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Schlafentzug und Glücksgefühl

Wachtherapie zur Behandlung von Depressionen im Vitos Klinikum Gießen-Marburg

Die Wachtherapie ist erwiesenermaßen eine wirksame Behandlungsmethode bei Depressionen, die selten angewendet wird. An der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Gießen wird sie auf eine besondere Art und Weise umgesetzt.

Wenn der Frühdienst freitagsmorgens um sechs Uhr seine Schicht beginnt, herrscht auf Station 9 eine besondere Stimmung – irgendwie gelöst. Außerdem wird viel gequasselt. Der Grund: Eine kleine Gruppe von Patientinnen und Patienten hat die Nacht durchgemacht. Nicht mit einer wilden Party, sondern geplant und zu therapeutischen Zwecken.

Die Wachtherapie ist seit den 1970er Jahren eine anerkannte Methode, die bei 60 bis 80 Prozent der Menschen mit einer schweren Depression stimmungsaufhellend wirkt. Außerdem kann sie helfen, den Schlafrhythmus wieder ins Lot zu bringen – und Schlafstörungen sind bei Depressionen ein häufiger Begleiter.

Anspruchsvoll, aber wirksam

Warum der Schlafentzug die Stimmung hebt, ist wissenschaftlich bislang nicht gänzlich geklärt. Aber er wirkt. „Der Effekt ist kurzfristig, er hält etwa zwei Tage an“, weiß Markus Kraft-Balkau. Er ist Pflegekraft auf Station 9 und hat zusammen mit seinen Kolleginnen Birgit Drewenka (Pflegekraft) und Jasmin Hoffman (Ergotherapeutin) das Konzept für die Wachtherapie an der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Gießen entworfen. Das Therapieangebot für schwer depressive Patienten ist nur ein kleiner Teil des umfangreichen Behandlungsprogramms. „In der Vergangenheit war es schwer, Patienten für diese wirksame aber anspruchsvolle Therapie zu motivieren. Daher haben wir die Wachtherapie bei uns konzeptuell ausgearbeitet“, sagt Oberarzt Dr. Johannes Krautheim.

„Wir entwickeln unser gesamtes Therapieprogramm stetig weiter und holen dazu das ganze Stationsteam mit ins Boot. Konzeptideen für einzelne Bausteine entstehen sehr oft und mit viel Motivation direkt in den Mitarbeiterteams. Das finde ich großartig und es ist das, was die Mitarbeit bei uns ausmacht“, fügt Prof. Dr. Michael Franz, Ärztlicher Direktor des Vitos Klinikums Gießen-Marburg, hinzu.

Die „Wächter der Nacht“ sind kreativ

Die ganze Nacht und auch am Folgetag bis 22 Uhr wachzubleiben, ist schwer. Es braucht Struktur, Unterstützung und Beschäftigungsmöglichkeiten, damit sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht irgendwann doch todmüde ins Bett legen. Dann wäre der erhoffte Effekt sofort verpufft.

Der Ablaufplan

Schon nachmittags startet die Vorbereitung. Dann trifft sich die Ergotherapiegruppe „Wächter der Nacht“ und bespricht mit Jasmin Hoffmann die Aufgaben für die Nacht. Das kann zum Beispiel das Gestalten von Geisterfiguren oder Windspielen aus Ästen, Blättern und Steinen sein. Oder der Entwurf eines „Lebensbaums“, der an seinen Wurzeln Schilder mit den Fähigkeiten trägt, die jeder mitbringt und die ihm/ihr in Krisen guttun. An seinen Ästen trägt er Wünsche für die Zukunft und hilfreiche Anregungen, die sich die Patientinnen und Patienten aus dem Klinikalltag mitnehmen. Das Material dafür sammelt die Wachtherapiegruppe manchmal im Park der Vitos Klinik. Die kreative Gestaltung erfolgt eigenständig mitten in der Nacht. „Ich bin richtig stolz auf die Gruppe, wie toll sie die Ideen immer wieder umsetzt“, sagt Jasmin Hoffmann.

Kreative Bastelarbeiten – Lebensbaum

Federball im Stationsflur

Der Abend beginnt dann mit der Gruppe „Ich bleibe wach“, geleitet von Birgit Drewenka. „Hier erkläre ich den Ablauf der Nacht und gebe Tipps, was getan werden kann, um wach zu bleiben.“ Beschäftigungsangebote gibt es viele: Ergometertraining, Tischtennis, Federball im weitläufigen Stationsflur, aktive Videospiele und auch hilfreiche Dinge wie eine anregende Aromatherapie, Lichttherapie und Akkupunktur. Zwischen zwei und drei Uhr morgens gibt es einen leichten Snack mit Obst, Joghurt und Salat. Erlaubt ist alles, was Energie bringt – nur keine Entspannungsübungen.

„Der Nachtdienst in der Pflege begleitet die Patienten“, sagt Markus Kraft-Balkau. „Irgendwann gibt es meistens einen toten Punkt, an dem die Müdigkeit sehr groß wird, oft zwischen zwei und vier Uhr. Aber die Patienten motivieren sich und sagen sich gegenseitig: Komm, das schaffst du!“

„Manche waren danach ganz andere Menschen“

Die Nacht endet mit einem Morgenspaziergang gegen sechs Uhr. Auch über den Folgetag werden die Teilnehmer beim Wachbleiben unterstützt. Die Musiktherapie bietet zum Beispiel aktivierende Elemente wie Trommeln. Wenn es sich anbietet, wird der Vitos Park rund um das Klinikgebäude mit den Werkstücken der Ergotherapiegruppe dekoriert.

Doch was bringt die Mühe eigentlich, wenn die Stimmungsaufhellung nicht nachhaltig ist? „Viele depressive Patienten denken: ‚Ich kann nie wieder glücklich sein.‘“, sagt Markus Kraft-Balkau. „Durch den Schlafentzug bekommen sie den Eindruck, dass das doch geht. Das ist sehr hoffnungsstiftend. Manche unserer Patienten waren danach ganz andere Menschen.“

Hinzu kommt der Push für das Selbstwertgefühl. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind stolz, es geschafft zu haben. Und sie merken: „Ich kann mit einfachen Mitteln selbst etwas dafür tun, dass die Krankheit mich nicht vollständig im Griff hat, sondern ich sie.“

www.vitos.de/kpp-giessen [1]