2000 wird dort die „Ambulante Psychiatrische Akutbehandlung zu Hause (APAH)“ [2] angeboten.

Hintergrund:

Vitos hat 2023 erstmals den Transkulturellen Vitos Preis ausgelobt. Er ist mit 3.000 Euro dotiert. Mit dem Preis soll das Engagement von Bürger/-innern oder initiativen aus Hessen gewürdigt werden, die Menschen mit Migrationsgeschichte den Zugang zur Gesundheitsversorgung erleichtert. Mehr Infos dazu gibt es hier [3].