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Psychiatrie mal anders

Mein Einsatz bei Ärzte ohne Grenzen in Bangladesch

Mein Name ist Dr. Andrea Braum. Ich bin Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Kommissarische Ärztliche Leitung der Vitos Tageskliniken und Ambulanzen Bad Homburg. Außerdem bin ich Teil der Organisation Ärzte ohne Grenzen.

Hier berichte ich Ihnen von meinem Einsatz in Bangladesch.

Im Mai 2020 sollte es wieder so weit sein: nach zwei Einsätzen in Simbabwe und Äthiopien wollte ich zu einem dritten Einsatz für Ärzte ohne Grenzen nach Bangladesch aufbrechen. Die Reisebeschränkungen zu Beginn der Pandemie verzögerten den Start um drei Monate. So traf ich erst Anfang August, nach zwei Wochen Quarantäne, in der Hauptstadt Dhaka am Projektort ein. Dieser befand sich im Südosten des Landes, wo die Grenze zu Myanmar nicht weit ist. Von Myanmar kommt auch die knappe Million Rohingya, die dort im weltgrößten Flüchtlingslager lebt. Die Rohingya sind eine muslimische Minderheit. Sie sind seit Jahren in Myanmar weitgehend von Bildungs- und Gesundheitsmaßnahmen ausgeschlossen und haben bereits mehrfach Gewalt erfahren. Zu einer systematischen Verfolgung war es im Sommer 2017 gekommen, in deren Folge eine Million Rohingya nach Bangladesch flohen. Diese Geschehnisse werden am Internationalen Gerichtshof verhandelt.

Gesundheitsstationen mit (Notfall-)Ambulanz, Geburtshilfe und einer „Mental Health-Abteilung“

Ärzte ohne Grenzen hat von Beginn der großen Flüchtlingswelle an versucht, die Not der Menschen im Lager zu mildern. Beispielsweise wurden 2020:

Meine bis zu zwölf internationale Mitarbeiter/-innen und ich haben gemeinsam mit 250 nationalen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in einem Bereich des Lagers zwei Gesundheitsstationen mit (Notfall-)Ambulanz, Geburtshilfe und einer „Mental Health-Abteilung“ betrieben. In der „Mental Health-Abteilung“ haben wir Menschen empfangen, die entweder aus eigenem Antrieb oder auf Empfehlung/Überweisung durch Dritte zu uns kamen und sich Linderung ihrer psychischen Belastung erhofften. Zunächst haben sogenannte Berater und Beraterinnen mit ihnen gesprochen. Diese Berater/-innen haben zuvor häufig keine spezifische Ausbildung genossen. Meine Vorgänger/-innen haben sie angelernt. Waren diese der Meinung, es handle sich um ein Problem, das einer medikamentösen Behandlung bedurfte, dann haben sie die Patient/-innen an einen der beiden Ärzte der Abteilung überwiesen. Da kam ich als Psychiaterin ins Spiel. Meine Hauptaufgabe war es anfangs, diese beiden Kollegen, die nach ihrem Studium noch keine Vertiefung in Psychiatrie erfahren hatten, zu supervidieren. Ich saß also mit einem der Ärzte, dem Patienten, seiner Begleitung und dem Übersetzer in einem kleinen Bambusverschlag und verfolgte ihre Behandlungen. Grundlage dafür ist das in vielen Ländern des Südens benutzte MHGap Manual der WHO. Letztlich aber versuchen wir, unsere Behandlungen noch etwas differenzierter als in dem erwähnten Manual durchzuführen. Medikamentös stehen uns bei den Neuroleptika Haloperidol (oral und als Depotspritze), Chlorpromazin, Risperidon und Olanzapin zur Verfügung, bei den Antidepressiva Amitriptylin, Fluoxetin, Paroxetin und Sertralin.

Hier im Mental Health Department finden die Behandlungen statt

Wir haben kaum Patient/-innen mit posttraumatischen Belastungsstörungen gesehen, dafür umso mehr Patient/-innen mit psychosomatischen Beschwerden, gelegentlich auch Konversionsstörungen, aber natürlich auch akute Psychosen und Depressionen.

Andauernde traumatische Situation hemmt Selbstheilungskräfte

Leider leben die Menschen weiterhin in einer traumatischen Situation. Das hemmt ihre Selbstheilungskräfte. Für psychisch Erkrankte ist es wichtig, Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Wenn ich depressiv bin und es dennoch schaffe, spazieren zu gehen oder mich mit meinen Nachbar/-innen auszutauschen, dann werde ich mich dadurch etwas besser fühlen. Ich erlebe eine Selbstwirksamkeit, die mir hilft, gesund zu werden.

Im Lager ist das vor allem für die Frauen und junge Mädchen so gut wie unmöglich. Ab Beginn der Pubertät dürfen sie wegen traditioneller Bräuche ihre Hütte nur in Begleitung männlicher Familienangehöriger verlassen. Die Isolation ist groß. Auch für Kinder ist die Situation schwierig. Denn es gibt keine Orte, wo sie unbeschwert toben und spielen können. Als das Camp in den Lockdown musste, war es noch schlimmer. Zudem wurde das Lager im September 2020 durch einen Stacheldraht umzäunt. Das war vor allem während eines großen Feuers im März 2021 ein großes Problem, als die Menschen vor dem Feuer fliehen wollten, aber wegen des Stacheldrahts nicht weiterkamen. Damals verloren 50.000 Menschen ihre Hütte und ihr weniges Hab und Gut. Noch viele Wochen danach war die Angst vor weiteren Feuern spürbar, Anspannung und Schlafstörungen hatten zugenommen.

Das gemeinsame interkulturelle Lernen und Arbeiten macht den Reiz aus

Nach einigen Wochen habe ich die Position meiner Chefin übernommen, die leider aus ihrem Urlaub nicht mehr ins Projekt zurückkam. Das bedeutete zusätzlich für die sieben Berater (Counselors), zwei Psychologen und die 27 Freiwilligen zuständig zu sein, die ganze Mental Health Abteilung innerhalb und außerhalb des Projekts zu vernetzen und vertreten.

Die Freiwilligen sind eine besondere Erwähnung wert. Das sind Rohingya aus dem Lager, die unter den gleichen Bedingungen wie alle anderen leben. Wir haben sie ausgesucht und geschult, sodass sie für uns als gemeindepsychologische Helfer/-innen im Lager tätig sind. Sie gehen von Tür zu Tür und stellen sich als unsere Mitarbeiter vor. Sie klären über seelische Gesundheit auf, erkennen manchmal betroffene Menschen und vermitteln sie in unsere Behandlung. Sie sind „unsere Augen, Ohren und auch Hände“ im Lager. Denn die Menschen haben zu ihnen viel mehr Vertrauen als wenn Bangladescher/-innen zu ihnen kämen. Die Freiwilligen sind sehr an Fortbildung interessiert. Häufig resultieren ihre Englischkenntnisse nur aus der Arbeit mit uns. Mein wichtigster Mitarbeiter war ein solcher Freiwilliger. Er hat mich als kultureller Mediator begleitet. Und ich habe von ihm viel über die Kultur, Sitten, Gebräuche, aber auch Krankheitskonzepte gelernt. Genau dieses gemeinsame interkulturelle Lernen und Arbeiten macht den Reiz der Arbeit aus. Unsere in Deutschland passenden Konzepte der psychiatrischen Arbeit sind nicht Eins-zu-eins auf die Verhältnisse in anderen Ländern übertragbar. Dasselbe gilt für die Art und Weise, wie Menschen oder im speziellen Fall Kolleg/-innen miteinander umgehen. Die manchmal recht direkte Art, wie wir in Deutschland mit Konflikten umgehen, wird nicht in allen Ländern gleich hochgeschätzt.

Spannend war auch, ein Konzept für die Beratungsarbeit mit Hepatitis C Erkrankten zu entwickeln und zu verschriftlichen. Das war nötig, da wir die Hepatitis-C-Behandlung bei uns neu eingeführt haben und das bei Ärzte ohne Grenzen vorhandene Protokoll nicht für unsere Zielgruppe passte.

Als mein Einsatz nach neun Monaten zu Ende war, war leider kein/e Nachfolger/-in in Sicht, sodass ich nach mehreren Wochen der Unterstützung von Deutschland aus nochmals für sechs Monate nach Bangladesch ausgereist bin. Dabei konnte ich meinen Stellvertreter, ein Bangladescher Psychologe, so ausbilden und in meine Arbeit einarbeiten, dass er die Stellenausschreibung für diese Position für sich entscheiden konnte. So ist das Projekt noch ein bisschen mehr in einheimische Hände übergegangen und ich konnte beruhigt wieder nach Hause fliegen.

Übrigens: Bei Ärzte ohne Grenzen arbeiten nicht nur Ärzte, sondern auch Mitarbeiter/-innen aus Pflege, Finanzen, Controlling, Technik etc. 🙂