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Reizüberflutung und permanenter Leistungsdruck– Warum vielen Kindern heute die emotionale Reife fehlt

Kinder und Jugendliche sehen sich heute ganz anderen Anforderungen gegenübergestellt, als es bei ihren Eltern oder Großeltern der Fall war. Vor allem die ständige Reizüberflutung durch das Internet und andere neue Medien ist eine große Herausforderung. Gleiches gilt für den Leistungsdruck, der in der Gesellschaft vorherrscht. Entsprechend häufig treten heute Störungsbilder auf, welche früher eher selten waren.

Kinder haben heute mit anderen Problemen zu kämpfen als früher

Die Probleme der heutigen Kinder und Jugendlichen unterscheiden sich stark von denen früherer Generationen. Unsere Gesellschaft hat sich sehr verändert und die Herausforderungen sind andere, als noch vor 20, 30 oder 40 Jahren. Beispielsweise hatten Kinder früherer Generationen oft Angst vor ihren Lehrern. Wahrscheinlich, weil sie Zuhause und in der Schule eine autoritäre Erziehung erlebten. Haben Kinder heute Angst davor, in die Schule zu gehen, liegt dies meist am Mobbing durch Mitschüler. Doch das Fernbleiben der Kinder von der Schule und somit die mangelnde Bildung begünstigen wieder neue Probleme.

Kinder müssen heute andere Ansprüche erfüllen. Früher wurde beispielsweise erwartet, dass Kinder im Alltag mitarbeiten und früh in der Lage sind, diesen eigenständig zu meistern. Das ist heute oft nicht mehr so. Die psychische Anforderung ist jedoch häufig viel höher. So definieren sich einige Eltern darüber, was ihr Kind leistet. Sie drängen ihr Kind förmlich dazu, das Gymnasium zu besuchen, obwohl eine Realschule in manchen Fällen vielleicht die bessere Wahl wäre. Es gibt auch Eltern, die sagen, dass das Kind kein Abitur machen muss, dennoch aber den stillen Wunsch hegen. Auch das spüren Kinder. Viele Eltern lassen sich heute scheiden und die Kinder übernehmen in einigen Fällen emotionale Aufgaben eines fehlenden Partners. Heranwachsende sind damit überfordert. Kommen sie mit den Anforderungen, welche an sie gestellt werden, nicht zurecht, können sie Störungsbilder entwickeln.

Medikamente allein reichen nicht aus

Es gibt Störbilder, also Erkrankungen und Verhaltensweisen, welche mit Medikamenten behandelt werden müssen. Die Erkenntnis, dass ein Medikament allein nicht hilft, sondern stets in eine Therapie eingebettet sein muss, ist wohl die größte Veränderung auf dem Gebiet der Psychopharmaka. Die Eltern müssen zudem im Umgang mit ihren Kindern geschult werden. Früher fand solch ein Training nicht statt. Einige Störungsbilder haben stark zugenommen. Als Beispiel ist die Selbstverletzung bei Jugendlichen zu nennen. Entsprechend müssen neue Therapie- und Behandlungsformen entwickelt werden. Glücklicherweise haben wir heute ein umfangreiches Wissen über die Funktionsweise des menschlichen Gehirns. Gleiches gilt für die Botenstoffe, welche es steuern.

Der Einfluss der neuen Medien

Natürlich wirken sich auch die neuen Medien auf die Psyche aus. Das Internet, das Fernsehen und die ständige Verfügbarkeit von sozialen Netzwerken über das Smartphone stellen eine permanente Reizüberflutung da. Diese kann emotional überfordern. Es ist kein Zufall, dass die Zahl der Autismusdiagnosen in den vergangenen fünf Jahren zehnmal höher war, als zuvor. Bei manchen Fällen mag die Diagnose besser geworden sein. Die Anzahl der genetischen Disposition, also der Veranlagung, ist meines Erachtens nach jedoch nicht gestiegen. Autistischen Kindern fehlt die Fähigkeit, sich in andere einzufühlen. Hier spielt die Überflutung durch neue Medien eine zentrale Rolle.

Kinder und Jugendliche häufen durch das Internet und das Fernsehen heute sehr viel mehr Wissen an. Da dieses Wissen jedoch nicht wirklich Bestandteil ihres Umfeldes und ihres Alltags ist, können sie es nicht emotional abgleichen. Lernen findet heute viel flüchtiger statt. Wir werden schneller ungeduldig und sind unfähig zu warten. Langeweile kennen wir nicht, schließlich gibt es immer und fast überall etwas zu konsumieren. Gefühle können und sollen überall mit anderen geteilt werden. Ein klassisches Buch zu lesen oder ein Tagebuch zu schreiben, gehört für viele Kinder und Jugendlichen hingegen nicht zu den bevorzugten Freizeitbeschäftigungen. Doch genau diese Dinge unterstützen das Gehirn in seiner Entwicklung. Das Gehirn braucht Wiederholungen, damit es Verhaltensweisen einüben und abspeichern kann. Genauso wichtig ist die regelmäßige Erholung.

Vielen Kindern fehlt heute die emotionale Reife. Damit gemeint, ist zum Beispiel die Fähigkeit mit anderen mitzufühlen oder auch Schwächere zu beschützen. Gestiegen ist hingegen die soziale Intelligenz. Kindern wissen heute viel früher, was sie wollen und wie sie es bekommen. Damit Kinder psychisch stabil bleiben, müssen ihnen vor allem Werte wie Zeit, Geduld und liebevolle Zuwendung vermittelt werden.

Das Interview, auf welches sich dieser Beitrag bezieht, finden Sie auf der Seite von mittelhessen.de [1].

Autor Prof. Dr. med. Matthias Wildermuth ist Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie sowie für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Er ist Klinikdirektor der Vitos Klinik Rehberg und Ärztlicher Direktor des Vitos Klinikums Herborn.

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