Für Suchtpatienten ist der Sozialdienst eine wichtige Stütze auf dem Weg zurück in die Normalität
Wie der übermäßige Konsum von Alkohol, Medikamenten, Legal Highs oder Amphetaminen Menschen in den Abgrund reißen kann, erleben Andrea Heinke und Florian Hill häufig. Sie arbeiten auf der offenen Suchtstation der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Marburg – und zwar in einer Berufsgruppe, die hier ein besonders wichtiger Teil des Therapieangebots ist: dem Sozialdienst.
Angenommen, ein Patient oder eine Patientin kommt schwer alkoholisiert und kaum ansprechbar mit dem Rettungsdienst in die Klinik. Die Krise ist akut. Zunächst geht es auf der Station um den körperlichen Entzug. Wie kommt hier der Sozialdienst ins Spiel?
Florian Hill: Anfangs haben die Patienten meist sehr mit ihrer körperlichen und psychischen Verfassung zu kämpfen. Sie benötigen häufig etwas Zeit zur Stabilisierung. Dann versuchen wir, Kontakt zu knüpfen und bieten Unterstützung zur Klärung der persönlichen Belastungsfaktoren an. Es kann zum Beispiel sein, dass jemand mittellos ist, keinen Krankenversicherungsschutz hat und wir dann dabei unterstützen, existenzsichernde Leistungen zu reaktivieren.
Andrea Heinke: Die Menschen kommen oft mit einem ganzen Bündel an sozialen Problemen und Anliegen. Wir entscheiden gemeinsam mit ihnen, was das Allerwichtigste ist. Ein qualifizierter Entzug dauert in der Regel bis zu 21 Tage, wenn eine weitere Diagnose vorliegt, vielleicht etwas länger. In dieser Zeit gilt es herauszufinden, was der nächste Schritt sein kann.
Was heißt qualifizierter Entzug?
Florian Hill: Es geht nicht nur um den körperlichen Entzug von Suchtmitteln. Qualifizierter Entzug heißt, dass sich die Patienten auch mit ihrer Suchterkrankung auseinandersetzen und weiterführende Angebote des Suchthilfesystems kennenlernen. Auf unserer Station arbeiten Ärzte, Therapeuten, Pflegekräfte und der Sozialdienst als multiprofessionelles Team zusammen.
Andrea Heinke: Es heißt oft: „Suchtpatienten seien unmotiviert“, aber das stimmt nicht. Sie sind ambivalent. Es gibt für sie gute Gründe, die dagegensprechen, abstinent zu sein. Wir versuchen zum Beispiel gemeinsam mit den Patientinnen und Patienten ihre Ziele und Werte herauszufinden, um ihre Motivation zur Veränderung zu stärken. Viele haben einen Abstinenzwunsch und möchten ein gesundes Leben führen. Das ist ein langer Weg mit viel Arbeit – wir sind dabei ein Puzzleteil.
Was ist Ihre konkrete Rolle in diesem Puzzle?
Andrea Heinke: Wir helfen, die Eigenmotivation für Veränderungen zu verstärken, die Werte und Ziele des Patienten zu erkunden und darauf aufbauend, Perspektiven zu entwickeln, Ressourcen zu erschließen sowie konkrete Handlungsschritte anzustoßen.
Florian Hill: In Zusammenarbeit mit den Patienten nehmen wir häufig Kontakt auf zu Sucht/-Beratungsstellen, Einrichtungen der Eingliederungshilfe, Reha-Kliniken, Betreuern, Betreuungsgerichten, dem Kreisjobcenter, Arbeitsamt und so weiter. Daher verstehen wir uns ebenfalls als Networker in unserer Arbeit.
Andrea Heinke: Und manchmal müssen wir auch einfach Wechselkleidung organisieren.
Bei Suchtpatienten gibt es häufig Rückfälle. Ist das nicht frustrierend – für die Patienten, aber vielleicht auch für die, die helfen wollen?
Andrea Heinke: Der Rückfall ist als Teil der Suchterkrankung zu sehen. Unser Ansatz ist es, diesen zu entdramatisieren. Wir möchten die Menschen motivieren, wieder aufzustehen und nicht zu resignieren. Manchmal brauchen sie mehrere Anläufe, um innerlich bereit zu sein, den nächsten Schritt zu gehen – zum Beispiel einen Wohnungswechsel oder den Beginn einer Langzeittherapie.
Florian Hill: Eine Suchterkrankung verläuft eben nicht geradlinig, sie hat mit Rückschlägen zu tun. Das ist sehr schambehaftet. Manche sagen: „Ich habe mir selbst zugesehen, wie ich abstürze.“ Aber es gilt, auch in der Krise das Gute zu sehen: Vielleicht ist ein Patient das letzte Mal mit dem Rettungsdienst zu uns gekommen und diesmal hat er selbst rechtzeitig gemerkt, dass er Hilfe braucht. Wir begegnen den Menschen hier in einem wertschätzenden Raum. Wir bewerten die Patienten nicht. Sondern wir betrachten Auslöser und Verstärker, die zur Krise geführt haben.
Andrea Heinke: Es kommt oft vor, dass Leute zu uns kommen und gefühlt vor dem Nichts stehen. Erfreulich ist, dass sie hier einen Schutzraum finden, in dem sie neue Perspektiven entwickeln können.
Was empfinden Sie als erfüllend an Ihrer Arbeit?
Florian Hill: Ich erlebe viel Freundlichkeit und Dankbarkeit – zum Beispiel, wenn ich bei ALG-II-Anträgen oder der Beantragung einer Reha helfe. Wir wollen die Leute befähigen, sich selbst zu helfen. Wir wollen ihnen einen Weg zeigen. Aber gehen müssen sie ihn selbst. Dafür braucht es natürlich auch Geduld. Ich kann für Patienten zum Beispiel keine Schuldentilgungsplanung machen, aber ich kann Kontakte vermitteln. Was ich sehr schätze, ist, dass wir hier im ganzen Team immer wieder an der eigenen Einstellung zu bestimmten Themen arbeiten.
Andrea Heinke: Auch für mich ist die Haltung des Teams sehr beeindruckend. Es ist nicht so, dass wir die Experten sind und wissen, was das Beste ist. Der Patient ist Experte seiner selbst, wir achten seine Werte und Ziele sehr.
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