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Psychiatrische Pflege im Wandel

Neue Pflegedirektion von Vitos Gießen-Marburg berichtet nach einem Jahr über erste Reformen

Im Vitos Klinikum Gießen-Marburg ist einiges im Wandel. Ende letzten Jahres hat die Pflegedirektion Reformen angestoßen. Das Ziel: die Arbeitsbedingungen der Pflegefachkräfte bei Vitos Gießen-Marburg zu verbessern und die Attraktivität des Berufsfeldes in der Psychiatrie zu steigern.

Olga Oestreich, langjährige Mitarbeiterin und seit November 2022 Pflegedirektorin, hat mit ihrem Team und dem örtlichen Betriebsrat Mitte des Jahres eine neue flexible Dienst- und strategische Personaleinsatzplanung, das pflegerische Ausfallmanagement, eingeführt. Auch die pflegerische Leitungsstruktur im Klinikum hat sie neu organisiert. Teamleitungen auf den Stationen sollen weniger administrative Aufgaben übernehmen. Ihre hohen fachlichen Kompetenzen sollen sie so nun stärker in die pflegerisch-therapeutische Arbeit einbringen können.

In diesem Interview berichten Pflegedirektorin Olga Oestreich und Emanuela Macchia, stellvertretende Standortleiterin Gießen, über ein turbulentes erstes Jahr. Von einem Paradigmenwechsel bei der Leitung von Stationen, von Herausforderungen bei der Einführung eines neuen Dienstplanmodells und von den Besonderheiten der psychiatrischen Pflege bei Vitos Gießen-Marburg.

Sie sind jetzt ein Jahr im Amt. Wie lautet ihr bisheriges Resümee?

Olga Oestreich: Es war viel los! Die Themen waren breit gefächert. Einstieg und Umsetzung sind uns gelungen. Es war turbulent und gleichzeitig spannend und lehrreich. Von allen Maßnahmen zu berichten, würde hier den Rahmen sprengen. Ein Beispiel ist, dass wir in dem einen Jahr über 40 Kooperationsverträge mit externen Trägern, wie Schulen und Pflegeeinrichtungen, geschlossen haben.  Alles zum Zweck der Nachwuchssicherung. Schließlich sind wir mehr denn je auf gut ausgebildete Pflegekräfte angewiesen.

Gibt es Themen, die Sie von ihrem Vorgänger bewusst übernommen haben?

Olga Oestreich: Ja, Fachkräftebindung und Nachwuchssicherung ist Prio Nummer eins, insbesondere angesichts des demografischen Wandels. Dieses Thema bestimmt das operative und strategische Handeln.

Gibt es Themen, die sie künftig anders angehen wollen?

Olga Oestreich: Ja, ich will sichtbarer für die Mitarbeitenden sein. Das bedeutet für mich, mehr Präsenz auf Stationen, in Tageskliniken, Ambulanzen, etc. zeigen.

Was sind Ihre Ziele und Visionen für eine moderne psychiatrische Pflege?

Olga Oestreich: Wir gestalten die moderne psychiatrische Behandlung zusammen mit anderen Berufsgruppen aktiv mit. Wir übernehmen Verantwortung und vielleicht, die für uns bisher nicht gewohnten oder bekannten Arbeitswerkzeuge, also das psychotherapeutische Arbeiten. Wir nutzen diese, um unseren Patientinnen und Patienten eine bestmögliche Behandlung zukommen zu lassen. So verändern wir die Wahrnehmung in Bezug auf unsere Rolle für uns selbst, in die eigene Organisation hinein und nach außen.

Wie ist die neue pflegerische Leitungsstruktur aufgebaut? Warum sind Sie nicht beim alten Modell geblieben?

Emanuela Macchia: In der neuen Leitungsstruktur liegt der Fokus wieder mehr auf dem Fachlichen statt dem Organisatorischen. Für jede Station gibt es eine pflegerische Teamleitung, welche eng mit dem Oberarzt/der Oberärztin und ggf. der therapeutischen Leitung der Station zusammenarbeitet. Vorher war eine Leitende Pflegekraft für mehrere Bereiche/Stationen zuständig. Die fachliche Auseinandersetzung mit den therapeutischen Konzepten einzelner Stationen und den Behandlungsplänen einzelner Patient/-innen war so kaum möglich. Einige organisatorische Arbeitspakete können nun effizient und gebündelt durch die Pflegedirektion bearbeitet werden.

Welche Stärken sehen Sie darin?

Emanuela Macchia: Die Arbeitszufriedenheit hat sich erhöht und es hat eine fachliche Weiterentwicklung stattgefunden. Das steigert die Attraktivität für Patient/-innen und Bewerber/-innen. Besonders engagierte Kolleginnen und Kollegen haben dadurch bessere Aufstiegschancen. Und nicht zuletzt sorgt es für eine effizientere Arbeitsweise.

Wie ist der Übergang gelaufen?

Emanuela Macchia: Es gab einige Unsicherheiten bezüglich hinzugekommener und wegfallender Tätigkeiten. Die konnten wir durch regelmäßige Teamleiterbesprechungen und Einzelrücksprachen aus der Welt schaffen.

Wie war die Dienstplanung vorher und warum war eine Änderung nötig? Welche Vorteile bringt das neue Modell mit sich?

Emanuela Macchia: Der größte Kritikpunkt im Pflegedienst ist das „Rufen aus dem Frei“. Also, dass Mitarbeitende, die eigentlich frei haben, kurzfristig einspringen sollen. Mit dem Ausfallmanagement versuchen wir diesen Punkt größtmöglich zu umgehen. Mit dem neuen Modell können die Mitarbeitenden sich freiwillig bereit erklären, an bestimmten Tagen Bereitschafts-Dienste zu übernehmen und erhalten dafür eine Prämie. Das sorgt für eine gewisse Planungssicherheit bei den Diensthabenden.

Wie sieht das Ausfallmanagement konkret in der Praxis aus?

Emanuela Macchia: Bis zu vier sogenannte Jokerdienste von Montag bis Freitag kompensieren Ausfälle im Tagdienst auf allen Stationen.

Mit den Stand-by Diensten können sich die Mitarbeitenden für die Wochenenden in ihren jeweiligen Schichten einplanen und erhalten für das ‚bereit halten‘ von einem Zeitfenster von anderthalb Stunden eine Prämie. Wenn also ein Mitarbeiter krank wird, haben wir die Möglichkeit, auf Mitarbeitende zurückzugreifen, die sich freiwillig gemeldet haben am Wochenende einen Dienst zu übernehmen. Wenn wir sie zum Dienst rufen, haben sie die Wahl sich diese Stunden auszahlen oder dem Arbeitszeitkonto gutschreiben zu lassen.

Mit den Prämiendiensten erklären sich die Mitarbeitenden bereit, dass sie im Frei kontaktiert werden können, um anfallende Dienste zu übernehmen. Wenn die Mitarbeitenden den Dienst übernehmen können, erhalten sie ebenfalls eine Prämie und können sich die Stunden auszahlen oder dem Stundenkonto gutschreiben lassen.

Was bedeutet in diesem Zusammenhang die Personalausstattung Psychiatrie und Psychosomatik Richtlinie (PPP-RL) für Vitos? Welche Herausforderungen ergeben sich daraus?

Olga Oestreich: Mit den neuen Modellen Ausfallmanagement, pflegerische Leitungsstruktur und zentrale Dienstplanassistenz können wir die Anforderungen nach einer PPP-RL gerechten Besetzung deutlich effektiver erfüllen. Im Prinzip laufen alle Infos rund um das Thema Besetzung jetzt automatisch in der Pflegedirektion ein und müssen nicht zeitraubend zusammengestellt werden. Diese Prozessumgestaltung ermöglicht eine schnelle Reaktion auf auftretende Herausforderungen. Auf der einen Seite stellen wir so insgesamt die Besetzung im Haus sicher. Auf der anderen Seite ermöglichen die neuen Strukturen eine Besetzung entsprechend den Anforderungen der PPP-RL, in den einzelnen Kliniken, Bereichen und Stationen.

Wie haben Sie die Mitarbeiter/-innen im Vornherein informiert?

Emanuela Macchia: Wir haben allen Mitarbeitenden Briefe nach Hause geschickt. Außerdem gab es Infoveranstaltungen, Flyer und Newsletter. Auch während der Besprechungen haben wir unsere Mitarbeitenden informiert und sie hatten die Möglichkeit, Fragen zu stellen.

Wie würden Sie das Profil der psychiatrischen Pflege beschreiben?

Emanuela Macchia: Psychiatrische Pflege bedeutet für mich den Patienten zu unterstützen und zu motivieren an seinen individuellen Zielen zu arbeiten, ähnlich wie ein Coach. Die psychiatrische Pflege ist ein wichtiger Bestandteil der Behandlung. Psychiatrisch Pflegende helfen dem Patienten dabei, „Experte“ seiner Erkrankung zu werden und möglichst wieder ohne unsere Unterstützung in seinem gewohnten Umfeld zurecht zu kommen.

Was ist das Besondere bei Vitos Gießen-Marburg?

Emanuela Macchia: Die multiprofessionelle Behandlung bei Vitos Gießen-Marburg ist sehr besonders. Konkret bedeutet das, dass die verschiedenen Berufsgruppen auf Augenhöhe zusammenarbeiten. Alle an der Behandlung beteiligten arbeiten am gemeinsamen Ziel, auch der Patient oder die Patientin.

Welchen Stellenwert hat die Pflege bei Vitos? Was ist der Unterschied zu somatischen Krankenhäusern?

Emanuela Macchia: Die Pflege ist die größte Berufsgruppe bei Vitos und sie arbeiten 24/7 am Patienten. Das heißt, die Pflegefachkräfte erleben den Patienten in viel mehr Situationen des Alltags. Bei Vitos wird das von allen Berufsgruppen erkannt und gelebt. Im Vergleich zu somatischen Krankenhäusern ist die Pflege bei Vitos viel stärker aktiv an der Behandlung beteiligt und informiert. Einzelgespräche mit Pflegekräften haben denselben Stellenwert wie zum Beispiel Einzelgespräche mit Psycholog/-innen.

Wo sehen Sie vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels und der demographischen Entwicklung die psychiatrische Pflege in fünf bis zehn Jahren?

Emanuela Macchia: Ich denke, wir müssen uns für die nächsten Jahre gut aufstellen und die pflegerischen Tätigkeiten wertschätzen und aufwerten. Es wird schwierig werden, gutes Pflegepersonal zu finden und dann auch zu binden, wenn es keine guten Konzepte auf den Stationen gibt und die Zusammenarbeit in den Teams nicht gut funktioniert. Vitos ist da bereits auf einem guten Weg. Wir stärken die Kompetenzen unserer Pflegemitarbeitenden und legen den Fokus auf die Motivation, wegen der sie diesen Beruf gewählt haben – den Menschen bei ihren individuellen Schwierigkeiten und Problem helfen und unterstützen.

Olga Oestreich: Ja, all das von Frau Macchia genannte und gleichzeitig müssen wir uns ebenfalls darauf vorbereiten, das vorhandene Personal so einzusetzen, dass sie die mitgebrachten und bei uns erworbenen Kompetenzen bestmöglich nutzen können. Wir sollten die Mitarbeitende entsprechend ihrem Können einsetzen und nicht über- oder unterfordern. Gleichzeitig müssen die Stationen sicher funktionieren. Das heißt, wir müssen Konzepte zum Einsatz von der akademisierten Pflegekraft bis hin zum Pflegehelfer entwickeln und umsetzten. Zusätzlich denke ich, dass der Fachkräftemangel sich noch verschärfen wird. Den Bedarf an Pflegekräften werden wir aus eigenen Reihen, trotz Nachwuchssuche und Bindungsmaßnahmen, nicht komplett besetzen können. Das Recruiting von Fachkräften aus dem Ausland spielt deshalb ebenfalls eine große Rolle. Auch an dieser Stelle sind wir gefragt, Konzepte zu entwickeln, Kollegen aus dem Ausland gut einzubinden und unsere Teams vorzubereiten.

Das Interview führte Harry Olschok-Hofmann