Internationale Musikwelt zu Gast bei Vitos

300. Konzert in der Klinikkapelle

Am vergangenen Samstag fand das 300. Konzert in der Kapelle des Vitos Klinikum Gießen-Marburg statt. Seit 2008 organisiert Rainer Römer die erfolgreiche Konzertreihe. Von Klassik über Jazz und Pop bis hin zu Blues ist für jeden Musikgeschmack etwas dabei. Rainer Römer berichtet, wie aus einem Zufall eine etablierte Veranstaltungsreihe entstanden ist, die sogar die Cousine von Bob Dylan nach Gießen lockt.

Verborgenes Potenzial

2008 habe ich bei Vitos als Sozialarbeiter und therapeutischer Leiter der Vitos Übergangseinrichtung Gießen gearbeitet und hatte mit Musik recht wenig zu tun. Es war ein Zufall, dass mein Cousin zu der Zeit eine Vernissage in der Klinikkapelle organisierte und auf der Suche nach einem musikalischen Rahmenprogramm war. Da mein guter Freund Martin Gärtner Pianist, Dirigent am Stadttheater und Dozent am musikpädagogischen Institut in Gießen ist, rief ich ihn kurzerhand an und er organisierte einen Auftritt seines Chors. Die Akustik hat Martin damals so überzeugt, dass er das Semesterabschlusskonzert des Instituts ebenfalls in der Kapelle durchführen wollte. Die Resonanz war durchweg positiv, sodass wir beide beschlossen, mehr daraus zu machen. Mich hatte der Ehrgeiz gepackt. Ich begann Musikerinnen und Musiker anzusprechen und für Auftritte in unserer Kapelle zu gewinnen.

Ort der Begegnung

Die Organisation fand hauptsächlich in meiner Freizeit statt, aber natürlich waren die Konzerte auch Thema an der Arbeit. Einige Patientinnen und Patienten unterstützten mich freiwillig und halfen zum Beispiel beim Aufbau oder in der Betreuung der Künstlerinnen und Künstler. Für die meisten war das eine neue und positive Erfahrung. Man muss sich vorstellen, dass die Klinik früher ein geschlossener Bereich war, den nur Angestellte und Patienten betreten haben. Nun kamen regelmäßig bis zu 200 Leute zu den Konzerten, die vorher keine oder kaum Berührungspunkte mit der Klinik hatten. Eine Chance auf echte Inklusion, um Berührungsängste abzubauen und Vorurteile aus dem Weg zu räumen. Daher ist es mir wichtig, dass der Eintritt zu allen Konzerten kostenlos ist und jeder teilnehmen kann. Schnell hat sich die Klinikkapelle zu einem Ort der Begegnung entwickelt. Das wurde auch beim letzten Adventskonzert wieder deutlich. Unter den 200 Gästen waren nicht nur Patientinnen und Patienten unserer Vitos Einrichtungen, sondern auch aus anderen Wohngruppen sowie Stätten der Behinderten- und der Migrationshilfe aus dem Umkreis.

International gut vernetzt

In den vergangenen Jahren hat sich die Organisation zunehmend professionalisiert. Die Koordination nahm immer mehr Zeit in Anspruch und wurde zu meinem offiziellen Zweitjob. Mittlerweile habe ich ein großes Künstler-Netzwerk aufgebaut und kenne mich in der Musikwelt ziemlich gut aus. Da der Eintritt zu allen Konzerten umsonst ist, erhalten die Musikerinnen und Musiker nur eine kleine Gage. Trotzdem kann ich mich vor Anfragen kaum retten. So war zum Beispiel schon Sonia Rutstein, die Cousine von Bob Dylan, bei uns zu Gast. Auch im März 2020 wird sie wieder in unserer Kapelle auftreten. Sie ist nicht die erste, die vom Flair und der Akustik bei uns so begeistert ist, dass sie gerne wieder zurück nach Gießen kommen möchte. Bei der Zusammenstellung des Programms ist es mir allerdings wichtig genügend Abwechslung zu bieten, damit für jede und jeden etwas dabei ist. Auch die Cousine von Bob Dylan darf nur wiederkommen, wenn Sie ein neues Programm präsentiert. Eine regelmäßig wiederkehrende Veranstaltung ist allerdings das Semesterabschlusskonzert des musikpädagogischen Instituts. Denn damit hat schließlich alles seinen Lauf genommen.

Mein persönliches Highlight war der Kinderchor aus Peking. Die jungen Sängerinnen und Sänger des Beijing International Children’s Choir (BICC) haben sogar schon die olympische Hymne bei der Eröffnungsfeier der Sommerspiele 2008 gesungen. Im Rahmen ihrer Europa Tour hat sich spontan ein Auftritt bei uns ergeben, der nicht nur bei mir für Gänsehaut gesorgt hat.

Pläne für die Zukunft

Mittlerweile ist „Musik bei Vitos“ zu einem festen Bestandteil der Gießener Kulturwelt geworden und für mich zu einem echten Herzensprojekt. Trotz beruflicher Veränderungen, organisiere ich die Konzerte weiterhin als geringfügig Beschäftigter. Daher freut es mich besonders, dass Rainer Stoodt mich seit einigen Monaten bei der Koordination unterstützt. Rainer ist selbst Musiker, wodurch er eine zusätzliche Kompetenz in unser kleines Team bringt. Gemeinsam haben wir das Programm für das erste Halbjahr 2020 zusammengestellt und vergangenen Samstag das 300. Konzert in unserer Klinikkapelle erfolgreich durchgeführt.

Zu Beginn dieses Jahres haben wir erstmalig ein Konzert mit dem „Bündnis gegen Depression Gießen“ veranstaltet. Unter dem Titel „Depressionen unplugged“ haben die Sängerin Marie-Luise Gunst und Band Depressionen eine Stimme gegeben. Die Sängerin, die selbst von Depressionen betroffen ist, brachte den Zuhörern durch ihre Musik, die Schwermut dieser Krankheit auf besondere Art und Weise näher. Wir können uns gut vorstellen weitere Konzerte mit dem Bündnis durchzuführen und so die Inklusion und Entstigmatisierung psychisch kranker Menschen weiter voranzutreiben.

Außerdem möchten wir in Zukunft zusätzliche Lesungen im Rahmen der Veranstaltungsreihe anbieten. Vor einiger Zeit war zum Beispiel Charles „Charly“ Graf, der ehemalige Profiboxer im Schwergewicht, bei uns und hat aus seiner Biografie gelesen. Grafs Leben als Boxer, Krimineller, Häftling und deutscher Boxchampion sowie später als Sozialarbeiter erregte öffentliche Aufmerksamkeit und wurde in verschiedenen Dokumentarfilmen verarbeitet. Der Austausch mit ihm war sehr bewegend und inspirierend.

Vielleicht treffe ich in Zukunft auch den einen oder die andere von Ihnen, liebe Blogleser/-innen. Alle aktuellen Informationen finden Sie auf der Website des Vitos Klinikum Gießen-Marburg ^[3] unter „Musik bei Vitos“ oder im aktuellen Veranstaltungsflyer: Musik bei Vitos_1. Halbjahr 2020 ^[4]

Bildquelle: Rainer Römer