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Psychopharmaka – Fluch oder Segen?

Neues Buch soll rationalen und verantwortungsbewussten Umgang mit Psychopharmaka fördern

Psychopharmaka sind fester Bestandteil des psychiatrischen Klinikalltags. Doch sie sind auch oft Grund für Ängste und Verunsicherungen. Patienten fürchten sich vor Abhängigkeit oder Wesensveränderungen. Auch viele Behandler haben noch Unsicherheiten in Bezug auf den Einsatz, die Wirkungsweisen und die Wechselwirkungen der zahlreichen auf dem Markt verfügbaren Medikamente.

Dr. med. Harald Scherk hat gemeinsam mit Professor Asmus Finzen und Dr. med. Stefan Weinmann ein Buch mit dem Titel „Medikamentenbehandlung bei psychischen Störungen. Leitlinien für den psychiatrischen Alltag“ herausgebracht. Auf 260 Seiten werden in dieser 17. und komplett überarbeiteten Auflage alle angesprochen, die mit Psychopharmaka zu tun haben. Ärzte und Psychologen genauso, wie Patienten und deren Angehörige.

Ich habe mit dem Ärztlichen Direktor des Vitos Klinikums Riedstadt und Klinikdirektor des Vitos Philippshospitals Riedstadt über sein neues Buch und die Bedeutung von Psychopharmaka in der psychiatrischen Behandlung gesprochen.

Anna Pfläging: Eine ganz grundsätzliche Frage zu Beginn – Was genau sind Psychopharmaka eigentlich?

Dr. med. Harald Scherk: Psychopharmaka sind Substanzen, die die Steuerung von Prozessen im zentralen Nervensystem beeinflussen. In der Regel kommen Psychopharmaka bei der Behandlung von psychischen Erkrankungen zum Einsatz.

Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Medikamenten wirken Psychopharmaka nicht ursächlich, sondern symptomatisch. Um das zu verdeutlichen, nehmen wir an, jemand ist zuckerkrank. Seinem Körper fehlt also Insulin. Dieses Insulin wird ihm mittels Medikamenten verabreicht. Das Insulin wirkt also ursächlich. Die biologischen Ursachen einer psychischen Erkrankung hingegen, sind schwer bis gar nicht auszumachen, da das Zusammenspiel der Neurotransmitter im Gehirn ein sehr komplexes ist. Wir können mit Medikamenten nicht gezielt in dieses komplizierte und größtenteils noch unbekannte Ursachengefüge eingreifen. Psychopharmaka behandeln also nicht die Ursache der Erkrankung, sondern lindern vor allem ihre Symptome und helfen dem Patienten dabei, seine Selbstheilungskräfte zu aktivieren.

Anna Pfläging: Es gibt eine Vielzahl verschiedener psychischer Erkrankungen und noch mehr unterschiedliche Medikamente – Lassen sich Psychopharmaka in bestimmte Gruppen untergliedern?

Dr. med. Harald Scherk: Man kann Psychopharmaka in fünf Gruppen einteilen:

Einteilung Psychopharmaka

Anna Pfläging: Welche Bedeutung kommt der Psychopharmakotherapie in der psychiatrischen Behandlung zu?

Dr. med. Harald Scherk: Die Psychopharmakotherapie ist eine der drei Säulen der psychiatrischen Behandlung. Sie darf nicht alleine stehen und muss immer in Kombination mit psychotherapeutischen und sozialtherapeutischen Maßnahmen erfolgen. Medikamente sind nur eine von vielen Behandlungsmöglichkeiten in der Psychiatrie. Ihre Rolle im Heilungsprozess variiert, je nachdem, um welche psychische Erkrankung es sich handelt und wer erkrankt ist. Viele psychische Erkrankungen sind ohne Psychopharmaka nicht zu behandeln. Psychopharmaka, auch die modernsten, können eine psychische Erkrankung jedoch nicht heilen. Das ist wichtig zu verstehen. Psychopharmaka sind in der Lage, Symptome der psychischen Erkrankung zu unterdrücken, einen Wiederherstellungsprozess einzuleiten oder die Selbstheilungskräfte des Betroffenen zu unterstützen. Zudem können sie den Patienten schonen, etwa dann, wenn er mit starken inneren Konflikten zu kämpfen hat.

Wie gut Psychopharmaka wirken, hängt auch immer davon ab, inwieweit sich der Patient auf die Behandlung einlässt. Ist ein Patient davon überzeugt, dass das Medikament hilft, wirkt es oft besser. Unrealistische Erwartungen darf der Behandler beim Patienten dennoch nicht wecken. Er sollte dem Patienten Hoffnung machen, ihn aber auch klar über die oft begrenzte Rolle der Psychopharmaka im Behandlungsprozess aufklären. Zudem muss der Behandler immer kritisch hinterfragen, ob ein Therapieerfolg nicht auch ohne die Gabe von Psychopharmaka zu erreichen ist. Eine Risiko-Nutzen-Abwägung, welche individuell auf den jeweiligen Patienten zugeschnitten ist, ist essenziell.

Anna Pfläging: Zahlreiche Menschen fürchten sich vor den Nebenwirkungen von Psychopharmaka – sind diese Sorgen berechtigt?

Dr. med. Harald Scherk: Viele Patienten, denen Psychopharmaka verordnet werden, fürchten sich vor Persönlichkeitsveränderungen, anhaltender Sedierung oder einer entstehenden Abhängigkeit vom Medikament. Diese Sorgen sind in der Regel unberechtigt. Die meisten Psychopharmaka machen nicht abhängig. Kein Medikament verändert die Persönlichkeit. Es gibt Psychopharmaka, die schlafanstoßend wirken, also müde machen. Meist sind das aber diejenigen, die zum Beispiel bei Schlafstörungen eingesetzt werden. Die sedierende Wirkung ist hier also gewollt.

Unerwünschte Nebenwirkungen, die häufiger auftreten können, sind Übelkeit, Schwindel oder auch eine Steigerung des Appetits. Letztere begünstigt auf Dauer eine Gewichtszunahme.

Gravierende Nebenwirkungen, wie beispielsweise die Verringerung weißer Blutkörperchen, die zu einer lebensgefährlichen Schwächung des Immunsystems führen kann, sind extrem selten.

Anna Pfläging: Was macht das Buch, das Sie gemeinsam mit zwei Kollegen geschrieben haben und das es mittlerweile auf stolze 17 Auflagen gebracht hat, so einzigartig?

Dr. med. Harald Scherk: Der Erstautor Professor Asmus Finzen hat die Erstauflage des Buches 1979 herausgebracht, in einer Zeit, in der es nur wenige Werke zum Thema Pharmakotherapie gab. Schon allein deshalb hatte das Buch einen besonderen Stellenwert. Was es aber so einzigartig macht, sind die beiden Sichtweisen, die Finzen im Buch zu verbinden sucht.

In den 1970er und 80er Jahren konnte man Psychiater, vereinfacht gesagt, in zwei Kategorien einteilen, die Sozialpsychiater und die biologischen Psychiater. Die Sozialpsychiater sprachen sich gegen Medikamente aus und wollten ihre Patienten allein durch Änderung der sozialen Rahmenbedingungen und Psychotherapie heilen. Die biologischen Psychiater hingegen fokussierten sich auf die neurobiologischen Ursachen der psychischen Erkrankung und waren deshalb entsprechend experimentierfreudig mit Psychopharmaka. Professor Finzen beobachtete, dass auch die Sozialpsychiater zu Medikamenten griffen, allerdings nur dann, wenn sie mit ihrem Latein am Ende waren und die Therapie nicht half. Dann dosierten sie die Medikamente oft zu hoch, da sie keine Ahnung von der Wirkungsweise einzelner Psychopharmaka hatten. Diese zwei Extrempositionen wollte Asmus Finzen mithilfe seines Buchs zusammenbringen. Den sozialpsychiatrischen Grundgedanken hat er sich dabei erhalten. Das Buch hat zum Ziel, einen rationalen und kritischen Umgang mit Medikamenten zu fördern. Es will aufklären. Denn ein rationaler Umgang bedeutet auch, keine Psychopharmaka zu verschreiben, wenn sie nicht notwendig, überflüssig oder sogar gefährlich für den Patienten sind.

Anna Pfläging: Warum wurde die 17. Auflage des Buches nun komplett neu überarbeitet?

Dr. med. Harald Scherk: In den letzten zehn Jahren gab es wichtige Entwicklungen in der Pharmakotherapie. Es war deshalb sinnvoll, dem Standardwerk eine Verjüngungskur zu verpassen.

An den großen Medikamentengruppen hat sich in den letzten Jahrzehnten zwar nichts Grundsätzliches geändert, Fortschritte gab es dennoch. So haben heutige Psychopharmaka weniger Nebenwirkungen als diejenigen Präparate, die vor ein paar Jahrzehnten auf dem Markt waren.

Hinzukommen neuentwickelte Medikamente zum Beispiel zur Behandlung der vielfältigen Formen der Demenz oder Wirkstoffe zur Behandlung von Erkrankungen, die erst seit einigen Jahren auch im Erwachsenenalter behandelt werden, wie zum Beispiel ADHS.

Anna Pfläging: Das Buch richtet sich an alle, die in irgendeiner Weise etwas mit Psychopharmaka zu tun haben. Also an psychiatrische Berufsgruppen, wie Ärzte und Therapeuten, aber auch an Erkrankte und deren Angehörige – Haben Sie beim Schreiben versucht, das Thema aus Sicht eines Nicht-Mediziners zu beleuchten, um die Informationen allen Lesern gleichermaßen zugänglich zu machen?

Dr. med. Harald Scherk: Das habe ich tatsächlich versucht. Ich hoffe es ist mir geglückt. Vor allem in den Übersichtskapiteln war es mir wichtig, eine leicht verständliche Sprache zu wählen. Es gelingt natürlich nicht immer. An einigen Stellen muss man auch konkret den Mediziner ansprechen. Die medizinischen Berufsgruppen sind es schließlich, die diese Medikamente verordnen. Mit diesem Buch möchten wir dazu beitragen, dass Psychopharmaka richtig eingesetzt werden. Ihre Verordnung soll sich nach rationalen und kritischen Leitsätzen richten und neue wissenschaftliche Erkenntnisse und Erfahrungen müssen unbedingt einfließen. Das Buch soll aber auch die Aufklärung des Patienten fördern, damit er seinen Behandlungsprozess selbstbestimmter und aktiver mitgestalten kann. Ein fruchtbares Arbeitsbündnis zwischen Patient und Behandler ist dabei immer die Voraussetzung.