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Resilienz: Stark durch die Krise

Dr. Matthias Bender erläutert im Interview, was psychische Widerstandskraft ausmacht

Resilienz, das ist die Widerstandskraft der Psyche. Menschen mit hoher Resilienz können Krisen besonders gut meistern. Wie entsteht diese Widerstandskraft? Und können wir unsere Resilienz stärken, um mit Krisen wie der Corona-Pandemie besser umgehen zu können? – Dr. Matthias Bender, Ärztlicher Direktor des Vitos Klinikums Kurhessen, erläutert im Interview, was es mit der Resilienz auf sich hat.

Was bedeutet Resilienz?

Dr. Matthias Bender: Der Begriff Resilienz kommt ursprünglich gar nicht aus der Medizin, sondern aus der Materialforschung. Denken Sie an Bahnschienen, über die ein schwerer Güterzug rollt. Die Schienen werden durch das Gewicht zwar stark belastet, behalten aber grundsätzlich ihre Form bei. Genau diese Eigenschaft von Material, einer heftigen Beanspruchung standzuhalten oder nach einer kurzzeitigen Verformung schnell wieder in den Ausgangszustand zurückzukehren, bezeichnet man als Resilienz.

Und übertragen auf die Medizin bedeutet das?

Bender: Es bedeutet, dass Menschen trotz einer deutlichen psychischen oder auch physischen Belastung nicht oder nur vorübergehend mental erkranken. Und die Resilienzforschung beschäftigt sich mit der Frage, wie Menschen mit einer entsprechenden Belastung umgehen können, ohne dadurch krank zu werden. Das ist ganz wichtig, wenn wir von Resilienz sprechen: Wir nehmen nicht die Krankheit in den Blick, sondern fokussieren auf das, was Menschen bei ähnlicher Belastung gesund bleiben lässt. Und zwar tun wir das im salutogenetischen Sinne. Das bedeutet, wir verstehen Gesundheit nicht als Zustand, sondern als Prozess, bei dem sich Risiko- und Schutzfaktoren beeinflussen.

Ist diese psychische Widerstandskraft eine persönliche Eigenschaft, die ein Mensch besitzt oder die er eben nicht besitzt?

Bender: Anfänglich ist die Forschung davon ausgegangen, dass Resilienz ein Wesenszug ist, eine statische Persönlichkeitseigenschaft. Doch es ist viel komplexer. Man muss sich Resilienz eher als einen dynamischen Prozess vorstellen. Er findet statt, wenn Menschen über längere Zeit hohem Stress ausgesetzt sind oder wenn sie eine potenziell traumatisierende Erfahrung machen. Wenn Menschen in dieser Phase stabil bleiben oder nur vorübergehend beeinträchtigt sind und sich dann schnell wieder erholen, spricht man von Resilienz.

Was zeichnet Menschen aus, die eine hohe Resilienz haben?

Bender: Diese Menschen verdrängen belastende Situationen nicht, sondern akzeptieren sie. Sie können Widersprüche und auch Ungewissheiten gut ertragen. Sie haben Orientierungslinien, an denen sie ihr Leben ausrichten. Orientierung kann die Familie bieten, aber auch Spiritualität, der Beruf, das soziale Umfeld oder die Gesellschaft. Auch das eigene Körperbild spielt eine große Rolle, denn zwischen Körper und Psyche bestehen Wechselwirkungen. Der Zustand des Körpers beeinflusst die Psyche und umgekehrt. Resilienz ist keine rein mental-geistige Aktivität, sondern sie umfasst den ganzen Menschen – so wie er ist und mit allem, was ihn dazu macht.

Wie entsteht Resilienz?

Bender: Es gibt Studien, die untersucht haben, warum manche Menschen unter einer Belastung psychisch erkranken und andere nicht. Es gibt beispielsweise eine berühmte Langzeitstudie der US-Entwicklungspsychologin Emmy Werner. Sie hat über drei Jahrzehnte hinweg die Entwicklung von fast 700 Kindern auf der hawaiianischen Insel Kauai untersucht. Diese Kinder wuchsen in desolaten familiären Verhältnissen auf, wurden teilweise vernachlässigt oder misshandelt. Die Studie zeigt, was Menschen vor einem Trauma schützen kann.

Was war das Ergebnis der Studie?

Bender: Etwa zwei Drittel der Kinder waren ein Leben lang geprägt von den Verhältnissen, in denen sie aufwuchsen. Als Erwachsene waren diese Studienteilnehmer kriminell, gewalttätig, alkohol- oder drogenabhängig. Ein Drittel der Kinder wiederum schaffte es trotz allem, psychisch gesund zu bleiben und das Leben erfolgreich zu meistern. Diese Kinder waren intelligenter und sozial kompetenter. Außerdem besaßen sie ein erfüllendes Betätigungsfeld. Und die Basis dafür war die Qualität einer frühen Bindung: All diese Kinder hatten mindestens einen Menschen, der verlässlich für sie da war. Dieser Umstand ist gut untersucht worden: Je stabiler die frühe Bindung in der Kindheit ist, desto größer die Resilienz im späteren Leben.

Gibt es weitere Faktoren, die für die Entstehung von Resilienz wichtig sind?

Bender: Die Entstehung von Resilienz ist von mehreren, sehr unterschiedlichen Faktoren abhängig. Zum einen gibt es intrapersonale Schutzfaktoren. Dazu gehören angeborene Eigenschaften wie beispielsweise Intelligenz, die sich positiv auf die Widerstandskraft der Psyche auswirken können. Die körperliche Gesundheit spielt hier ebenfalls eine Rolle, auch sie ist ein wichtiger Schutzfaktor. Dann gibt es interpersonelle Ressourcen. Das sind zum Beispiel zwischenmenschliche Beziehungen, die eine Kraftquelle sein können. Und dann gibt es externe Ressourcen: Ein angemessener Wohnraum, angemessene Arbeit können schützende Faktoren sein. Auch das individuelle Bewältigungsverhalten spielt eine Rolle, also die Art und Weise, wie ein Mensch Herausforderungen betrachtet und damit umgeht, beispielsweise mit Humor. Das alles zusammen bildet die individuelle Resilienzstrategie.

Können wir unsere Resilienz trainieren?

Bender: Ja, das geht. Wie schon erwähnt, geht die Forschung nicht mehr davon aus, dass Resilienz ein Wesensmerkmal ist. Resilienz ist also keine Frage der persönlichen Eigenschaft oder der genetischen Prägung. Sondern ein dynamischer Prozess. Und auf diesen Prozess kann man einwirken.

Wie geht das?

Bender: Das ist individuell sehr unterschiedlich. Wie eben erwähnt, gibt es externe Ressourcen, interpersonelle und intrapersonelle Kraftquellen und eben das Bewältigungsverhalten. Und die Resilienzförderung oder auch das Resilienztraining fängt da an, wo bei einem Menschen bestimmte Defizite liegen. Resilienzförderung ist möglich durch Psychotherapie, durch Bildung, durch Prävention und durch Rehabilitation.

Können Sie das genauer ausführen?

Bender: Die Frage ist: Welche Ressourcen hat ein Mensch, die ihm helfen können, eine Situation gut zu überstehen? Das können zum Beispiel interpersonelle Ressourcen sein: Wenn sich ein Mensch in seinem Umfeld, seiner Familie, in der Partnerschaft oder in freundschaftlichen Beziehungen sicher und geschützt fühlt, ist das eine Ressource, aus der er Kraft schöpfen kann. Ein weiterer, wichtiger Punkt ist der achtsame Umgang mit dem Körper – der eigene Leib muss gepflegt und trainiert werden, um ihn als Kraftquelle und als Kraftressource erlebbar zu machen. Auch das soziale Umfeld – die Zugehörigkeit zu einer Berufsgruppe, zu einem Verein oder einer Kirchengemeinde – kann eine Kraftquelle sein. Gemeinschaften, zu denen Menschen sich zugehörig fühlen, haben eine ganz wichtige Funktion. Hier erleben Menschen ein Gefühl von Fürsorge für sich und andere. Denken sie an die wichtige Familien- und Nachbarschaftshilfe, die wir im Lockdown gesehen haben. Das war aktives Resilienztraining – nicht nur für diejenigen, die Hilfe erhalten haben, sondern auch für diejenigen, die geholfen haben.

Wie wichtig ist das Gefühl von Selbstwirksamkeit, um Krisen gut zu überstehen?

Bender: Das Gefühl, etwas bewirken zu können – und sei es nur in Teilbereichen – hilft Menschen ganz unbedingt dabei, Krisen gut zu überstehen. Traumatische oder auch potenziell traumatische Ereignisse gehen ja oft mit einem Ohnmachtsgefühl einher: Man fühlt sich ausgeliefert.

Was geschieht, wenn ich keinen Einfluss auf meine Umwelt ausüben kann?

Bender: Das ist eine Erfahrung, die Menschen im Laufe ihres Lebens natürlich immer wieder machen. Menschen möchten ihr Leben wirksam beeinflussen können. Um das zu erreichen, entwickeln sie verschiedene Kontrollstrategien. Bei der primären Kontrolle möchte das Individuum seine Umwelt verändern und an seine Bedürfnisse anpassen. Die sekundäre Kontrolle bezeichnet demgegenüber Strategien, die dem Individuum eine Anpassung an seine Umwelt ermöglichen. Nach dem Motto: Wenn ich an den Umständen nichts ändern kann, muss ich mich eben anpassen. Hier sind wir nun wieder bei den Bewältigungsstrategien angelangt: Probleme, auch Fehler, können resiliente Menschen akzeptieren. Sie nehmen sie an und adaptieren sie.

Können Sie das erläutern?

Kintsugi lehrt, die Schönheit in Fehlern zu entdecken

Bender: Ich verwende hier mal ein Bild aus einem ganz anderen Bereich. In Japan gibt es eine traditionelle japanische Reparaturmethode für Keramik, Kintsugi. Dabei werden Bruchstücke eines Keramikgefäßes mit einem bestimmten Lack wieder zusammengeklebt. Außerdem wird ein Kitt verwendet, in den man das Pulver von Edelmetallen einstreut. Beim Zusammensetzen von dem, was einmal zerbrochen war, entsteht etwas Neues. Kintsugi lehrt, die Schönheit in Fehlern zu entdecken. Im Grunde ist es das, was resiliente Menschen tun: Sie gelangen zu einer Akzeptanz dessen, was an Belastungen da war, integrieren sie und überführen sie in eine andere, womöglich bessere Form.